Ich habe mich sehr über die Anfrage gefreut, anlässlich Eurer 40 Jahr Feier das Impulsreferat zu halten.

Nicht nur weil ich Eure Arbeit überaus schätze. Nicht nur, weil ich während meiner aktiven Zeit immer wieder mit der Sozialplattform zu tun hatte, vieles daher auch gemeinsame Geschichte ist.

Dieses Jubiläum ist eine Gelegenheit darüber nachzudenken welchen Stellenwert das Bemühen um soziale Sicherung heute überhaupt (noch) hat.
Mittlerweile denunzieren sogenannte Denkfabriken das ja tagaus-tagein als „Vollkasko -Mentalität“ im „Nanny- State“. Mit wachsendem Erfolg.

Nicht mehr die ausgestreckten Hände zählen, vielmehr werden jene gehypt, die ihre Ellbogen ausfahren. Es gilt das Recht des Stärkeren. Jeder ist sich selbst der Nächste heißt das neue Mantra.

Elon Musk sieht in der Empathie die „grundlegende Schwäche unserer Zivilisation“ und Peter Thiel, auch kein Unbekannter, verachtet das Gerede vom Gemeinwohl. Er lässt sich von Carl Schmitt, einem schillernden Wegbegleiter des Nationalsozialismus und Idol der Neuen Rechten inspirieren: „Wer Menschheit sagt, der will betrügen.“ Dieses Zitat bringt den ganzen misanthropischen Zynismus, der sich mittlerweile breitmacht, auf den Punkt.

Ja, wir befinden uns an einem historischem Wendepunkt. Noch ist ungewiß, welchen Schaden Trumps „Project 2025“ anrichten wird. Aber es ist nicht auszuschließen, dass sich 1933 und vieles was darauf folgte, wiederholen könnte. Was immer auch passieren wird, der soziale Zusammenhalt wird nachhaltig beschädigt werden.

Rund um das Gründungsjahr der Sozialplattform

1985, im Gründungsjahr der Sozialplattform, also 40 Jahre nach der Niederlage der Nazis, hätte das wohl niemand für möglich oder gar für wünschenswert gehalten. Ein paar Ewiggestrige vielleicht, aber die waren damals gesellschaftliche Randfiguren, Männer, die sich im trunkenen Zustand die Gesichter zerschnitten und mit maskulinistischem Todeskult das epochale Scheitern ihrer Väter zu verdrängen versuchten.

1985 schien bei uns in Westeuropa die Welt noch in Ordnung. Seit der Niederlage des Faschismus war es aufwärts gegangen. Ein neues Zeitalter schien anzubrechen. Es herrschte Aufbruchsstimmung, die Menschen waren geblendet vom „Wirtschaftswunder“.

Die allgegenwärtige Fortschrittsgläubigkeit ließ dem Pessimismus wenig Spielraum. Kritische Stimmen hatten es schwer gegen die empirische Realität aufzukommen. 1968 war ein spektakulärer, aber vergeblicher Versuch.

Wachstum um jeden Preis hieß die Devise. Tatsächlich war es noch nie so vielen Menschen so gut gegangen wie in diesen Jahren. Dass dieser Wohlstand zu Lasten weniger entwickelter, bis vor kurzem noch in kolonialer Abhängigkeit gehaltener Erdteile, ging blieb ebenso ausgeblendet wie die bereits erkennbare, dem naiven Wachstumsfetischismus geschuldete Klimakatastrophe.

1985 überwog vor allem das Gefühl, dass individuelle Leistung und gesellschaftliche Loyalität nicht vergebens sind und die Bevölkerung darauf zählen konnte, im Krisenfall nicht auf sich allein gestellt zu sein. Fleiß sollte sich lohnen.

Der Sozialstaat wurde als systemimmanente Folgewirkung der boomenden Nachkriegswirtschaft empfunden. Er beruhte auf einem partnerschaftlichen Verhältnis von Kapital und Arbeit sowie dem Bekenntnis zu staatlicher Intervention in Form gesetzlicher Regelung und finanzieller Transfers.

