Kärnten und Sommer sind eng miteinander verbunden. Auch für mich. Viele Sommer verbrachte ich in dieser schönen Gegend, wo einem die Menschen stets freundlich begegnen. Irgendwann ließ ich davon ab. Aus unterschiedlichen Gründen. Einer davon war die Politik. Mich ärgerte der vor allem unter Alkohollaune von vielen Kärntnern zelebrierte Chauvinismus. Vom Freistaat war die Rede, von der Minderwertigkeit der Nachbarn, den Fremden und von arbeitsscheuen Elementen, die dem Staat zur Last fielen. Eigenartigerweise meinte man damit nicht jene, die von Jahr zu Jahr mit öffentlichen Mitteln neue, immer protzigere Hotelbauten errichteten. Auch wenn ich mich von diesen unangenehmen Begegnungen, zumindest was die Urlaubszeit betrifft, physisch fern zu halten vermochte, wurden sie bald zum alltäglichen Begleiter. Alles würde besser, gerechter, wenn er nur etwas zu reden hätte. Er würde mit den Bonzen aufräumen und es all jenen zeigen, die uns auf der Tasche liegen. Es rumorte im österreichischen Volk und Jörg Haider hatte offensichtlich einen Ton getroffen, diese Stimmung in politische Münze umzuwandeln. Kärnten wurde zum Laboratorium für einen autoritären Umbau und zum Mekka all jener, die eine „Dritte Republik“ herbei sehnten. Das „Dritte Lager“ unter der populistischen Führung Jörg Haiders war bald die eigentliche Triebkraft der österreichischen Politik und lähmte die etablierten Parteien wie die Schlange das Kaninchen.

In der Tat war die Situation ungewohnt. Die beiden in der Großen Koalition vereinigten Regierungsparteien fanden daher auch kein Rezept. Es nutzte nichts, auf den eigenen Leistungen zu beharren. Aussitzen ließ sich die Sache auch nicht. Haider war mehr als ein  Strohfeuer. Er legte treffsicher die Finger auf die Schwachstellen des politischen Betriebs, sprach die Ängste der Menschen an und schürte ihre Wut, lange bevor es den Begriff „Wutbürger“ gab. Freilich wusste er keine Lösungen, wie das ja für Populisten typisch ist. Die beiden Großparteien waren nicht bereit und nicht fähig, die zweifelsohne vorhandenen Probleme aufzugreifen. Außer dem Beitritt zur Europäischen Union wurden alle wichtigen Reformen hinausgezögert. Niemand wagte sich an die politischen Strukturen heran, wie das im übrigen Europa passierte. Wirtschaftsreformen wurden nach gerade in Mode gekommenen neoliberalen Rezepten durchgeführt, wie etwa erste Privatisierungsmaßnahmen oder eine Reform des Steuersystems mit der weitgehenden Eliminierung vermögensbezogener Elemente. Dies war zwar durchaus nach dem Geschmack der Populisten, hielt sie aber trotzdem nicht ab, sich bei den Verlierern dieser Maßnahmen anzubiedern. Haiders Aufstieg war also nicht nur seinen agitatorischen Fähigkeiten, sondern in noch größerem Ausmaß den Fehlern und Schwächen der Regierenden geschuldet. Deren Schwächen äußerten sich vor allem darin, wie man dem Phänomen Haider begegnen sollte. Im Sinne politischer Korrektheit setzte Vranitzky auf „containment“, also auf eine Strategie der Eindämmung Haiders. Schüssel wollte hingegen „appeasment“, also Haiders Einbindung, weil er hoffte, auf diese Weise in eine Position zu gelangen, das Land seinen Vorstellungen gemäß zu verändern. Die containment-Strategie scheiterte, weil sie zu wenig konsequent war und sich im Formalen erschöpfte. Im Inhaltlichen näherte man sich nämlich bedenklich den Haiderschen Vorstellungen an, in der Hoffnung, ihm auf diese Weise das Wasser abgraben zu können. Typisches Beispiel dafür ist die „Ausländerpolitik“ unter Löschnak. Mit der Losung „Das Boot ist voll“ übernahm man Positionen der Freiheitlichen und machte diese damit auf indirekte Weise regierungsfähig.
