Es braut sich etwas zusammen bei unseren ungarischen Nachbarn. Das Land ist aus den Fugen geraten. Wie bei einem Erdrutsch. Bislang scheinbar Festgefügtes gerät in die Mühle eines zähen und stetigen Vorgangs, dem nichts standhält, wenn es einmal davon erfasst ist. Victor Orban hat bei den Parlamentswahlen im Frühling letzten Jahres in der Tat einen Erdrutschsieg errungen: Mehr als fünfzig Prozent. Nach dem ungarischen Wahlrecht, das dem liberalen Geist der Wendejahre entsprechend Mehrheiten begünstigt, bedeutet das eine satte Zweidrittelmehrheit und einen Freibrief für Machtbesessene. Machtbesessen ist er, der Herr Orban. Lange brauchte er, um seine Abwahl als Ministerpräsident im Jahr 2002 und die knapp verfehlte Rückkehr vier Jahre später zu überwinden. Fortan setzte er alles daran, die sozialistische Regierung zu destabilisieren. Was durch deren desaströse Fehler zweifellos erleichtert wurde.
Der „Puszta –Putin“, wie ihn die bürgerliche deutsche „Welt“ nennt, konnte vor allem auch deswegen reüssieren, weil die wirtschaftliche Lage des Landes katastrophal, die sozialen Auswirkungen der Reformen schrecklich und die Stimmungslage in der Bevölkerung, insbesondere bei den Modernisierungsverlierern, depressiv und verzweifelt war.
Ganz unschuldig an der Misere, die er erfolgreich den Sozialisten anlastete, war er freilich nicht, hatte er doch in seiner ersten Amtszeit, als er noch Vizepräsident der Liberalen Internationale war, einen eindeutig wirtschaftsliberalen Kurs verfolgt.
Zum Konservativen mutiert hielt er es künftig mit traditionellen Werten und der Vorliebe für autoritäre Lösungen. Besonders aber hat es ihm die Vergangenheit angetan. Der Vertrag von Trianon (1920) beispielsweise. Dieser hatte das Land auf seine heutige Größe reduziert und wird von ungarischen Nationalisten zur nationalen Demütigung stilisiert.
Orban spielte gekonnt auf dem nationalen Klavier und das ganze Land versank in einem nationalen Rausch. Schuld an der ungarischen Misere waren fortan das Ausland oder die Juden. Die Schmach, die man den Ungarn einst angetan hatte, müsse getilgt werden.
Auf dieser nationalistischen Welle wurde Orban zum Sieg getragen. Doch der Geist ist – einmal geöffnet – aus der Flasche gefahren. Neue radikalere Strömungen wie die rechtsradikale Jobbik Bewegung – Herrn Straches ungarische Freunde – reden bereits offen einer Revision der Grenzen das Wort, prügeln auf Roma ein und greifen zu wilden Verschwörungstheorien.
Orban steht unter Druck. Unter dem der militanten Rechtsableger und dem, den er sich selbst mit seinen vollmundigen Versprechungen auferlegt hat. Ungarn soll sich radikal verändern, rasch und nachhaltig. Jene, die sich in den Weg stellen werden aus dem Weg geräumt. Anlassbezogen wird die Verfassung verändert, ein untrügerisches Zeichen für autoritäre Regime. Von „nationalen Angelegenheiten“, von der Pflicht zur „nationalen Zusammenarbeit“ ist die Rede, und der 4. Juni wird zum Tag der „Nationalen Einheit“ erklärt, im Gedenken an den „Diktatfrieden“ von Trianon, um „alle Landsleute in der Region an die größte Tragödie Ungarns im 20. Jahrhundert“ zu erinnern. Die Region da ist nicht nur Ungarn, das ist die Slowakei und Rumänien, aber auch Kroatien, die Vojvodina, die Karpato – Ukraine und das Burgenland.
Abgesehen davon, dass es wohl größere Tragödien in der Geschichte Ungarns gegeben hat, ist dieser Akt eine revanchistische Provokation sondergleichen: Aufruf zu nationalistischen Querelen, Anstiftung zu Missachtung und Hass bis zur Forderung nach Revision der Grenzziehung. Und das im Vereinten Europa! So, als ob es nach dem großen Krieg, der im Übrigen eine Revision des „Friedensdiktates“ von Versailles zum Ziel hatte, keinen Versöhnungsprozess gegeben hätte. Die Vorgänge in Ungarn sprechen der europäischen Idee Hohn aus.
Das alles ist brandgefährlich. Auch in Jugoslawien hat es ähnlich begonnen, als der Nationalismus begann, die Gehirne der Menschen zu zersetzen. Lassen wir es nicht zu, dass der ungarische Bazillus ganz Europa befällt. Der Nationalismus bedroht den Frieden und gefährdet den Wohlstand. Die Zukunft Europas wird heute in Ungarn verteidigt.