Referat bei der Jahreshauptversammlung von AIACE in Bad Ischl, 25.6.2025

Ich habe mich sehr über die Einladung gefreut, heute zu einem ganz besonderen Publikum sprechen zu dürfen – 30 Jahre nach dem EU-Beitritt – zu Menschen, die Europa maßgeblich geprägt haben. Ich sage jetzt bewusst nicht, die in Brüssel „die Interessen Österreichs“ vertreten haben.

Oder vielleicht sollte ich es doch? Zum Funktionieren Europas maßgeblich beizutragen, müsste ja eigentlich das zentrale Interesse Österreichs sein. Und ich kenne einige unter Ihnen/unter Euch, die ganz vorne mit dabei waren. Leider haben das in Österreich viel zu wenige mitbekommen.

Hierzulande ereifert man sich lieber über bürokratische Exzesse, die der Brüsseler Bürokratie wesenseigen wären.

30 Jahre nach dem Beitritt gab es zwar offizielle Festakte und die dazugehörenden obligatorischen Lippenbekenntnisse, Euphorie kam freilich kaum auf. Muss ja auch nicht sein .…..

Aber eine kritische Reflexion, was sich durch diesen richtungweisenden Schritt seit 1995 alles verändert hat, wäre auf jeden Fall angebracht gewesen. Man hätte auch über die Winnings reden, oder im Sinne einer in Österreich leider nicht sehr populären Fehlerkultur verpasste Chancen reflektieren, können.

Statt sich der notwendigen Diskussion zu stellen, verfallen wir lieber in eine unverbindliche Raunzerei. Die EU ist für die meisten Menschen in Österreich noch immer ein unbekanntes Wesen, ein Fabeltier, dem man nicht zu nahekommen sollte. Allerlei Schauergeschichten sprießen im Dickicht der Ignoranz. Die Coronajahre haben wie ein Flüssigdünger gewirkt. Nicht nur in Österreich.

Alles Theater

Rationale Argumente werden hierzulande gerne überhört. Es zählt nicht so sehr was man sagt, sondern wie man es sagt. Die Bühne ist des Österreichers liebste Institution: Inszenierung statt Argumente. Das zeigt vor allem dann Wirkung, wenn die Menschen sich unsicher fühlen. Das Ja der Österreicher: innen zu Europa vor 30 Jahren war klar und eindeutig, für manche aber auch eine im letzten Augenblick getroffene Gefühlsentscheidung. Mit dem Beitritt begann die ursprüngliche Dynamik abzuebben, die politische Aufmerksamkeit wendete sich anderen Themen zu und vor allem verloren viele, auch mangels einer oft ungenügenden Erklärung der Vorgänge auf europäischer Ebene die Orientierung und wurden zunehmend unsicher.

Es ist bezeichnend, dass Österreichs einflussreichste Tageszeitung dieser zunehmenden Stimmungslage eine eigene Bühne eröffnete. In den „Leserbriefen zum EU-Theater“ konnten sich selbsternannte und ferngesteuerte „Wutschreiber“ austoben. Sie bestimmten fortan
maßgeblich das Framing das die Diskussion über europäische Angelegenheiten hierzulande bestimmen sollte. Ähnliches passiert auch in anderen Mitgliedstaaten.

Großbritannien ist ein dramatisches Beispiel dafür, wohin die Banalisierung politisch komplexer Sachverhalte durch die Boulevardpresse führen kann. Boris Johnson, der das Vereinigte Königreich 2020 aus der EU führte, startete seine Karriere in Brüssel, als oberflächlicher und faktenbefreiter Kolumnist des „Daily Telegraph“, der im Stil eines Mr. Bean agierte. Das Bürokratiemonster im Berlaymont erregte seine Fantasie. Alles würde von dort reguliert, sogar die Größe der Kondome.

Wer kennt sie nicht, die vielen fake-stories, die auf dem Spielplan des von der Yellow Press inszenierten „EU-Theaters“ stehen: Gurkenkrümmung, Windeln für Almkühe, Breite der Traktorsitze, Farbe der Pommes usw. usf. Aber, wem erzähle ich das? Sie waren diesem Irrsinn unentwegt ausgesetzt und mussten sich für etwas rechtfertigen, das mit Ihrer Arbeit nichts zu tun hatte.

Diese absurde Verzerrung der Realitäten ist der Kern des Problems. Nicht nur, weil es unfair und ungerecht ist.

