Die Ereignisse in Griechenland lassen die wenigsten kalt. Schon seit Jahren nicht.
Und erst recht nicht nach den letzten Parlamentswahlen, wo die noch vor ein paar Jahren, nur wenigen bekannte Syriza Partei einen fulminanten Wahlsieg erringen konnte. Manche meiner Freundinnen und Freunde sind geradezu euphorisiert von der Vorstellung, jetzt könne man den Kurs Europas fundamental ändern. Andere wiederum sehen den Wohlstand, den die angeblich so tüchtigen Menschen im Norden Europas aufgebaut haben essentiell bedroht. Die Nerven liegen blank. Kaum ist die Regierung Tsipras eine Woche im Amt, rufen maßgebliche Persönlichkeiten der Europäischen Volkspartei nach Sanktionen. Wollen eine Art „cordon sanitaire“  um das selbsterwachte Griechenland legen.
Europas Rechte wiederum feiert den Sieg der in der Terminologie der EVP linksradikalen Syriza und sieht schon das Licht am Ende des Tunnels, also den erhofften Anfang vom Ende der EU.
Nur die Sozialdemokratie weiß nicht recht, was sie davon halten soll. Klammheimliche Freude an der Basis, Schadenfreude da und dort, kaum irgendwo Bedauern über die Niederlage der Schwesterpartei Pasok. Wie in der Sozialdemokratie üblich viel Selbstmitleid und auch erste Ansätze von Selbsterkenntnis. Wären die Wahlsieger doch so etwas wie verkappte Sozialdemokraten und Tsipras eine Neuauflage von Bruno Kreisky usw.
Vieles an Syriza ist sicher nicht sozialdemokratisch, vieles ist gewöhnungsbedürftig, wie die Wahl des Koalitionspartners und manches unakzeptabel, wie das vollständige Fehlen von weiblichen Ministern. Aber das sollte die Sozialdemokratie nicht daran hindern, sich offensiv mit dem Phänomen Syriza (und Podemos übrigens auch) auseinanderzusetzen. Aufeinander Zugehen und nicht sich voneinander Abgrenzen. Darum geht es. Noch geht es.
Dieser Prozess braucht den Mut zur Selbstkritik – auf allen Seiten klarerweise. Die Fähigkeit zur Selbstkritik verdanken  wir Europäer übrigens den alten Griechen. Ebenso die Bereitschaft, nicht nur eine Seite zu hören. Es ist nur logisch, dass unterschiedliche Parteien ein und dieselbe Sache  unterschiedlich beurteilen. Das hängt von den jeweiligen Machtkonstellationen, von politischen Interessen und von kulturellen Unterschieden ab. Das Narrativ vom pflichtbewussten Deutschen und vom sorglosen Griechen existiert schon seit langem. Erst auf dem Hintergrund der Finanzmarktkrise erhielt es jene besondere Sprengkraft, die die europäischen Institutionen erschaudern lässt.
Der Blick um ein Jahrzehnt zurück lohnt sich. Damals war der  gemeinsame Währungsraum im Entstehen, parallel dazu gab es einen noch nie dagewesenen Deregulierungsprozess der Finanzmärkte. Viele deutsche und französische Anleger investierten massiv in Griechenland.
Angelockt wurden sie von Fondmanagern und deren Experten, die bekanntlich immer nur das Beste für ihre Kunden wollen. Im populären Finanzportal des Springer Verlages finanzen.net konnte man damals folgendes lesen:
„In Deutschland kommt die Wirtschaft nicht vom Fleck. Andere Länder in der EU starten dagegen durch. Vor allem in Spanien, Griechenland und Österreich läuft es gut…   
Reformen … So wie in Griechenland. Die Regierung reformiert die Sozialversicherungssysteme, beschleunigt Privatisierungen und schafft mit niedrigen Steuersätzen Investitionsanreize“, sagt Ralph Luther, Berater des Hellas-Olympia-Fonds der Berenberg Bank.  Was Deutschland und Frankreich nicht schaffen, ist für Griechenland offenbar kein Problem. Das Land erfüllt klar die Defizitkriterien des Stabilitätspakts.“
Das waren die Erwartungshaltungen damals. Viele glaubten diesen Versprechungen. Warum sollten sie das nicht. Waren es doch nicht nur die Griechen, die solche Informationen verbreiteten. 
Zweierlei ist an dieser historischen Einschätzung aus 2003 interessant. In der Anfangsphase der Gemeinschaftswährung sind offensichtlich Milliarden in den Süden geströmt. Auf der Basis einer ganz und gar freiwilligen Entscheidung, in der Erwartungshaltung einen guten Schnitt zu machen. Als es 2010 zur großen Finanzkrise in Griechenland kam, mussten diese Investitionen logischerweise  gerettet werden. Der Rettungsschirm, der 2011/2012 von den reichen Vettern im Norden mit viel Larmoyanz aufgespannt wurde, war vor allem im eigenen Interesse.  Der vielzitierte deutsche Steuerzahler „rettete“ also seine eigenen deutschen Banken.