Natürlich spielte dabei auch der Ost-Westkonflikt eine Rolle. Ein möglichst hohes Ausmaß an sozialer Sicherheit sollte die Gefahr kommunistischer Subversion eindämmen. Das kann man als taktisches Manöver kritisieren, aber es zeugt auch von einem Grundverständnis an Staatskunst, dass es ohne sozialen Zusammenhalt eben keine Stabilität gibt. Das war das Motiv hinter Roosevelts „New Deal“, Lyndon B. Johnsons „Great Society“ oder dem 1942 von Beveridge propagierten „Welfare State“.

1985 waren aber auch schon deutliche Risse in diesem Verständnis erkennbar. Das lag zum einem am Konstruktionsprinzip des Sozialstaats. Solidarität war in den meisten Fällen auf den Transfer von Geldleistungen konzentriert, Sachleistungen spielten eine geringere Rolle. Dies reduzierte die Möglichkeit aktiver Solidarität. Es gab wenig Raum für praktizierten Altruismus. Der in der Nachkriegszeit boomende Sozialstaat hatte eindeutig paternalistische Züge: „Wir für Euch“ und nicht: „Wir für Uns“.

Zudem war er vorrangig am „Male Breadwinner“, also an der männlichen Erwerbstätigkeit orientiert. „Care Arbeit“ wurde daher auch lange Zeit nicht als vollwertige Arbeit betrachtet. Dafür bräuchte es nicht unbedingt eine professionelle Qualifizierung, das dem weiblichen Geschlecht zugeschriebene Mitgefühl und die Bereitschaft sich aufzuopfern würden schon ausreichen. Als Belohnung gäbe es Dankbarkeit. Und wer diese nicht aufbringt, der würde sowieso keine Hilfe verdienen.

Das Goldene Zeitalter der Sozialstaatlichkeit hatte also durchaus systemimmanente Mängel, die unabhängig von nationalstaatlichen Variationen überall zu Tage traten. Das zeichnet sich zu Beginn der 1980-er Jahre mit dem Ende der Vollbeschäftigung immer deutlicher ab. Die Krise der Arbeitsgesellschaft wurde zu einem wichtigen Topos der politischen Diskussion und auch dass es jenseits der organisierten Interessen soziale Defizite gab, für die keine politischen Lösungen bereitstanden.

1985, um wieder zum Gründungsjahr der Sozialplattform zurückzukehren, waren diese Themen als „Neue Soziale Frage“ in der politischen Diskussion omnipräsent. Der leider mittlerweile in Vergessenheit geratene österreichische Nationalökonom, Egon Matzner hatte kurz zuvor seine grundlegende Analyse, „Der Wohlfahrtsstaat von morgen, Entwurf eines zeitgemässen Musters staatlicher Interventionen“ vorgelegt. Staat und Markt würden bei der „Versorgung differenzierter personennaher Bedürfnisse“ versagen. Es ginge deshalb darum, diese Lücken zu schließen und das Potential gesellschaftlicher Beteiligung zu mobilisieren.

Eine Botschaft, die zwar breiten Widerhall fand, aber nicht zum politischen Mainstream wurde. Es war zu verlockend, sich in banalen Erklärungsmustern zu verlieren und vom allgegenwärtigen Staatsversagen zu schwadronieren. Der Markt, so das neoliberale Credo würde alles wieder ins rechte Lot bringen. Der spätere Wendekanzler Wolfgang Schüssel plädierte schon in diesen Jahren deutlich für eine Begrenzung und Privatisierung öffentlicher Aufgaben. Seine Publikationen „Mehr Privat – Weniger Staat“ und „Staat lass nach“ ließen keine Zweifel aufkommen.
Damit bezog er schon früh eine Position, die man im konservativen Lager eher von den Protagonisten der sich in unterschiedlichem Tempo über den ganzen Globus ausbreitenden neoliberalen Wende, Ronald Reagan und Margaret Thatcher gewohnt war.

„There is no such thing as society“ hatte die Eiserne Lady getönt, als sie daran daran ging, den britischen „Welfare State“ zu demontieren. Wie perfekt das funktionierte zeigt ihr rückblickendes Resümee: Tony Blair und New Labour was my „greatest achievement“.

Dieser „Blachterismus“ sollte von nachhaltiger Wirkung sein, gerade auch für Sozialdemokratie in Europa, die immer mehr auf die regulative Wirkung des Marktes setze und sich auf diese Weise selbst demontierte. Darauf werde ich später nochmals zurückkommen.