Die Theatralisierung der Vorgänge auf europäischer Ebene eröffnet der Innenpolitik ein neues Spielfeld. Jeder Mitgliedstaat hat sein eigenes EU-Theater mit landesspezifischen Themen und selbsterklärten Freiheitshelden, die ihre Scheingefechte führen. Das lähmt nicht nur die jeweilige Innenpolitik, weil es von den zu lösenden Problemen ablenkt. Statt ´evidence-based policy-making´ gibt es dann in der nationalen Europapolitik ‚policy-based evidence-making‘. Die Blockade des Schengen Beitritts Bulgariens und Rumänien ist eines von vielen trauriges Beispielen.

Das Überhandnehmen solch symbolpolitischer Aktivitäten trägt maßgeblich zur Instabilität der europäischen Institutionen bei. Das vertraglich festgelegte Procedere, wonach Entscheidungen durch regelbasierte Kommunikation auf der Basis von einzuhaltenden Vereinbarungen zustande kommen, wird auf diese Weise systematisch ausgehebelt. Die deliberative Substanz geht verloren, stattdessen zählen Inszenierung und Performance.
Zuviel Theater zerstört aber die Glaubwürdigkeit der europäischen Demokratie, noch dazu, wenn sich das Ganze auf 27 Bühnen mit unterschiedlichen Spielplänen abspielt.

Europa ist weit mehr als der „Eurovision Song Contest“, der alljährlich Millionen Europäer:innen vor den TV-Geräten vereint.

Was fehlt ist eine europäische Öffentlichkeit, wo die zentralen Themen unserer Lebensgrundlagen, unter Miteinbeziehung möglichst vieler, für Entscheidungen aufbereitet werden, die dann auch die Akzeptanz der nationalen Akteure finden.

Davon sind wir weit entfernt, sehr weit.

Was wir jetzt brauchen ist eine gemeinsame Vision von Europa. Eurovision ist zu wenig. Europa steht an einem, möglicherweise historischen Wendepunkt.

Die EU im Krisenmodus

Einerseits tun sich in vielen Bereichen Risse auf, die längerfristig den Bestand der Union gefährden. Ein Schengen Abkommen würde man unter den gegenwärtigen Umständen wohl nicht mehr zuwege bringen. Die Euphorie der 90-er Jahre ist verflogen, mittlerweile gibt es politische Mehrheiten in einzelnen Mitgliedsstaaten, die die Grundsätze der liberalen Demokratie vorsätzlich aushebeln. Es wäre einen Versuch wert zu überprüfen, für welche Mitgliedstaaten die berühmten Kopenhagen Kriterien überhaupt noch vollinhaltlich gelten. Nicht nur im Osten Europas.

Parallel zu dieser inneren Erosion des Selbstverständnisses ist die Europäische Union seit geraumer Zeit systematischen Attacken von außen ausgesetzt. Hackerangriffe, Desinformation, Informationsmanipulation und Cyber-Kampagnen gehören mittlerweile zum alltäglichen, sich ständig wiederholenden Instrumentarium, mit dem der Kreml mit steigender Intensität und wachsendem Erfolg Einfluss auf die europäische Politik nimmt. Die europäische Wertegemeinschaft wurde zum Sinnbild für Dekadenz erklärt und daher zum erklärten Feindbild. Es geht nicht mehr, wie zu Gorbatschows Zeiten um die Zugehörigkeit zum „Gemeinsamen Haus Europa“, sondern um Eurasien und die damit verbundene geopolitische Dominanz der Russischen Welt, „Ruski Mir“.

Seit dem provozierenden Auftritt Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, dem ein Jahr später die russische Intervention in Georgien folgte sind die Fronten klar:

Die EU muss destabilisiert werden – um jeden Preis.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass es fast 20 Jahre später wiederum eine Münchner Sicherheitskonferenz war, bei der die USA eine radikale Korrektur ihres Verhältnisses zu Europa ankündigten. Diesmal war es nicht der Präsident, sondern sein Vize. Umso bedrohlicher aber, weil jener wusste, wovon er sprach. Gilt er doch als Garant dafür, dass das „Project 2025“, das die USA fundamental verändern soll, auch tatsächlich umgesetzt wird. Vance’s Auftritt war beleidigend, hinterließ Kopfschütteln und machte klar, Europa muss sich darauf vorbereiten, auch ohne Amerika auszukommen.

Die zunehmend unberechenbare (Trumps Zollchaos) und an singulären, oftmals irrationalen Kapitalinteressen ausgerichtete Wirtschaftspolitik (Tech Bros) belastet die eingespielten transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen bereits jetzt außerordentlich. Vance attackierte aber auch das europäische Gesellschaftsmodell als „woke“ und warnte vor Brandmauern gegenüber rechtsextremistischen Parteien. Auch wenn er später seine Aussagen herunterspielte und sich versöhnlich zeigte, ist unübersehbar, dass Europa nicht mehr nur als wirtschaftlicher Konkurrent, vielmehr als feindliches Gesellschaftsmodell betrachtet wird.