Gelder, die man im Übrigen damals der „eigenen“ Volkswirtschaft entzogen hatte. Weil man nicht an die Zukunft der deutschen Wirtschaft glaubte. Vom kranken Mann Europas, von der deutschen Reformunfähigkeit war damals die Rede. Ganz vorne dabei so bekannte Irrlichter der deutschen Nationalökonomie wie der auch gegenwärtig omnipräsente Hans- Werner Sinn.
Das ist der zweite Aspekt der grandiosen Fehleinschätzung damals. Alles geschuldet einer ideologischen Verblendung, die man auch als Neoliberalismus bezeichnen kann und die sich damals wie ein Schatten über den durch die Gemeinschaftswährung beflügelten Binnenmarkt zu legen begann.  Ungezügelter Wettbewerb als Wunderwaffe.  Nicht nur zwischen den Individuen, sondern auch zwischen den Wirtschaftssektoren (Dienstleistung vs. Produktion) und zwischen den Standorten. Die einen suchten ihren Vorteil in unsolidarischer Steuerpolitik (Flattax, kreative Steuerschonungsstrategien bis hin zu augenzwinkernder Akzeptanz von Geldwäsche). Die anderen, allen voran Deutschland probierten es mit Lohnzurückhaltung.
Mit allen bekannten sozialpsychologischen Folgen. Denn wer Entbehrungen auf sich nehmen muss, der braucht Erklärungen. Vor allem, wenn man subjektiv den Eindruck hat, dass anderen keine Entbehrungen auferlegt werden. Eine solche Situation ist der Nährboden für nationalistische Zuspitzungen. So geschehen in den Krisenjahren 2010 bis 2012.  Die in NRW wahlkämpfende Angela Merkel, die übrigens wochenlang aus taktischen Erwägungen die Entscheidung über ein Hilfspaket für Griechenland bis zum Wahltag hinausgezögert hatte, setzte den Ton: „Es geht auch darum, dass man …. nicht früher in Rente gehen kann als in Deutschland, sondern dass alle sich auch ein wenig gleich anstrengen….Wir können nicht eine Währung haben und der eine kriegt ganz viel Urlaub und der andere ganz wenig. Das geht auf Dauer auch nicht zusammen.“
So und noch viel heftiger ging es monatelang dahin, auf Parteitagsreden, in der Boulevardpresse aber auch in der deutschen Qualitätspresse. Obwohl solche Aussagen in der Substanz unrichtig waren, verfingen sie sowohl in Griechenland als auch in Deutschland. Die Griechen fühlten sich unverstanden, beleidigt und in ihrem Nationalstolz  verletzt. Ganz anders die Deutschen. Ihr Nationalstolz schwoll wie dem Hahn der Kamm und ließ ein lange unterdrücktes Gefühl der Übermacht aufkommen. Mit dabei genau jene, die vor der Krise Deutschland jegliche Zukunftsfähigkeit abgesprochen hatten, also auch die irrlichternde Ökonomenzunft. Eine solche Stimmungslage machte vergessen, dass es bei der „Griechenlandrettung“ auch darum ging, die Folgen einer falschen Finanzpolitik zu kaschieren. Sie exkulpierte die eigentlichen Akteure, die Manager und Anteilseigner der multinationalen Fonds und machte aus einer postnationalen Angelegenheit eine nationalstaatliche Aufgabe. Diese Stimmungslage zerstörte das legitime Empfinden einer gleichwertigen Partnerschaft zwischen Mitgliedern der EU und machte aus den Griechen Bittsteller und aus den Deutschen Gönner. Und es war damit auch klar gestellt, zu wessen Bedingungen so etwas abzulaufen hatte.
Während sich in Deutschland auf der Basis einer solchen Stimmungslage Wahlen gewinnen ließen, war dies für die griechische Regierung unter derartigen Bedingungen kaum realisierbar. Eine Regierung, deren Leistung primär darin besteht, das auszuführen, was ihr von der Troika vorgegeben wird, und die zudem zu keiner eigenständigen Reform fähig ist, muss scheitern. Noch dazu, wenn das Rezept, das die Gesundung herbeiführen soll, nicht wirkt, weil ihm eine Fehldiagnose zugrunde liegt. „Wir helfen euch (gerne), wenn ihr euch nur anstrengt“ hieß die aus innenpolitischen Motiven erklärbare Parole. Unter Anstrengung  verstand man „den Gürtel enger schnallen“, Staatsausgaben reduzieren, indem man den privaten Sektor massiv ausweitete.
