In diesen Tagen gab es wichtige personelle Weichenstellungen im Europäischen Parlament. Neue Abgeordnete kamen und alte gingen. Momente des Abschiednehmens, der Freude und Neugierde, aber auch viel Enttäuschendes, mitunter Ärgerliches. Hektische Tage also.
Mir ließ dennoch ein Thema keine Ruhe: Die Situation in Ungarn. Nicht nur wegen meiner Kolleginnen und Kollegen aus dem Nachbarland. Auch hier gibt es viele neue Gesichter. Plötzlich habe ich es mit zwei ungarischen Delegationen in meiner Fraktion zu tun. Von meinen früheren Fraktionskollegen ist niemand mehr dabei. László T?kés, bislang als rumänischer Abgeordneter in den Reihen der EVP tätig, vertritt nun Ungarn, ohne freilich seinen Wohnsitz dorthin gewechselt zu haben. Viktor Orban hat ihn angeblich dazu ermutigt. Mir sind diese Vorgänge nicht egal.
Ungarn, das war und ist etwas Besonderes für mich. Für die meisten Menschen in Österreich ist das wahrscheinlich genauso. Ungarn ist uns allen nahe, obwohl wir es gar nicht wirklich kennen. Ungarn, das ist gemeinsame Geschichte, die wir freilich nie begriffen haben.
Ich versuche mich zu erinnern, wann ich zum ersten Mal mit Ungarn konfrontiert wurde. Es war im Zusammenhang mit dem Aufstand 1956. Fernseher gab es noch keinen. Ich war gerade in die Volksschule gekommen und begierig, meine Lesekenntnisse an allem Gedruckten zu erproben. Die Zeitungen waren voll von Berichten über Ungarn, mit vielen unheilvollen Bildern. Alles in Schwarz-Weiß. Ich erinnere mich noch genau an diese Eindrücke und daran, dass ich es als Erstklassler nicht schaffte, einzelne Namen in der Zeitung zu buchstabieren.
Einer davon wird wohl Imre Nagy gewesen sein, der später, in der Studentenzeit, zu einem meiner Helden werden sollte. In einer Reihe mit Alexander Dubcek und anderen, die versuchten hatten, Sozialismus und Demokratie in Einklang zu bringen. Nagy war in jenen kritischen Tagen ungarischer Ministerpräsident und verantwortlich dafür, dass sich Ungarn vom Warschauer Pakt lossagte. Vergebens, wie wir wissen. Er bezahlte dafür mit dem Leben, wurde hingerichtet und verscharrt. Für mich als Sozialdemokrat war er kein Konterrevolutionär, wie für viele Linke damals, vielmehr war er ein Freiheitskämpfer. All die Jahre hegte ich Sympathie für jene, die versuchten, unter den fürchterlichen Bedingungen des Stalinismus und seiner Nachfolgeregime die Fahne der Demokratie und Geistesfreiheit hochzuhalten. Als Präsidenten der österreichischen Volkshilfe erfüllt es mich mit großem Stolz, dass meine Vorgänger ganz vorne mit dabei waren, die aufständischen Nachbarn aktiv zu unterstützen und ihnen als Flüchtlinge Asyl zu gewähren. Das war ganz in der großen humanitären Tradition der österreichischen Sozialdemokratie. Damals war das noch so etwas wie ihr Alleinstellungsmerkmal.
Ungarn, das war für uns in Österreich der ständige Versuch, das starre Korsett des Kommunismus zu lockern. Mit allen Mitteln, nicht immer mutig, oft phantasievoll, auf jeden Fall nachhaltig. Es war logischerweise an der österreichisch-ungarischen Grenze, wo der Eiserne Vorhang Risse bekam. Das war nicht zuletzt auch eine Folge der vielfältigen Kontakte, die im Lauf der Jahre als Konsequenz der Entspannungspolitik aufgebaut werden konnten. Ich habe in diesen Jahren viele Menschen kennen und schätzen gelernt. Und alle haben wir uns gemeinsam gefreut, als die Freiheit, für die die Aufständischen damals gekämpft hatten, endlich Wirklichkeit wurde. Und alle haben wir von einer leuchtenden Zukunft für die Völker, die den Donauraum besiedeln, geträumt.
Die Welt schien offen zu stehen, für alle. Überall Chancen. Die Öffnung der Grenzen veränderte den Charakter der Beziehungen. Nun waren Dinge möglich, von denen man bis zu diesem Zeitpunkt nur geträumt hatte. Es geschah auch bisher Unvorstellbares. Ungarn wurde zum ergiebigsten Handelspartner. Eine richtige Goldgräberstimmung kam auf. Nicht immer waren es Win-win Situationen. Oft zogen unsere ungarischen Nachbarn den Kürzeren und fühlten sich über den Tisch gezogen – wie etwa im Fall der Fremdwährungskredite. Solches Vorgehen bereitete schließlich auch den Boden für die populistischen Manöver Victor Orbans.
25 Jahre, nach dem sich die Außenminister Ungarns und Österreichs, Horn und Mock, in einem wahrhaft symbolischen Akt mit der Schneidezange an den Eisernen Vorhang herangemacht hatten, ist die Bilanz dieser neuen Ära ernüchternd. Die Euphorie ist verflogen und beide Nachbarn praktizieren die Kunst des Wegschauens. Darin haben wir ja jahrhundertelange Übung. Diese historische Erfahrung lehrt uns auch, dass im österreich-ungarischen Verhältnis auf eine Phase der Ignoranz zumeist Verwerfungen folgten. Danach sieht es auch gegenwärtig aus. Anders als 1956 oder 1989 besteht kein Gleichklang der Entwicklung. Die Interessen bewegen sich nicht aufeinander zu. Sie entfernen sich mit zunehmender Geschwindigkeit. In dieser neuen Ungleichzeitigkeit liegt das Problem unserer künftigen Beziehungen. Zwar leben wir in einem gemeinsamen Raum ohne Grenzen und in einem Binnenmarkt, der genau den Wohlstand und das gute Leben ermöglichen könnte, von dem die Menschen einst träumten. Doch die ungarische Politik hat sich aus diesen zugegebenermaßen schwierigen Fragen zurückgenommen. Sie lebt in immer stärkerem Ausmaß vom Rückgriff auf die (unbewältigte) Vergangenheit.