Europas globale Rolle

Wir sind an einem historischen Wendepunkt angelangt. So wie bisher wird es nicht mehr weitergehen. Die alten Metaphern, an denen man sich orientieren konnte, haben ausgedient. Weder das „Gemeinsame Europäische Haus“ noch die „Atlantik-Brücke“ helfen weiter.

Wir sind auf uns allein gestellt. Nicht mehr als rivalisierende Nationalstaaten wie vor 150 Jahren, sondern als ein gemeinsamer Interessenverband „verfreundeter“ Nachbarn müssen wir unsere globale Positionierung neu bestimmen. Gelingt uns das nicht, dann werden wir zum Spielball der sich neuformierenden globalen Mächte.

Eine wichtige Rolle spielt dabei die Regelgebundenheit unserer internationalen Beziehungen: also Verträge und keine Deals. Auch die Legitimität der politischen Akteure ist essenziell:

Demokratien auf der Basis von Gewaltenteilung und der Achtung der Menschenrechte sind langfristig berechenbarer als Diktaturen, wo das Recht des jeweils Stärkeren gilt. Eine stabile Wirtschaft braucht solche Berechenbarkeit.

Europas geopolitische Orientierung muss sich zuallererst um die Kooperation mit solchen Staaten bemühen. Das sind nicht nur Kanada, Australien und Neuseeland, oder Japan und Südkorea. Viele Staaten ringen um ihre Orientierung und die demokratischen Elemente würden auf diese Weise Auftrieb erhalten. Vor allem in Lateinamerika gibt es dafür viel Potential.

Ich frage mich auch, warum es so lange gedauert hat, bis die EU einen strategischen Dialog mit dem bevölkerungsreichsten Staat der Erde, mit Indien gestartet hat. Ein sehr wichtiger Schritt, weil er auf Augenhöhe stattfindet. Solche Entwicklungen würden viel mehr Aufmerksamkeit verdienen.

Schwieriger wird es sein mit China in einen offenen Austausch zu kommen. Mit seinem Konzept der Seidenstraße verfolgt es ein auf langfristige Dominanz ausgerichtetes geopolitisches Konzept und hat sich auch ohne wenn und aber gegen jegliche Form von liberaler Demokratie positioniert. Andrerseits werden aber, zumindest formaliter die Prinzipien des Multilateralismus akzeptiert. Das eröffnet immerhin eine Gesprächsbasis. Neben den aus gegenwärtiger Sicht schwer zu überwindenden Gegensätzen gibt es auch gemeinsame Schnittmengen, wie etwa beim Klimaschutz.

Grundsätzlich gilt es die „strategische Autonomie“ Europas, wie es Macron nannte, neu auszutarieren. Vor allem was das Verhältnis zu den USA betrifft. Die im Spannungsbogen der apokalyptisch aufgeladenen „Tech Bros“ stehenden MAGA Isolationisten verfolgen singuläre Interessen und sonst nichts. Ganz im Sinne des von Peter Thiel hochgeschätzten Staatsrechtlers Carl Schmitt: Wer Menschheit sagt, der will betrügen.

Es wäre daher verfehlt, darauf zu warten, welche (wohl untergeordnete) Rolle das verfemte Europa aus deren Sicht schlussendlich einnehmen soll.
Vielmehr liegt es in unserer strategischen Autonomie Fakten zu setzen. Das wird auch eine wichtige Entscheidungsgrundlage für jene Kräfte in den USA sein, die mit den gegenwärtigen Entwicklungen nicht einverstanden sind. Noch ist unklar in welche Richtung diese treiben werden.
Aber es sollte uns klar sein: wir dürfen diese historische Krise unseres traditionell engsten Verbündeten nicht ungenutzt lassen. Wir müssen alles daransetzen, daraus zu lernen. Eine Erkenntnis, die sich geradezu aufzwingt: sich blind auf den anderen zu verlassen ist auf Dauer riskant. Eine Partnerschaft, Freundschaft, wie immer man das auch nennen mag ist nur dann stabil, wenn beide Seiten genug Potential zur Selbständigkeit aufweisen. Eine zentrale Frage ist dabei auch die Frage der Verteidigungsfähigkeit. Eine schwierige, sehr schwierige Frage, die man sicherlich nicht auf die Weise lösen kann, dass man sich beide Hände vor die Augen hält.