Schüssel setzte von vornherein auf eine politische Wende. Diese gelang ihm 2000. Statt zu neuen Aufbrüchen, wie ihm das vielleicht wirklich vorgeschwebt haben mag, führte er das Land in sumpfiges Gelände. Dem populistischen Regierungspartner, dem die politische Gestaltungsmacht vorenthalten blieb, gab er das Land zur Beute, besonders jene Bereiche, die vom roten Regierungspartner kontrolliert worden waren. Wie bei einer von der Armeeführung zur Plünderung freigegebenen Stadt durften sich die Sieger bedienen. Die Wende war keine politische Wende, wie es von Schüssel intendiert gewesen war. Sie war eine moralische Wende, allerdings nicht im positiven Sinn. Demokratische Prozeduren wurden ausgehöhlt, die in Österreich populäre Konsultationskultur verächtlich gemacht und öffentliches Verantwortungsbewusstsein zurückgedrängt. Von „Speed kills“ und vom „Drüberfahren“ war die Rede. Lang ist die Liste der Skandale, deren Aufklärung von der Justiz nicht unbedingt mit Verve vorangetrieben wird. Österreich ähnelt in starkem Ausmaß dem Italien der frühen 90-er Jahre, als die Republik schließlich in Justizskandalen unterging. Zum ersten Mal scheint es jetzt möglich, dass Licht ins Dunkel des Korruptionssumpfes der Schüssel-Jahre dringt. Kärnten sei es gedankt. Dort liegen die Nerven blank und dort beginnen feste Seilschaften zu zerbrechen. Abgründe, die man immer vermutet hatte, werden sichtbar. Es wird noch dauern, bis alles (vieles) ans Licht der Öffentlichkeit gerät. Seit langem wieder ein Sommer, wo ich gerne in Kärnten wäre.
Neubeginn in Kärnten?
Das von Haider geprägte Vierteljahrhundert neigt sich seinem Ende zu. Das ist kein Grund für Schadenfreude und Hohn, auch nicht für besserwisserische Genugtuung. Es ist kein Grund, jetzt auf Kärnten herabzublicken. Kärnten ist Österreich. Kärnten und seine Menschen lächerlich zu machen, heißt, die eigenen Probleme unter den Tisch kehren zu wollen. Dieser Sommer in Kärnten eröffnet uns die Chance eines Neubeginns. Jetzt, wo die Resultate des großen populistischen Schwindels sichtbar werden, wo die Menschen zu begreifen beginnen, dass sie bloß benutzt wurden. 25 Jahre nach Haiders Aufstieg sind die Ängste der Menschen, die Gefühle des Zu-kurz-gekommen-Seins und die Wut über die augenscheinlichen Ungerechtigkeiten nach wie vor da. Benachteiligung und Bevormundung gehören zum Alltag. Der Ausweg kann nur ein politischer sein. Politik muss Orientierung geben können und den Menschen die Wahrheit zumuten. Wir brauchen Strukturen, die die Mitbeteiligung einer größtmöglichen Zahl Interessierter ermöglichen und keine plebiszitäre Gaukelei. Wir brauchen neue, andere, erneuerte Institutionen. Wirklich unabhängige Gerichte und Anklagebehörden, eine Finanzverwaltung, die es zustande bringt, die Steuerhinterziehung im großen Stil zu unterbinden und unabhängige Medien, die an Aufklärung und Information orientiert sind und nicht bloße Stimmungsmache betreiben. Vor allem aber brauchen wir Parteien. Parteien, in denen es selbstverständlich ist, dass Mitglieder mitreden – bei der Festlegung der politischen Positionen ebenso wie bei der Auswahl der Mandatarinnen und Mandatare.
Wir brauchen dringend eine Reform des Institutionengefüges unseres Staates. Was im populistischen Vierteljahrhundert passierte, darf sich nicht wiederholen. Nur eine offene Demokratie schafft die notwendige Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich zu beteiligen. Das alles lässt sich freilich nicht von ein paar Intellektuellen herbeischreiben, auch nicht von hohen Funktionsträgern dekretieren, schon gar nicht darf es den Profilierungszwängen von Parteisekretariaten anheimfallen. Was wir brauchen ist eine breite, offene Diskussion, einen großen österreichweiten Ratschlag gewissermaßen, der dann in einen Reformkonvent münden könnte. Da müssen neue Gesichter ebenso dabei sein, wie Menschen mit Erfahrung im politischen Prozess. Da muss auch über neue Formen der Beteiligung und Repräsentation geredet werden. Wenn wir die Zeichen der Zeit sehen wollen, dann bietet uns der Kärntner Sommer 2012 die beste Gelegenheit. Es wäre fatal, einfach in der gewohnten Weise weiter zu tun. Die meisten Fehler darf man nicht zweimal machen.