Jenseits von Markt und Staat – Die Entdeckung des Sozialkapitals

Die Mobilisierung gesellschaftlicher Beteiligung war für die überwiegende Mehrheit der politischen Entscheidungsträger 1985 noch keine Alternative.
Egon Matzner, der 1979 als Koordinator ganz maßgeblich am Parteiprogramm der SPÖ mitgewirkt hatte, konnte sich bei den meisten seiner auf etatistische Positionen fixierten Genossen nicht Gehör verschaffen und verzweifelte daran.

Dass es sowohl kurzsichtig als auch ungenügend war, sich bei der Gewährleistung sozialer Stabilität lediglich auf Staat und Markt zu verlassen blieb ausgeblendet. Es wurde verkannt, dass es in Wirklichkeit das Wohlfahrtsdreieck Staat – Markt – Gesellschaft war, das es auszutarieren galt. An dieser Komplexität mussten alle scheitern, die den sozialen Zusammenhalt lediglich mit der ideologischen Brille ins Visier nahmen. Vor allem der Beitrag des Faktors Gesellschaft ist vielschichtig.
Er lässt sich nicht auf Transferleistungen oder auf Versicherungsbeiträge reduzieren, ist also nur schwer monetarisierbar. Seine Leistungen werden weder auf der Basis eines ökonomischen Kalküls noch als Erfüllung gesetzlicher Vorgaben aktiviert, ihnen liegt vielmehr ein ethisches oder gesellschaftspolitisches Kalkül zugrunde.

Ebenso komplex wie das Tätigkeitsfeld sind die Akteure selbst. Ein wichtiges Kriterium ist, dass sie autonom agieren. Nonprofit Organisationen mit weltanschaulicher Orientierung zählen ebenso dazu wie solche, die an „single-issues“ orientiert sind.

Die Organisationsform ist mitunter sehr lose und reicht von freiwilliger Gruppenarbeit und Nachbarschaftshilfe bis zur Eigenarbeit im privaten Haushaltsbereich oder der Tätigkeit in Bürgerinitiativen.

Der autonome Sektor gesellschaftlichen Engagements ist keineswegs eine Innovation der 1980-er Jahre. Er wurde lediglich als ein zentrales Instrument sozialpolitischen Engagements wiederentdeckt. Für viele Beteiligte war es die einzige Möglichkeit sich angesichts des drohenden Verfalls der Sozialstaatlichkeit aktiv einzubringen.

In allen Kulturen gibt es solche Traditionen zivilgesellschaftlichen Engagements. Darauf im Detail einzugehen, fehlt leider die Zeit. Aber der Blick über den Tellerrand hätte damals nicht geschadet und den immer mehr werdenden Aktivist:innen wesentliche Erkenntnisse liefern können.

Bezeichnend für dieses theoretische Unvermögen waren die parallel zum Wachstum des autonomen Sektors immer populärer werdenden Begriffe NPO und NGO. Das Definitionskriterium war ganz klar negativ ausgerichtet: NON Profit bzw. NON Government.

Das macht das Dilemma mehr als deutlich. Einerseits ist es eine klare Absichtserklärung, was man nicht sein will, andrerseits beschreibt es aber nicht, was man ist, sein möchte oder sein könnte.

Dass es Mitte der 1980-er Jahre zu einem massiven Wachstum des autonomen Sektors kam erklärt sich wohl aus dem Verlust des bis dahin mühsam austarierten politischen Gleichgewichts von Staat und Markt und um nochmals Matzner zu zitieren, der Sklerose der etablierten Institutionen.
Der autonome, dritte oder intermediäre Sektor, um nur die gebräuchlichsten Bezeichnungen zu verwenden wurde zum prioritären Betätigungsfeld der Alternativbewegung und erfasste sehr bald auch die Ränder der etablierten Volksparteien und Religionsgemeinschaften.

Sich sozial zu engagieren galt als wünschenswert. Sogar der marktwirtschaftliche Sektor war davon betroffen. Ein möglichst hohes Maß an „Corporate Social Responsibility“ sollte ein Wettbewerbsvorteil sein. Sozial war chic. Uncool, wer nur auf seinen Vorteil bedacht.

Die 1990-er Jahre waren von dieser Dynamik geprägt.