Will man die globale Rolle Europas neu bestimmen oder nachschärfen, dann dürfen wir zwei Problembereiche nicht aus den Augen verlieren. Unser Verhältnis zum afrikanischen Kontinent und das zum Nahen Osten.

Beide Regionen befinden sich in einer dramatischen Situation, Krieg und Terror sind auf der Tagesordnung, „failed states“ der Regelfall.
Afrika leidet noch immer unter den Auswirkungen der europäischen Kolonialherrschaft.

Das Vertrauen in Europa ist daher auch nicht sehr groß. Das hängt auch damit zusammen, dass die gegenwärtigen Beziehungen einseitig von europäischen Interessen bestimmt und ökonomisch betrachtet durchaus gewinnbringend sind. Dies geht zu Lasten der lokalen Bevölkerung, deren Lebensgrundlagen durch kurzfristiges Gewinnstreben zerstört werden. Dies wiederum ist ein auslösendes Moment für lokale Konflikte und insgesamt ein wesentlicher Push-Faktor für Migrationsbewegungen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf, der zu einer kompletten und nachhaltigen Neuausrichtung unserer Politik auf dem afrikanischen Kontinent führen muss.

Ähnliche Effekte kennen wir aus dem Nahen Osten. Nicht zuletzt auch als Folge einer inkohärenten, an kurzfristigen Benefits ausgerichteten Politik. Der von den USA initiierte Irakkrieg und der mangels Unterstützung gescheiterte Arabische Frühling führten zu einer Destabilisierung der Region wie es das seit langer Zeit nicht mehr gegeben hat. Europa hielt sich vornehm zurück, obwohl es zu Beginn Unterstützung signalisierte. Das Europäische Parlament hatte 2011 den Aktivist:innen des Arabischen Frühlings noch den Sacharow Preis verliehen. Es blieb bei diesen symbolischen Gesten. Die Mitgliedstaaten verfolgten ihre eigenen Interessen in der Region. Es gab wenig Gemeinsamkeiten. Erst mit dem Einsetzen der „Flüchtlingswelle“ 2015 begann man den Ernst der Lage zu erkennen. Der Türkei-Deal war ein vergeblicher Versuch die selbstverschuldete Entwicklung zu stoppen.

Seit 10 Jahren agiert man nun hilflos dahin. Das Thema Migration bestimmt immer noch die politischen Debatten. Die Destabilisierung hat auf diese Weise auch Europa erfasst.

Ohne eine gemeinsame Politik, die das Problem an den Wurzeln zu lösen versucht werden wir da nicht herauskommen. Der Nahe Osten ist einfach zu nahe, als dass man sich da herausschwindeln kann. Europa kann es sich nicht leisten weiter abseitszustehen.

Diese Rolle zu bestimmen ist eine der schwierigsten Aufgaben, die vor uns liegen. Gerade mit der Lösung scheinbar unlösbarer Probleme ist Europa aber immer wieder gewachsen.

Wir sollten aber auch nicht vergessen, dass Europa keineswegs ein einheitlicher Block ist. Zum einem gibt es Staaten, die nicht Mitglied der EU sind, zum anderen gibt es auch große Unterschiede, was die Rechtsstaatlichkeit betrifft.

Vor allem wirkt immer noch die Ost-West Teilung Europas aus der Zeit des Kalten Krieges nach, im Besonderen die arrogante und herablassende Behandlung der endlich in Freiheit lebenden Menschen. Das lässt sich sehr gut im Osten Deutschlands studieren.

Auch das Verhältnis zur Türkei bedarf einer Neuausrichtung.

Ein neuer Anlauf

Niemand bezweifelt, dass sich die Welt im Krisenmodus befindet. Wir leben in Zeiten der Polykrisen und sogar ein finaler Big-Bang als Folge, der sich abzeichnenden Klimakatastrophe ist denkmöglich. So hat sich Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ sicherlich nicht vorgestellt.
Wir leben in einem historischen Moment, der eine europäische Antwort erfordert.

Seit dem Amtsantritt Donald Trumps höre ich von vielen, auch von Menschen, von denen ich das nicht erwartet hätte: „Jetzt brauchen wir Europa.“ Die wenigsten sind aber davon überzeugt, dass dies auch passieren wird.

Eigentlich stört mich das nicht. Wenn man etwas in Angriff nimmt, dann ist der Zweifel allemal erfolgversprechender als unreflektierte Siegesgewissheit.

Und es gibt gute Gründe diesen Neustart zu fordern. Aus globaler Perspektive auf jeden Fall. Darüber habe ich mich ja schon ausführlich geäußert.

