Mehr als 100 Jahre sind vergangen, dass Österreich in der heute gültigen Form existiert: als parlamentarische Demokratie und europäischer Kleinstaat. Am 12. November 1918 wurde die Republik Deutsch -Österreich ausgerufen. Damit endete die jahrhundertealte Herrschaft der Habsburger Dynastie. Erstmals ging die “Macht vom Volk” aus. Für die Sozialdemokratie war dies der ersehnte Neubeginn, für manche freilich nur ein unabdingbarer Zwischenschritt zu einer besseren und gerechteren Zukunft.
Für den Großteil des bürgerlichen Lagers, wie es sich seit diesem Zeitpunkt zu nennen pflegt, jedoch nur das kleinere Übel angesichts einer drohenden, von Russland ausgehenden Weltrevolution. Der jungen Republik haftete in diesen Kreisen der Geschmack des Ungewollten, des Zufälligen an. Vor allem kränkte es das angeschlagene Selbstbewusstsein, ein bloßes Überbleibsel zu sein, etwas was Clemenceau zynisch auf den Punkt gebracht hatte: Autriche, c´est ce qui reste.
Statt sich in der Realität einzurichten, gefiel man sich darin, von einer Wiederkehr der Bedeutung des Habsburgerreiches in Gestalt einer Donauföderation der Nachfolgestaaten zu träumen, in der ein katholisches Österreich die führende Rolle spielen sollte. Die großdeutsche Option verfolgte man auf christlicher Seite eher halbherzig, weil auch das Deutsche Reich den Makel aufwies, eine demokratische Republik zu sein.
Der Realität einer parlamentarischen Demokratie war aber vorerst nicht zu entkommen, ja man musste mit ihr auskommen. Sicherte sie doch Machterhalt und Zugang zu Ressourcen. Sich damit mit ihr zu arrangieren bedeutete jedoch nicht, sie auch wertzuschätzen. Dies erklärt auch, warum der 12.November, der seit 1919 ebenso wie der 1.Mai als „allgemeiner Ruhe–und Festtag“ begangen wurde, bei den Christlichsozialen nie sonderliche Popularität erlangen konnte. Man zog es vor, den in zeitlichem Zusammenhang stehenden Leopolditag (15.November) für eine Männerwahlfahrt nach Mariazell zu nutzen. Der 12.November war ein wichtiger Tag für die österreichische Sozialdemokratie ähnlich dem 1.Mai.
Das Republikdenkmal neben dem Parlament – zehn Jahre nach Ausrufung der parlamentarischen Demokratie eingeweiht- sollte diese Verbundenheit zum Ausdruck bringen. Es wurde zum Symbol der Auseinandersetzungen der Ersten Republik, am 12.November 1932 zunächst Schauplatz gewalttätiger Konflikte, dann 1933 zugehängt und somit dem Publikum entzogen, 1934 schließlich abgetragen. Als die Demokratie, bzw. das, was nach der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 von ihr übriggeblieben war, schließlich im Februar 1934 unterging da waren die Fronten klar: Auf der einen Seite die sozialdemokratische Linke, die bereit war, die Verfassung auch mit dem äußersten Mittel des bewaffneten Kampfes zu verteidigen, auf der anderen Seite das zersplitterte konservative Lager, das die demokratische Verfassung opferte, um den aufstrebenden Nazis das Ruder aus der Hand zu reißen. Der 12.November würde sich dazu eignen, diese Fragen zu thematisieren: Was unsere Verfassung ausmacht, warum sie im entscheidenden Augenblick nicht funktioniert hat und welche Reformperspektiven es gibt. Die Erste Republik war als parlamentarische Demokratie konzipiert; ihr Machtzentrum war das Parlament, der Nationalrat, der die Regierung wählte. Als „Hüter der Verfassung“ fungierte der Verfassungsgerichtshof, dessen Mitglieder ebenfalls vom Nationalrat, und zwar auf Lebenszeit, gewählt wurden. Die Einführung dieser Institution geht auf Hans Kelsen zurück, der auch wesentlich an der Ausarbeitung des BVG von 1920 beteiligt war.
Der Nationalrat war also die einzige Staatsgewalt, die durch direkte Volkswahl legitimiert war. Die zweite Kammer des Parlaments, der Bundesrat, wurde auf Drängen der Bürgerlichen installiert – vor allem die Christlichsozialen definierten sich über die Selbstständigkeit bzw. Autonomie der historischen österreichischen Länder und forderten massiv eine zweite parlamentarische Kammer. Obwohl die Kleinheit des neuen Staates eine Zentralisierung der politischen Macht vernünftig erscheinen ließ, wurde diese von den Christlichsozialen massiv abgelehnt und die speziellen Interessen der Länder dem „Wiener Zentralismus“ gegenüber gestellt. So gewannen die oberösterreichischen Christlichsozialen die ersten Landtagswahlen 1919 mit dem Slogan „Oberösterreich den Oberösterreichern !“ Grundsätzlich kommt das Konzept des Parlamentarismus ohne ein Staatsoberhaupt aus. Ursprünglich war diese Funktion auch nicht vorgesehen.
