Irgendwo über dem Atlantik. Ich habe die „Moving Map“ eingeschaltet. Landkarten haben mich schon als Kind interessiert, vor allem die Ozeane. Die ganze Zeit irritiert mich ein Punkt auf der Karte: Charlie-Gibbs Fracture Zone. Er verweist auf die tektonische Bruchzone unter dem Atlantik. Langsam, ganz langsam entfernen sich die amerikanische und die eurasische Platte voneinander. 2,5 cm pro Jahr.
Ich bin am Weg nach Kanada, gemeinsam mit Kollegen aus dem EU-Parlament. Wir wollen uns mit der dortigen Migrationspolitik vertraut machen. In Zeiten von Trump ist es wichtig, die transatlantischen Beziehungen im Auge zu behalten. Irgendwie kriege ich die Befürchtung nicht los, dass sich die beiden Kontinente mit wachsender Geschwindigkeit voneinander entfernen. Ich komme mit der Flugbegleiterin ins Gespräch. Ihr Deutsch ist eigenartig. Klingt zwar muttersprachlich, aber oft fehlt es an den entsprechenden Vokabeln. Ihre Mutter kam aus Deutschland. Sie freue sich ihre Muttersprache im Gespräch mit mir zu „improven“. Sie sagt es wirklich so. Sie ist stolze Kanadierin und stolz auf ihre deutsche Herkunft. Womit sie nicht zurechtkäme wäre dieser deutsche Karneval. Das fände sie überhaupt nicht lustig. Ob man dafür den Ausdruck „gekunstelt“ verwenden könne. Ich bejahe ihre Frage. Sie meint, dass ihre Mutter eigentlich aus Polen käme, aus Schlesien. Sie hätte Eichholzer geheißen. Wir reden über das großartige Breslau und darüber was der Unterschied zwischen Eichenholz und Weidenholz wäre. Und dass Deutsch als Muttersprache zu haben nicht bedeute, Deutsche(r) zu sein.
Im Multi-Kulti Parlament
Bei allen Menschen, mit denen ich fortan in Kontakt komme, geht es um deren Herkunft. Ungefragt erfährt man vom jeweiligen Gegenüber, ob sie/er im Land geboren wurde oder woher die Eltern und Großeltern kamen. Die meisten Abgeordneten, mit denen wir in Ottawa zusammentreffen, haben ihre Wurzeln außerhalb Kanadas. Der Kollege neben mir stammt aus dem Libanon, die Kollegin gegenüber aus Hongkong. Rund um den Tisch versammelt, Menschen aus Polen, Italien oder Kambodscha, ein deutschstämmiger Jude. Und eine Abgeordnete ukrainisch- mexikanischer Abstammung, die mit Stolz erzählt, in ihrem Wahlkreis gäbe es viele Portugiesen, die ihr besonderes ans Herz gewachsen wären. Ein älterer Kollege von der Konservativen Partei meint, er würde sich da direkt exotisch ausnehmen, da er lediglich irische Eltern aufweisen könne. Ich bin mir sicher, dass es weltweit kein Parlament mit einem derart hohen Anteil von Abgeordneten mit migrantischem Hintergrund gibt. Das spiegelt die gesellschaftliche Realität des Landes wider. Von woanders zu kommen, anders auszusehen das ist hier kein Nachteil. Im Gegenteil: „Diversity makes Canada great“. Das konnte ich – als Kontrapunkt zu Trump – immer wieder hören. Den Prozess der Nationswerdung Kanadas hätte es ohne dieses leidenschaftliche Bekenntnis zur Multikulturalität niemals gegeben. Und Kanada würde auch nicht zu den wohlhabendsten Ländern der Welt gehören. Das multikulturelle Toronto boomt, weil es Menschen aus der ganzen Welt anzieht. Kanadierin oder Kanadier ist man, wenn man in diesem Land lebt und arbeitet. Eine Kopftuchdebatte, nein, so etwas würde es hier niemals geben.