Die Erneuerung Europas könnte aber auch eine Blaupause für andere „global player“ sein. Die bisherigen Erfolge der EU und derer gibt es nicht wenige sind der Beweis dafür, dass es möglich ist aus Fehlern zu lernen.

Angewandte Fehlerkultur heißt, die Verantwortung nicht obsessiv auf andere zu übertragen, sondern bei sich selbst anzufangen, so entsteht Vertrauen. Nur wenn Nationen einander vertrauen können, sind sie in der Lage Gemeinsames zu wagen. Probleme und Krisen waren also per se keine Störfaktoren vielmehr der Rohstoff für einen in Europa bislang unbekannten supranationalen Lernprozess. Wie sagte schon Jean Monnet:

„Europa wird in seinen Krisen gemacht und es wird die Summe der Lösungen sein, mit denen diese Krisen überwunden werden.“

In der Fachliteratur ist deswegen auch von „Europe failing forward“ die Rede.

Vielleicht klingt das alles zu positiv. Es trifft meiner Meinung aber den Kern der Sache und widerlegt eindrucksvoll die pessimistische Sichtweise, wonach man aus der Geschichte nichts lernen könne. Viele von Ihnen werden mit mir übereinstimmen. Die Mehrheit der Bevölkerung sieht das aber nicht so. Einmal sind diese Zusammenhänge wenig bekannt. Zum anderen folgt das von den Medien geförderte Politikverständnis generell anderen Sujets. Da geht es darum, sich als möglichst „tougher trouble shouter“ zu präsentieren. Wenn es keine Probleme gibt, dann muss man sie herbeireden und Zwischentöne sind sowieso zu kompliziert. Erfolgreich sind die, die Fragen oberflächlich beantworten oder ihnen ausweichen. Dieses Politikverständnis nimmt immer mehr überhand.

Schon lange geht es nicht mehr um die wirklichen Fragen. Das lässt sich in den einstmals blühenden Industriegegenden überall auf der Welt studieren. Die Menschen werden durch abstruse Inszenierungen, wie gegenwärtig in den USA als Erfüllungsgehilfen einer Politik missbraucht, der es eigentlich nur um Disruption und Zerstörung geht.

Wenn es um die europäische Ebene geht, wird das alles noch schwieriger, weil allen Themen und Projekten, die mit Brüssel, mit „der EU“ zu tun haben, von vornherein gleich einmal mit Skepsis und Ablehnung begegnet wird. Das ständige EU-Bashing hat sich ausgezahlt.

Ein Neustart des europäischen Projekts, man kann es auch Erneuerung nennen, wird unter solchen Umständen nur schwer möglich sein.

Jetzt geht es darum die Erfahrungen dieser nationalen Öffentlichkeiten zu europäisieren. Würden die Menschen vergleichen können, wie und mit welchen Motiven in anderen Mitgliedstaaten EU-Bashing betrieben wird, sich Informationen zum Teil diametral widersprechen und vor allem aber auch die positiven Effekte der EU erkennen können, dann würde sich vieles ändern. Das Brexit -Desaster war so eine Lernerfahrung. Seine fatalen Auswirkungen wurden europaweit von einer breiten Mehrheit registriert und führten zu einer Korrektur europapolitischer Positionen auf nationaler Ebene. Vom ÖXIT ist keine Rede mehr.

Wie kann es also gelingen, diese Erfahrungen in einem gemeinschaftlichen, transnationalen Rahmen zu setzen?

Sicherlich nicht nach dem Motto: Weiter so. Bisher war es vor allem jene, die auf der europäischen Ebene tätig waren, also Menschen wie Sie und ich, von denen die Initiative ausging.

Manches Mal erfolgreich – zumindest in Ansätzen wie beim Verfassungskonvent vor zwei Jahrzehnten.

Der gutgemeinte Versuch einer „Konferenz zur Zukunft Europas“ in der vergangenen Legislaturperiode, der die Einbindung der nationalen Parlamente, regionaler Akteure, Sozialpartner und der Zivilgesellschaft und sogar Bürgerdialoge vorsah, brachte nicht den erwarteten Aufbruch. Es gab zwar viel Übereinstimmung und die Ergebnisse konnten sich durchaus sehen lassen. Allerdings erfolgte kein Follow-Up durch die Mitgliedsstaaten. Und überhaupt gab es recht wenig Resonanz. Das hängt vor allem damit zusammen, dass dieser Prozess top-down erfolgte.

Ein Neubeginn muss anders aussehen. Er kann nicht von oben herab verordnet werden, wie das im November 2018 symbolhaft beim „European Balcony Project“ von Ulrike Guèrot und Robert Menasse geschah, als von 70 Balkonen über ganz Europa verteilt, mit einem Manifest die Europäische Republik ausgerufen wurde.

