Vergangene Woche war Plenartagung in Straßburg. Die übliche Hektik, der übliche Lärm um die Probleme, die Europa gegenwärtig bewegen: das Versagen der ökonomischen Steuerungsmechanismen und der Verlust der Glaubwürdigkeit des europäischen Projekts. Mittwochvormittag stand ganz im Zeichen dieser Entwicklungen, zunächst eine kurze Debatte zu Ungarn, und danach Zypern. Bei beiden Themen zeigte sich die Unfähigkeit der Konservativen, die Probleme zu lösen. Herumlavieren bei Orban und ein gefährliches Insistieren auf den bisherigen Austeritätskurs im Falle Zyperns. Die eigentlichen Höhepunkte dieses Tages waren allerdings zwei Ereignisse, die von mir zu diesem Zeitpunkt als solche nicht wahrgenommen wurden. Die Geschäftigkeit und die Hektik lassen einen oft das Wichtige übersehen.
An diesem Mittwoch wurden, wie üblich bei einer Straßburg – Woche die Abstimmungen um die Mittagszeit unterbrochen, um eine Rede des irischen Staatspräsidenten im Europäischen Parlament zu hören. Diese Vorgangsweise wird seit vielen Jahren deswegen gewählt, um den ausländischen Gästen einen leeren Saal zu ersparen. Trotz dieser Vorkehrung verließen deutlich mehr als sonst den Plenarsaal, um vermeintlich wichtigere Dinge zu erledigen. Ich bereute es nicht, dageblieben zu sein. So wie viele andere, die diesem alten und schon etwas gebrechlichen Mann zuhörten, dem man auch nicht das Attribut eines großen Redners zusprechen kann. Michael D. Higgins sagte all das, was ich seit langem in der europäischen Politik vermisse: Er machte klar, dass Europa viel mehr als ein ökonomisches Unterfangen sein müsse: „Unsere Bürger sehnen sich nach einer Sprache der Solidarität….“. Wie niemand zuvor von unseren Staatsgästen im EP traf er den Punkt, in dem er das hegemoniale ökonomische Denken als die Schwachstelle der Gegenwart bezeichnete: This strand of neoclassical economics is of course useful for limited and defined tasks. It is insufficient however as an approach for our problems and our future.“ Anstelle dieser verengten Sichtweise würden wir eine pluralistische Politische Ökonomie brauchen. Es wäre die Verantwortung der Intellektuellen, sich darauf zu konzentrieren. Am Ende seiner Rede, in der er die zentralen Probleme, wie die immer mehr um sich greifende Arbeitslosigkeit klar und eindeutig ansprach, gab es standing ovations, nicht nur von der linken Seite des Hauses.
In mein Büro zurückgekehrt checkte ich, was sich mittlerweile in den diversen elektronischen Medien getan hatte. Mich faszinierte eine Nachricht, die bereits eifrig geshart wurde: Carmen Reinhardt und Kenneth Rogoff, die beiden Harvard Gelehrten, auf deren berühmter Studie sich seit Ausbruch der Krise die Befürworter einer harten Sparpolitik wie an eine Bibel klammerten, hätten sich schlicht einfach verrechnet, hätten gravierende handwerkliche Fehler gemacht und selektiv Fakten ausgelassen. Reinhardt und Rogoff hatten auf der Basis ihrer Daten  behauptet, dass jenseits einer Verschuldung von 90% des BIP das Wirtschaftswachstum zurückginge. Die Politik der Troika folgte unbarmherzig diesen „Erkenntnissen“. Das alles stimmt offensichtlich nicht. Auch von absichtlicher Manipulation ist mittlerweile die Rede. Die deutschen Medien tun sich schwer mit dieser peinlichen Panne und berichten recht einsilbig darüber. Die Tatsache, dass es ein 28-jähriger amerikanischer Student war, der im Rahmen einer Seminararbeit die verblüffende Entdeckung machte und die beiden angesehenen Forscher blamierte, findet auch drei Tage nach dem Bekanntwerden keine Erwähnung. Offensichtlich ist es schwer zu akzeptieren, dass die wissenschaftliche Verbrämung der Alternativenlosigkeit der dem deutschen Wesen angeborenen Spargesinnung, doch nicht ganz so zwingend ist. Schon gar nicht wenn sich solches sogar im Rahmen einer Seminararbeit von einem einfachen Studenten aufzeigen lässt. Die Professoren von Thomas Herndon, Michael Ash und Robert Pollin wollten zunächst seiner Entdeckung keinen Glauben schenken. Schließlich bestätigten sie die Ergebnisse und publizierten letzte Woche einen gemeinsamen Artikel. So fällt sein Licht auch auf sie.
Für mich ist die letzte Woche, genauer gesagt der 17. April 2013 ein besonderer Tag. Zeigte er mir doch, dass es oft lohnenswert ist, sich nicht  ausschließlich vom Mainstream dominierten Geschehen treiben zu lassen. Oft lohnt es, auf jene zu hören, die nicht im Machtzentrum der Deutungshoheit stehen: auf den kleinen alten Mann aus Irland und den kleinen Studenten aus Massachusetts. Sie zeigen, dass es wichtig ist, nicht alles nachzuplappern, sondern sich des eigenen Verstandes zu bedienen.
PS: Der für die europäische Austeritätspolitik verantwortliche Vizepräsident der Kommission Olli Rehn erklärte nach Bekanntwerden des Vorfalles, an seiner Politik festzuhalten. Die Studie hätte man ja nur zur Illustration verwendet.
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