Auf Druck des bürgerlichen Lagers wurde die Position des Bundespräsidenten geschaffen, der allerdings von der Bundesversammlung gewählt wurde und rein repräsentative Aufgaben hatte. In einer anderen Frage hatten sich die Sozialdemokraten durchgesetzt: im B.-VG von 1920 sind direktdemokratische Instrumente nur sehr schwach vertreten. Eine Volksabstimmung ist nur in jenen (Einzel)Fällen vorgesehen, in denen der Nationalrat durch Beschluss die Gesetzgebungskompetenz an das Volk überträgt, sowie bei einer Gesamtänderung der Verfassung. Diese Zurückhaltung war durch die historische Erfahrung des Bonapartismus begründet: Napoleon I. wie auch Napoeon III. hatten das Referendum dazu benutzt, um ihre eigene Machtergreifung durch das Volk absegnen zu lassen. Allerdings begann das bürgerliche Lager schon früh das politische System der Republik in Richtung eines Präsidialsystems zu verändern. Vorbild war die Weimarer Reichsverfassung mit ihrer starken Stellung des Reichspräsidenten. 1928 begannen in Österreich die Verhandlungen um eine Verfassungsreform, die mit der B.-VG – Novelle von 1929 abgeschlossen wurden. Nun gab es auch in Österreich einen „starken“ Bundespräsidenten; durch direkte Volkswahl bestimmt, besitzt er die gleiche Legitimation wie das Parlament.
Er ernennt und entlässt die Regierung, kann den Nationalrat auflösen, besitzt ein Notverordnungsrecht und ist Oberbefehlshaber des Bundesheeres. Die Sozialdemokratie leistete hinhaltenden Widerstand und erreichte einige kleinere Abschwächungen der Novelle, im Kern hatte sich jedoch das konservative Lager durchgesetzt. Den wenigsten ist heute bewusst, dass unsere heutige Verfassung in eben dieser Fassung von 1929 existiert. Dies war bei der Wiederbegründung der Republik 1945 keineswegs die selbstverständlichste Option. Die beiden die Regierungsverantwortung tragenden Parteien wollten die Auseinandersetzungen der Ersten Republik nicht fortsetzen und einigten sich darauf, die Gräben nicht mehr aufzureißen. Harmonie anstatt Auseinandersetzung, das war vielleicht eine erfolgreiche Überlebensstrategie angesichts einer bedrohenden Präsenz der Besatzungsmächte, sie bedeutete langfristig allerdings auch eine Lähmung der politischen Diskussionskultur. Der 12. November, als Staatsfeiertag hatte unter diesen Umständen auch keine Notwendigkeit mehr. Die Begründung dafür, warum man ihn nicht mehr wiederaufleben ließ war typisch österreichisch, typisch für die Oberflächlichkeit mit der fortan demokratiepolitischen Fragen auswich.
Karl Renner erklärte lapidar, dass das kalte Wetter rund um diesen Tag dies nicht als ratsam erscheinen ließe. Dies hinderte Österreich allerdings nicht daran, nach dem Ende der Besatzung 1955, den jahreszeitlich nicht fernen 26.Oktober zum Nationalfeiertag zu erklären. Mehr als sechzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, zu einem Zeitpunkt, wo sich große und epochale Umwälzungen ankündigen und die 1930-er Jahre mit ihren Fragestellungen näher zu sein scheinen als die 1970-er Jahre, ist der Staatsfeiertag der Ersten Republik uns näher, als der inhaltsleere Nationalfeiertag der Zweiten Republik. Alle wichtigen Fragen wurden schon einmal gestellt und falsch beantwortet. Die Geschichte lehrt uns, dass uns weder Plebiszite (Volksabstimmungen und Volksbegehren), noch starke Männer weiterbringen. Es geht um die Rehabilitierung der Politik, als eines Prozesses des Abwägens unterschiedlicher Positionen und der darauf aufbauenden Einigung auf Handlungsoptionen. Das Wesen der Demokratie besteht darin, dass jede und jeder von uns dabei gleich wichtig sind. Das haben schon die Totengräber der Ersten Republik nicht begriffen und so geschieht das auch heute.

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