Auch dieser Versuch, Veränderung zu inszenieren scheiterte.

Wir brauchen eine Europäische Öffentlichkeit

Der ersehnte Neustart Europas ist eben kein „neues Stück“, das auf einer Bühne beginnt. Er kann weder von oben herab dekretiert noch inszeniert werden. Die Menschen, vor allem jene die nicht Teil des etablierten Politikbetriebs sind müssen miteinbezogen werden.

„Tua res agitur“ heißt das bei Horaz. Um Deine Dinge geht es.

Das machte auch den Erfolg des europäischen Projekts aus. Die EWG hatte das Leben der einfachen Bevölkerung entscheidend verbessert. Vor allem die alltägliche Erfahrung, dass es viel mehr Sinn macht, miteinander Handel zu betreiben als gegeneinander Krieg zu führen.

Für Viele machte die schon in den Römischen Verträgen (1957) vorgesehene Personenfreizügigkeit Europa erst erlebbar und der Kampf um ihre vollständige Implementierung den Wunsch nach mehr Europa nachvollziehbar. Solche Beispiele ließen sich genug finden.

Das Erlebnis Europa, wenn ich das so nennen darf, hatte etwas mit den alltäglichen Erfahrungen der Menschen zu tun. Europa brachte einen spürbaren Mehrwert und war auf diese Weise begreifbar. Es entwickelte sich unspektakulär aus der immer häufiger gelingenden gemeinschaftlichen, das heißt nicht-nationalstaatlichen Bewältigung von Herausforderungen.

Es brauchte keinen feierlichen Gründungsakt, die Logik des Durchwurstelns, „Muddling Through“ war viel wirksamer. Häufig war es „Piecemeal Engineering“, das auf der Logik von „Trial and Error“ den europäischen Prozess vorantrieb. Im Sinne Karl Poppers irrten wir uns nach vorne. Eine sehr erfolgreiche Strategie, weil sie ergebnisoffen passierte.

Diese Erfolge sind oft aber auch schwer vermittelbar, weil sie in ihrer Komplexität nicht so einfach einem Stakeholder zugeordnet werden können. Im Politikbetrieb lässt sich das nicht gut verkaufen. Da gilt: Ich mach das für Euch.

Diktatoren und Oligarchen können schon gar nichts damit anfangen, wenn nicht geliefert wird, was sie wollen. Da wird man schnell zum erklärten Feind.

Europa hat viel vorzuweisen und natürlich hat jeder Erfolg auch seine Schattenseiten. Viele können mit dieser Binsenweisheit nichts anfangen und wünschen sich einfache Erklärungen. Gerade wenn es um trans- bzw. supranationale Vorgänge geht ist das aber nicht möglich.

Wir brauchen eine europäische Öffentlichkeit, einen Diskursraum wo sich jede/jeder einbringen kann und die Informationen für alle niederschwellig und frei zugänglich sind. Nur dann lassen sich die Vorgänge auf europäischer Ebene auch nachvollziehen und bewerten.

Zurzeit existieren noch immer feinsäuberlich getrennte nationalstaatliche Öffentlichkeiten, die gleichsam wie ein Filter die Europäischen Angelegenheiten selektieren. Mangels transnationaler Listen bei den Europawahlen trifft das weitgehend auch auf das Parlament zu.
Eine europäische Öffentlichkeit gibt es nur in Ansätzen, einerseits Menschen in den thematisch befassten Institutionen, einzelnen Medienformaten, deren Wirkung aber in erster Linie darin besteht, ob und welche Themen von den nationalen Presseorganen aufgegriffen werden und nicht zuletzt aus einer gut informierten und meist hochmotivierten Fachöffentlichkeit.

Das wird auf Dauer zu wenig sein. Wie können wir diesen Stillstand überwinden und erreichen, dass europäische Themen europaweit diskutiert werden und sich deutlich mehr Akteure in die Debatte einbringen?

Das hängt zum einen davon ab, wie die öffentliche Sphäre auf europäischer Ebene beschaffen ist. Die europäischen Institutionen sind ein wichtiger Faktor und sie sind auch in den Mitgliedstaaten vertreten. Wichtig wäre, dass sie eine aktivere Rolle spielen, wie das beispielsweise Martin Selmayr unterstützt von Paul Schmidt mit der EU-Zukunftsradtour 2022 quer durch Österreich versuchte. Ein gelungenes Beispiel, wie man auf die Menschen proaktiv zugehen kann.