Immer wieder fällt mir auf, wie unaufgeregt über Themen geredet wird, die bei uns mittlerweile die Menschen entzweien. Wie würde man hierzulande reagieren, wenn ein Minister, der Sikh ist, seinen Turban tragen würde oder eine Abgeordnete Kopftuch. Mich überrascht eine Kirche unweit des Parlaments in Ottawa. Deutlich sichtbar ist ein grüner Halbmond, unübersehbar der Zusatzvermerk „Solidarity.“ Ein paar Wochen zuvor hatte es einen Anschlag auf eine Moschee gegeben. Ja, Kanada ist anders. Als Europäer reibt man sich die Augen. Können wir aus den Erfahrungen lernen? Sollten wir? Aber geht das überhaupt? Sicherlich haben uns die Kanadier eines voraus: Sie wissen, worüber sie reden, wenn es um Diversität geht. Unterschiede werden zelebriert und hochgehalten. Einig ist man sich freilich, wenn es um die kanadischen Werte geht. Die werden von niemandem in Zweifel gestellt. Kanada ist eine durch und durch westliche Gesellschaft, sehr europäisch. Vielleicht sogar das bessere Europa.
Canada4
Noch sind die Rechtspopulisten sehr ruhig. Das liegt daran, dass die Vorzüge der Zuwanderung klar ersichtlich sind. Postfaktische Hetze oder opportunistische Symbolpolitik greifen nicht wie hierzulande. Noch ist die Politik nicht vom mitteleuropäischen Stumpfsinn erfasst. Das hängt auch damit zusammen, dass Probleme nicht unter den Tisch gekehrt werden. Probleme wären da, um gelöst zu werden. Das hören wir oft. Ganz anders als bei uns in Mitteleuropa, wo Probleme dazu dienen, Ängste zu schüren. Nicht Ideologie, sondern Pragmatismus bestimmt die Migrationspolitik. Immer wieder ist von „managed migration“ die Rede. Die Menschen haben das Gefühl, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Kontrollängste gibt es nicht. Alles ist nachvollziehbar. Die Zahlen aus dem Vorjahr sind beeindruckend: Etwa 160.000 Menschen wandern jährlich „regulär“ nach Kanada ein, indem sie sich bewerben und akzeptiert werden, weil sie bestimmten Kriterien entsprechen. 11.000 weil sie als Asylwerber persönlichen Schutz suchen, 25.000 als Kontingentflüchtlinge, weil der kanadische Staat bereit ist, seine Verpflichtungen als Mitglied der internationalen Gemeinschaft wahrzunehmen. 85.000 kommen im Rahmen der Familienzusammenführung. Das erschreckt niemanden, weil die Menschen wissen, wie wichtig es ist, seine Lieben um sich zu haben. Die Erinnerung daran, selbst eingewandert zu sein ist allgegenwärtig. Wir treffen Vertreter einer Organisation, deren Gründer italienische Einwanderer waren und die sich momentan um syrische Kontingentflüchtlinge kümmern. Diese wurden im Rahmen des Resettlement-Programms aufgenommen. Menschen, deren Auswahlkriterium es war, zur Gruppe der „most vulnerable“ zu gehören. Aufnahmekriterium war nicht die beste Integrationsmöglichkeit, sondern die besondere Hilfsbedürftigkeit. Wie jetzt bei der Aufnahme von beinahe 2000 jesidischen Binnenflüchtlingen aus dem Nordirak.
Initiative für Flüchtlings-Patenschaften
Wenn NGOs oder Privatbeteiligte Patenschaften eingehen, sind auch persönliche Präferenzen möglich. Dieses Partnerschaftsprogramm ist einzigartig, weil sich Menschen einfach zu Gruppen zusammenschließen können, um Verantwortung für eine oder mehrere Personen zu übernehmen: finanziell, als Mentor und Begleitperson. Nach unserer Rückkehr haben wir Anträge im Rahmen der Reform des europäischen Asylwesens eingebracht, derartiges auch in Europa zu ermöglichen. Es sieht gut aus.
Ja, es ist notwendig, von anderen Kulturen zu lernen. Was Migration und Flucht anbelangt auf jeden Fall von Kanada. Am Rückflug über den Atlantik ist sie wieder präsent, die Fracture Zone. Der Flug ist unruhig, ich träume vor mich hin und wache immer wieder auf. Nein, ich werde aufgeweckt, von Gespenstern, die Donald Trump und Steve Bannon ähnlich sehen. Ich habe das Gefühl, als würde unter mir alles ins Wanken geraten, Amerika und Europa sich rasant voneinander entfernen. Ich höre Nummer 45 sagen, dass nach der Mauer zu Mexiko auch eine solche zu Kanada notwendig wäre. Das, was mir seit meiner Kindheit vertraut war, die westliche Wertegemeinschaft, scheint sich gerade aufzulösen. Der Atlantik verbindet nicht mehr. Die Bruchzone ist allgegenwärtig. Alles vorbei? Mitnichten. Die Krise ist Europas Chance und Verpflichtung zugleich.

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