Natürlich durfte auch diesmal die deutsche Ökonomenzunft nicht fehlen, kommentierend, beratend und auf die Einhaltung der neoliberalen Glaubenssätze drängend und nicht zur Kenntnis nehmen wollend, dass auf der anderen Seite des Atlantik eine gänzlich andere Strategie der Krisenbewältigung versucht wurde. Alle folgenden, folgenschweren Entscheidungen passierten auf diesem Hintergrund. Der strikte Austeritätskurs löste keine Wachstumseffekte aus. Er führte zu sozialen Verwerfungen, Frustration und Perspektivlosigkeit. Und auch zu einer gewissen Europaverdrossenheit. Viele konnten und wollten dabei freilich nicht unterscheiden, dass für die griechische Malaise ein Europa verantwortlich war, das auf die Macht der Nationalstaaten setzte. Der große Fehler der Merkelschen (zunächst auch noch jener Sarkocys) Krisenstrategie war, auf diese intergouvernementale   Lösung zu setzen und gemeinschaftlichen Institutionen, vor allem das Parlament weitgehend zu umgehen. Mit Recht empfanden die Griechen die Troika als ein abgehobenes Instrument, das keine direkte demokratische Legitimation aufweist.
Das Wahlresultat ist also eine logische Konsequenz dieser Vorgeschichte. Und es ist auch logisch (und auch erfreulich) , dass in einer so verfahrenen Situation frische, unverbrauchte Kräfte gewählt werden und nicht die alten, durch und durch kompromittierten Eliten. Bemerkenswert ist, dass trotz gewisser anderslautender Signale die Stimmung bei den Wahlsiegern nicht grundsätzlich antieuropäisch ist. Weder will man aus Euro oder EU austreten, noch sollen die europäischen Partner über den Tisch gezogen werden.
Syriza geht es um einen prinzipiellen Kurswandel der europäischen Politik. Weg vom ideologisch begründeten Sparzwang, hin zu einer offensiven Wachstumspolitik, die zu einem neuen Aufschwung führen soll. Und vor allem sollen die Grundübel der griechischen Politik, bad governance und Korruption bekämpft werden.
Das alles müsste die europäische Sozialdemokratie hellhörig und nachdenklich machen. Nicht nur, weil da im Süden Europas eine Konkurrenz heranwächst, sondern weil sich dadurch auch neue Machtkonstellationen abzeichnen. Ein anderes Europa, das sich vom erfolglosen und den sozialen Frieden bedrohenden Alternativlosigkeit des Bestehenden abhebt, könnte ein Stück näher rücken. Und der Diskurs über alternative Wirtschaftspolitik hätte erstmals auch einen realpolitischen Bezug.
Sicherlich würde dies nicht auf Zustimmung der deutschen Mainstream Ökonomen stoßen. Aber Vertreter des Faches, wie der neue griechische Finanzminister Yanis Varoufakis lassen die Hans-Werner Sinn und Bernd Lucke ohnehin alt ausschauen.
Es ist also durchaus viel positives Potential vorhanden, wenn man es nur nutzt. Gerade jene, von den einflussreichen Akteuren im Rat damals zur Seite geschobenen europäischen Institutionen, wie das Europäische Parlament könnten dabei eine konstruktive Rolle spielen. Schon in der abgelaufenen Sitzungsperiode überwog die Kritik an der Politik der Troika. Also warum nicht einen neuen Anlauf versuchen. So wie jetzt kann es ja wirklich nicht weitergehen. Diese Erkenntnis reicht hinein bis in die EVP. Erfolgreiche Politik bedeutet ja oft das Vermögen, Fehler korrigieren zu können.
Das alles braucht Zeit, viel Zeit wahrscheinlich, aber auch Geduld und die Fähigkeit, die großen Linien zu sehen. Syriza ist ein noch weitgehend unbeschriebenes Blatt auf der europäischen Bühne. Noch wissen wir nicht, wohin sich die Partei wirklich entwickelt. Was wird in Griechenland passieren, wenn alles so weiterläuft wie bisher und Europa dem Land die kalte Schulter zeigt. Wird sich dann im Verein mit allen möglichen problematischen Figuren, die es auch in Syriza gibt, dann vielleicht der europaskeptische Koalitionspartner durchsetzen? Alle möglichen Negativszenarien könnte man ins Treffen führen. Und es ist durchaus möglich, dass wirklich alles schiefläuft. Und das will wohl niemand.
Es wäre unklug, nein es ist verantwortungslos, wenn wir es nicht versuchen, was vielleicht momentan noch unmöglich klingt. Versuchen wir einen neuen Start, natürlich unter Berücksichtigung existierender Abmachungen und lassen wir es nicht zu, dass jene die Oberhand gewinnen, denen es nur um Chaos und Zerstörung geht.