Vor allem aber müssen neue mediale Zugänge erschlossen werden. Die sozialen Medien sind zum bevorzugten Instrument der Anti-EU Desinformationskampagnen geworden. Dem wird wenig entgegengesetzt.
Es ist verwunderlich, dass diese gerade bei Menschen mit migrantischem Hintergrund wirken, wie beispielsweise bei der Wahl des rumänischen Präsidenten. Ein Großteil der Diaspora fühlte sich nicht wertgeschätzt. Dieser negative Eindruck überwiegt, weil er politisch bearbeitet wird. Die positiven Erfahrungen gehen unter, weil es keine politische Öffentlichkeit dafür gibt.

Das hängt vor allem aber auch damit zusammen, dass es so gut wie keine in Europa basierte Social-Media-Plattformen gibt. Was das bedeutet, vor allem was die Algorithmen betrifft lässt sich am Beispiel des Brexit studieren. Seit Elon Musk Twitter übernommen hat sind diese Gefahren noch evidenter. Hier besteht akuter Handlungsbedarf.

Ebenso bei der Auswahl der Themen. Die bisherige Diskussion fokussiert oft auf Nebenaspekten, die auf den nationalen Bühnen aufgeworfen werden. Meist haben sie eine negative Konnotation, wie zu viel Regelung, zu viel Bürokratie. Darüber sollte man natürlich diskutieren. Aber man darf dabei nicht den Blick aufs Ganze verlieren.

Die zentralen Fragen, wie der drohende Klimakollaps oder wie wir kriegerische Auseinandersetzungen verhindern, ein lebenswertes Leben für die breite Masse ermöglichen und individuelle Entfaltungsmöglichkeiten sichern brauchen eine europäische Antwort. Im nationalstaatlichen Rahmen lässt sich das nicht bewerkstelligen.

Ohne die EU geht’s nicht – Die Fragen der Zukunft

Dafür gibt es das in den Verträgen vorgesehene und gut eingespielte Procedere mit unterschiedlichen Ergebnissen. Es ist auch bei weitem nicht alles misslungen, wie das auf den Provinzbühnen permanent dargestellt wird, von den Kellertheatern will ich gar nicht reden.

Denken wir ein paar Jahre zurück. Landauf, landab wurde das Ende des Euro verkündet. Sogenannte Top Ökonomen übertrafen sich in der Düsternis ihrer Prognosen.

Vom einem notwendigen GREXIT war die Rede. Noch zu einem Zeitpunkt übrigens, wo sich bereits die epochalen Fluchtbewegungen abzeichneten.
Zehn Jahre danach sieht es ganz anders aus. Der Euro ist ein Stabilitätsfaktor und Griechenland ist im Gegensatz zu anderen Mitgliedstaaten momentan auf Wachstumskurs.

Natürlich kann sich das alles wieder ändern. Aber dieses Beispiel zeigt, dass Europa etwas bewegen kann, wenn es nur will.

Eigentlich sollte uns das stolz machen. Warum ist dieses Beispiel kein Thema auf den Stammtischen? Damals war es das ja schon, so in dem Sinn: „…und jetzt will ausgerechnet ein Italiener den Euro retten.“

„Whatever it takes“ hatte Mario Draghi damals lapidar gemeint. Wir könnten vieles daraus lernen. Damals vertraten einflussreiche Beraterkreise in Berlin und Paris die Position, um aus der Finanzkrise herauszukommen müsse man wieder mehr intergouvernemental und weniger gemeinschaftlich agieren. Sie wurden eines Besseren belehrt. Der Präsident einer europäischen Institution, der EZB gab eine europäische Antwort. Quelle surprise, sie funktionierte.

Aber, wenn man schon nicht bereit ist aus den positiven Erfahrungen zu lernen, dann sollte man zumindest ernst nehmen was derselbe Mario Draghi mit seinem 2024 im Auftrag der Kommission erstellten Bericht über die Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit der Union fordert.

Dieser könnte einen ähnlichen Effekt haben, wie seinerzeit der Marshallplan und zielt auf die Aufholung des Innovationsrückstandes, Fokussierung auf gemeinsame Ziele, Verringerung der Abhängigkeit und gemeinsame Investitionen.

Die Diskussion darüber ist noch nicht so richtig in Gang gekommen. Gerade In Zeiten geopolitischer Unsicherheit sollte man da aber keine Zeit verlieren.