Der Sozialsektor wurde zu einem Motor der Beschäftigungsentwicklung. Was in der Produktion verloren ging, entwickelte sich neu im Dienstleistungssektor, nicht zuletzt auch, weil qualitative Standards geschaffen und viele Tätigkeiten professionalisiert wurden.

Österreich war diesbezüglich ein Nachzügler, der autonome Sektor und seine Professionalisierung waren wenig entwickelt. Deutschland hatte sich da schon lange klar festgelegt. Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips gab es einen gesetzlich fixierten Vorrang der Freien Wohlfahrtspflege.

Bei uns war es keine gesetzliche Verpflichtung, die für dessen Wachstum sorgte, sondern eine mutige und weitsichtige Maßnahme des damaligen Sozialministers Alfred Dallinger, einer Ausnahmeerscheinung in der österreichischen Politik.

Die von ihm initiierte „Aktion 8000“ zielte darauf, zusätzliche und kreative Arbeitsplätze für Jugendliche und Langzeitarbeitslose im Non-Profit Bereich zu schaffen.

Die meisten, eigentlich alle der heute versammelten Einrichtungen und Initiativen haben davon profitiert. Viele von uns zehren von der Erinnerung an Entwicklungen, die plötzlich möglich waren, nach dem Motto: „Make the impossible happen.“

Mit seiner visionären „experimentellen Arbeitsmarktpolitik“, wie sie retrospektiv oft bezeichnet wurde, schuf er die Voraussetzungen für einen gewaltigen Beschäftigungsimpuls, der weit größer war als die ursprünglich intendierten 8000 Arbeitsplätze.

Er setzte vor allem einen Innovationsschub in Gang, der entscheidend zur Professionalisierung des Sektors beitrug. Eine Gründerszene entwickelte sich und aus Initiativen wurden Startups.

Das verschwendete Kapital

Die österreichische Sozialwirtschaft wurde zu einem wichtigen Arbeitgeber und zu einem wesentlichen Element für den Wirtschaftsstandort Österreich, weil sie maßgeblich zu einem hohen Niveau an sozialer Stabilität beitrug.
Auch die Universitäten begannen sich für das Phänomen zu interessieren und sich in der weiteren Folge zu öffnen. Weiterbildungsangebote wurden entwickelt und neue Studiengänge entstanden. Um die Jahrtausendwende gelangten sogar die Pflegewissenschaften zu akademischen Ehren. Jahrzehntelang hatte man das in Österreich erfolgreich verhindert.

Auch die Akademisierung der Sozialarbeit ist in diesen Zusammenhang einzuordnen. Die Fachhochschulen für Soziales bieten mittlerweile eine herausragende Expertise an und sind zu einem wichtigen Impulsgeber für die Weiterentwicklung des Sektors geworden.

Die Entwicklung ging sehr schnell, weil sie die Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen befriedigte, gleichzeitig hinterließ sie viele offene Fragen.

Was waren die Akteure? Begonnen hatten sie als Initiativen oder als etablierte Vereine, die sich neuen Herausforderungen stellen wollten.

Waren sie jetzt Unternehmen? Nach welchen Prinzipien sollten sie geführt werden. Natürlich sollten das kosteneffizient sein, aber durften/sollten sie Gewinne erzielen? Und wenn, was geschah damit.

Sollten sie im Wettbewerb zueinanderstehen? Wenn ja, nach welchen Regeln. Sollte die Organisation als Verein wie bisher oder als GmbH geführt werden oder in Kombination?

Wie war ihr Verhältnis zur öffentlichen Hand? Waren sie Auftragnehmer bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben oder standen sie im Wettbewerb dazu? Welche Rolle spielten dabei parteipolitische Überlegungen?

Was unterschied den autonomen Sektor von privaten Dienstleistern in der Daseinsvorsorge?

Und nicht zuletzt das Verhältnis zu den Nutzer:innen der Dienstleistungsangebots. Sollte man von Leistungsempfänger:innen, von Klient:innen oder von Kund:innen sprechen?

Viele solcher Fragen standen in dieser Boom-Phase im Raum.