Das begann schon damals, als das offensichtliche Ende des „Gulaschkommunismus“ eingeläutet wurde, bei der spektakulären Umbettung der sterblichen Überreste von Imre Nagy und seiner Gefährten im Juni 1989. Ich erinnere mich noch gut an diesen Akt, der damals große mediale Aufmerksamkeit fand und auch an einen jungen, unrasierten Mann im offenen Hemd, Victor Orban, der so gar nicht zu den übrigen Akteuren, allesamt Teil der herrschenden Nomenklatura, passte. Er vertrat die oppositionelle Jugend, forderte freie Wahlen und den Abzug der sowjetischen Truppen. Das war sein Eintrittsticket in die ungarische Politik. Zunächst als Suchender. Die ersten Gehversuche machte er als Liberaler, bis er schließlich in der christdemokratischen Parteienfamilie – nicht immer zu deren Begeisterung – seinen endgültigen Platz fand. Ursprünglich hatte er sogar versucht, bei den Sozialdemokraten zu ankern.  Orbans Antrieb ist nicht so sehr ideologischer Natur, es ist sein ausgeprägter Machttrieb, der sich ideologische Positionen nach dem Opportunitätsprinzip zu eigen macht. Orbans Ultima Ratio heißt Orban.
Nur schwer verkraftete er, dass er 2002 schon nach einer Amtsperiode aus dem Amt des ungarischen Ministerpräsidenten gewählt wurde und auch 2006 nicht reüssieren konnte. Gegen die verhassten Sozialisten setzte er daher auf eine gnadenlose Oppositionspolitik, verteufelte Ferenc Gyurcsány wegen dessen „Lügenrede“ und begann auf dem Klavier des Nationalismus zu spielen, auch um den Preis, damit die rechtsradikale Jobbik ins politische Spiel zu bringen. Es wurde viel über Gyurcsánys Geheimrede geschrieben. Weniger bekannt ist, dass Orban, ein Jahr vor seinem triumphalen Wahlsieg in einer geschlossenen Veranstaltung versprach, „statt „dualem Parteihader“ seine Partei im „zentralen politischen Kraftfeld“ für die kommenden 15 bis 20 Jahre „zum allein herrschenden Machtfaktor“ machen.“
Dieser Vorgang ist seit 2010 im Gang. Europa, das zunächst der Entwicklung in Ungarn sehr kritisch gegenüber stand, scheint sich damit abzufinden. Und es sollte genau hinhören, was Orban sagte, als er vor wenigen Wochen die Festrede zur Wiedererrichtung eines Denkmals für István Tisza hielt, Ungarns Ministerpräsident von 1903-1905 und 1913-1917. Dieser hatte posthum vor allem während der Horthy Diktatur große Popularität erlangt. Orban nutzte seinen Auftritt für eine große Rede, in der er, ähnlich wie 1989, versuchte, das Land in der politischen Landschaft zu verorten: War das damals die westliche Demokratie, so ist das nunmehr eine krude Referenz an die große Vergangenheit. Was und wie er das sagte, sollte uns allen zu denken geben. Es sollte uns nachdenklich machen, weil es als Kampfansage gegen all das konzipiert ist, was wir gemeinhin als europäische Wertegemeinschaft betrachten. „Heute, wo selbsternannte Demokraten die Demokratie vor uns beschützen wollen und uns heftig im Namen eines wolkigen Konzeptes von `Europäertum` kritisieren, einfach, weil wir nicht bereit sind, zu akzeptieren, was uns Brüsseler Bürokraten im Namen Europas sagen, auch heute können wir uns auf das berufen, was István Tisza schon sagte: `Wir bekennen offen, dass wir auf nationalen Fundamenten stehen.“ Und er fährt fort: „Uns interessiert aber der ganze menschliche Fortschritt nicht, wenn er nicht mit einem Vorteil, dem Wohlstand und der Größe der ungarischen Nation verknüpft ist. Warum soll einer zerfallenden, liberalen Epoche nicht eine Ära des Wohlstands und der nationalen Inspiration folgen? Und warum soll es unmöglich sein, dass die Vorsehung uns erwählt hat, uns, die Ungarn von heute, das zu erreichen?“
Orban hat nicht zufällig Tisza zum Säulenheiligen erkoren. Tisza konnte seine nationale Rolle vor allem deshalb entfalten, weil er sie in Budapest u n d Wien spielte. Er wusste, dass der ungarische Einfluss dann am größten war, wenn er einerseits lautstark die ungarischen Interessen beschwor und sich andererseits unentbehrlich in Wien machte. Eine klassische Schaukelpolitik. Man braucht nur Wien durch Brüssel ersetzen. Und Tisza durch Orban, dann bekommt man eine Idee, was sich in unserem Nachbarland gegenwärtig abspielt und dass es Europa und schon gar nicht den österreichischen Nachbarn egal sein kann. Ich habe mir jedenfalls vorgenommen, mich in den Sommerwochen, auf die ich mich schon riesig freue, in die österreichisch-ungarische Geschichte zu vertiefen.