Der Binnenmarkt ist die wohl größte Errungenschaft des europäischen Einigungsprozesses. Nur deswegen spielen wir auf globaler Ebene eine einflussreiche Rolle. Seine Vertiefung bedeutet daher nachhaltige Zukunftssicherung. Konträr zu seiner Bedeutung steht die Bekanntheit in der breiten Bevölkerung. Die eine oder der andere kann vielleicht die vier Grundfreiheiten aufzählen, aber wie sehr das Ganze unser Alltagsleben bestimmt, ist schon nicht mehr so vertraut. Die britische Bevölkerung hat das traurige Privileg das jetzt nach dem Brexit deutlich zu verspüren.
In der politischen Diskussion spielen diese Zusammenhänge keine Rolle. Der Bericht von Enrico Letta zur Zukunft des Binnenmarktes, der im April 2024 veröffentlicht wurde, fand nicht einmal im Wahlkampf zum Europäischen Parlament die ihm gebührende Aufmerksamkeit.
Dabei geht es hier um nichts Geringeres als um die Transformation des Binnenmarktes in einen „echten europäischen Markt“, um angesichts der neuen globalen Herausforderungen wettbewerbsfähig mit den USA und China zu bleiben. Neben der Schaffung eines europäischen Kapitalmarkts sollen vor allem Forschung und Innovation verbessert werden.
Die Entwicklung des digitalen Sektors steht dabei an vorderster Stelle. Letta kritisiert vollkommen zu Recht, dass es im Bereich der Telekommunikation nach wie vor 27 Märkte gibt. Das ist in der Tat eine der großen Absurditäten des Gemeinsamen Marktes. Da ist es dann auch ein bisschen dürftig sich zwar für die Abschaffung der Roaming Gebühren abfeiern zu lassen aber gleichzeitig beim Ausbau der Infrastruktur weit hinter die Mitbewerber zurückzufallen.

Europa braucht dringend mehr digitale Souveränität, bei den Suchmaschinen, im Cloud-Markt und im Social-Media Bereich. Das ist im Interesse der Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft, der Nutzer: innen und der allgemeinen Sicherheit.

Solche Reformen sind überfällig und wir dürfen keine Zeit verlieren. Gerade diese Themen betreffen sehr viele Menschen, die daher miteinbezogen werden müssen. Sie eignen sich daher auch die Notwendigkeit der europäischen Dimension sichtbar werden zu lassen.
Wenn ein solches Verständnis fehlt, dann verpufft die Wirkung und es eröffnen sich vor allem in Nachhinein Angriffsflächen, die zur Verwässerung ja sogar zur Rücknahme von Maßnahmen führen.

Ich könnte jetzt noch auf viele Bereiche der europäischen Politik eingehen.
Die zunehmend um Akzeptanz ringende ambitionierte Klimapolitik zu der es keine Alternative gibt, die Im Zuge der strategischen globalen Autonomie neu auszurichtende Handelspolitik oder die gescheiterte Migrationspolitik die gleichsam als Menetekel über dem europäischen Projekt steht usw. usf.

Dazu fehlt mir die Zeit, vor allem aber sind Sie die besseren Expert:innen.
Mir ging es mit meinen Beispielen darum, aufzuzeigen wie wichtig es ist, eine europäische Öffentlichkeit aufzubauen, wo nicht mehr Ränkespiele oder Showeinlagen die entscheidenden Faktoren sind, sondern Argumente.
Kennzeichen der deliberativen Demokratie ist der Austausch von Argumenten, die einer Überprüfung standhalten. Sie kennen vielleicht den Spruch: „Nicht das Erzählte reicht, sondern das Erreichte zählt.“

Politische Entscheidungen sollen auf der Basis von Fakten erfolgen, die einem für alle Betroffenen zugänglichen Diskussionsprozess unterliegen. Dieser Vorgang mag zwar als zeitaufwändig kritisiert werden, aber nur er sichert Legitimität. Und das ist in „the long run“ das wesentliche.

Ein demokratisches, den Menschenrechten verpflichtetes Europa braucht diese Verankerung. Die gemeinsamen europäischen Institutionen sind eine wichtige Errungenschaft. Ohne sie stünden wir viel schlechter da. Das wäre Brexit zum Quadrat.

Uns verbindet aber viel mehr, nicht nur die gemeinsame europäische Staatsbürgerschaft, dokumentiert auf dem Cover unseres Reisepasses.
Uns verbindet vor allem die Sorge um unsere gemeinsame Zukunft und die Tatsache, dass die vermeintlich starken Männer, die sich für groß und wichtig halten den Weltfrieden aufs Spiel setzen und uns um den Schlaf bringen.

Dem möchte ich als Kontrapunkt ein Zitat eines Europäers der ersten Stunde, Stefan Zweig entgegensetzen, das immer mehr zu meinem ceterum censeo wird:

„Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, können das Gesicht der Welt verändern.“