Und es gab keine eindeutigen Antworten. Klar war lediglich, dass eine ziemliche Dynamik dahinterstand und ganz Europa, das Vereinigte Königreich vielleicht ausgenommen sich in diese Richtung entwickelte.
Sozial war attraktiv und es war mit der Vorstellung verbunden, dass die Menschen bei seiner Umsetzung auch beteiligt sein sollten, der Enthusiasmus war allgegenwärtig.

Vereinzelt kam es auch zu Kooperationen der unterschiedlichen Vereine und Initiativen. Oft hing das mit dem Fördergeber zusammen. Auch wurde eine Bundesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrt gegründet, bei der die etablierten Träger unter sich blieben.

Die oö. Sozialplattform ist meinem Wissen nach der einzige gelungene Versuch, den gesamten Sektor zu umfassen.

Ein wichtiger Meilenstein war auch die 1997 erfolgte Gründung der BAGS (heute Sozialwirtschaft), die sich eine Konsolidierung der Beschäftigungsverhältnisse zum Ziel setze. Dies gelang, sehr zum Missfallen einiger Bundesländer schließlich 2003 mit dem Abschluss eines bundesweiten Kollektivvertrags. Ein drohendes Lohndumping konnte verhindert werden.

Aus heutiger Sicht ist zu bemängeln, dass es keine öffentliche Diskussion gab, wie und wohin sich der neue Sektor entwickeln sollte.

Ein bisschen vielleicht im akademischen Bereich, aber die staatlichen Stellen, ob Bund oder Länder hielten sich teilnahmslos zurück.

Die Träger aber waren mit sich selbst beschäftigt, standen untereinander im Wettbewerb und manche inszenierten sich selbst gerne als „role models“.

Potential für eine breite, eine breitere Öffentlichkeit miteinbeziehen

Diskussion über die Perspektiven hätte es sehr wohl gegeben. Das zeigte das Sozialstaatsvolksbegehren, das zu einem Zeitpunkt stattfand, wo die Regierung Schüssel grundsätzliche Änderungen in Richtung „Mehr Privat“ anvisierte. 717 000 besorgte Bürger:innen unterstützten die Forderung, den Sozialstaat als Verfassungsprinzip festzuschreiben und bei allen künftigen gesetzlichen Vorhaben eine Sozialverträglichkeitsprüfung durchzuführen.

Ob das heute noch gelingen würde, wage ich zu bezweifeln.

Vom Sozialunternehmen zur Ich-AG

Die politische Großwetterlage hat sich seit der Jahrtausendwende grundsätzlich geändert. Noch im März 2000 versammelten sich die Staats-und Regierungschefs der Europäischen Union und beschlossen in ihrer Lissabon-Strategie großmundig die EU bis 2010 zur globalen Nr.1 zu machen. Wissen und Innovation sollten dazu beitragen „ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erreichen.“

Auf dieser Strategie basierte die noch im gleichen Jahr beschlossene Sozialagenda. In diesem Zusammenhang wurde auch heftig diskutiert, ob und in welchem Ausmaß die Leistungen der Daseinsvorsorge, im Konkreten „Soziale Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ dem Regelwerk des Binnenmarktes unterliegen. Die Komplettierung des Binnenmarktes hätte im Extremfall eine vollständige Privatisierung des Dienstleistungssektors bedeuten können. Dem stand zwar das Subsidiaritätsprinzip entgegen, aber letztlich ging es auch um die Definition was eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt. Die ursprüngliche und theoretisch immer noch vorhandene Möglichkeit den Sektor auszunehmen und für ihn eine spezifische EU-weite Regelung vorzunehmen wurde nicht ergriffen. Das stärkte im Effekt den Marktmechanismus und erschwerte die gewünschte Gemeinwohlorientierung.

Nicht nur, weil sich sehr unterschiedliche nationale Modelle gegenüberstanden. Vor allem weil globale politische Veränderungen in Gang kamen. Der Sozialstaat war nicht mehr „in“, es zählten die Märkte und deren Logik.

Womit wir wieder beim „Blatcherismus“ sind. Tony Blair und Gerhard Schröder hatten im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament 1999 ein gemeinsames Papier verfasst und ihre Schwesterparteien eingeladen, sich dem anzuschließen. Hier findet sich schon alles, was auch noch gegenwärtig durch die Presseaussendungen der neoliberalen Think Tanks geistert: Eigenverantwortung fördern, Belastung durch Lohnnebenkosten senken, Stärkung des Niedriglohnsektors, Soziale Sicherheit als Sprungbrett in die Eigenverantwortung, private Pensionsversicherung usw. usf.

Das Papier stieß auf heftige Kritik, aber Schröder ließ sich nicht beirren und baute darauf seine Agenda 2010 auf. Ein paar Begriffe, die seine Kanzlerschaft überlebt haben und noch heute Verwendung finden: Hartz IV, „Fordern und Fördern“ oder die Ich-Ag, die es sogar zum Unwort des Jahre 2002 geschafft hat

Auf europäischer Ebene schwand die anfängliche Überzeugung, dass der soziale Zusammenhalt ein wesentlicher Pfeiler des Gemeinsamen Europas sein sollte.

Mit einer Zeitverzögerung setzte sich auch bei uns durch, was sich global schon mit dem Washington Konsens abgezeichnet hatte: Drosselung der Staatsausgaben, Deregulierung und Privatisierung öffentlicher Einrichtungen. Finanzkrise.

In den USA waren die gesellschaftlichen Folgen dieser Politik bereits spürbar. Robert Putnam beschrieb schon 2000 in seiner vielzitierten Studie „Bowling Alone“ am Beispiel des Vereinswesens den Niedergang der amerikanischen Zivilgesellschaft und das Schwinden des Sozialkapitals. Gerade in den einstmals blühenden Vorstädten, der einstigen Mitte Amerikas, hätten sich die Menschen in die Individualität zurückgezogen und würden sich auf ihr Ego konzentrieren. Dieser Trend verbreitete sich in der ganzen westlichen Welt.

Alle sind wir in unterschiedlicher Form zu Ich-AGs geworden. Ob wir das wollen oder nicht, man erwartet es von uns. Selbstoptimierung heißt die neue Bürgerpflicht. Es ist populär geworden, sich über Empathie lustig zu machen. Das Zusammenleben ist zum Wettbewerb verkommen. Kümmere Dich um Dich selbst tönt es aus allen Ecken. Es geht nicht mehr darum, die/den anderen zu verstehen. Härte ist angebracht, sich selbst und den anderen gegenüber. Strafe statt Hilfe, Kontrolle und Disziplinierung statt Integration.

Loic Waquant hatte schon früh darauf hingewiesen, das mit dem Zerfall der sozialen Sicherungssysteme in den USA gleichzeitig die Ausgaben für das (privat betriebene) Gefängniswesen anstiegen.

Die durch die marktradikale Politik gesteigerte Ungleichheit wird nicht mehr wie ehedem durch soziale Integration abgefangen und gemildert. Das Gefängnis wird zum sozialen Instrument und dient als Aufbewahrungsanstalt für alle, die nicht mehr integrierbar sind. Tendenzen in die geschilderte Richtung sind mittlerweile auch in Europa unübersehbar. Vor allem im Migrationsbereich geschehen Dinge, die vor einigen Jahren noch undenkbar waren.

Was bedeuten diese Entwicklungen für den autonomen Sektor, dessen Entstehen und Wachstum ich heute so positiv beschrieben habe.

Nichts Gutes, um es kurz zu fassen.

Die Welt ist in einem dramatischen Umbruch. Wir steuern auf eine Klimakatastrophe mit unvorhersehbaren sozialen Auswirkungen zu. Diese können nur dann gemeistert werden kann, wenn alle an einem Strang ziehen. Davon sind wir weit entfernt. Die politischen Rahmenbedingungen sind instabil, alles verändert sich und viele der Akteure auf der globalen Ebene rauben einem den Schlaf. Prognosen sind angesichts dieser Polykrise schwierig.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Sozialbereich schwer unter Druck gerät. Die Probleme, die es zu lösen gilt, werden zunehmen und die finanziellen Mittel werden nicht mehr. Vor allem die Frage, wem Hilfe zusteht wird politisiert werden und die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte in Frage gestellt.

Es wird nicht leicht sein dagegen zu halten. Gerade, aber jetzt ist die Zivilgesellschaft gefragt. Aufrecht und aufrichtig bleiben heißt das Gebot der Stunde. Klingt nicht sehr optimistisch.

Aber ich halte mich an einen bemerkenswerten Satz, der Stefan Zweig zugeschrieben wird: „Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, können das Gesicht der Welt verändern.