Noch vor wenigen Wochen schien es so, als wären die Nationalratswahlen bereits entschieden. Der Vorsprung von Sebastian Kurz galt als nicht mehr einholbar. Zumindest suggerierten uns das die Mainstream-Medien. Tagtäglich dröhnte es aus allen Rohren: Sebastian Superstar. Oftmals nahm dies groteske Züge an. Wie etwa am 23. August, als der französische Staatspräsident Macron Christian Kern in Salzburg besuchte. Auch die Ministerpräsidenten der beiden Nachbarstaaten Tschechien und Slowakei waren eigens zu diesem Termin angereist. Hauptthema im Abendjournal aber war die jährliche Präsentation der von Kurz in Auftrag gegebenen Integrationsstudie. Ausführlich wurden die einschlägigen Sujets bedient. Dass die vier Regierungschefs sich bei ihrem Treffen mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit beschäftigten und europäische Lösungsvorschläge gegen das für die österreichischen Arbeitnehmer nachteilige Lohndumping entwickelten, kam in der Berichterstattung nur am Rande vor.
Fantasy World gegen reale Politik. Lieber über den Wolken schweben, als dicke Bretter zu bohren (wie es Max Weber zum Kriterium redlicher Politik machte). Sozialschmarotzer, Mittelmeerroute, Balkanroute, Islam und wieder Islam. In allen Facetten: Kindergärten, Burkinis, Burkas und Kopftücher. Das war der Rahmen, in dem der Wahlkampf gesetzt schien. Angst und negative Gefühle sollten den Boden für einen Machtwechsel aufbereiten. Der selbsterklärte Retter aus all dem Unheil hatte sich rar gemacht und war systematisch inhaltlichen Auseinandersetzungen ausgewichen. Alles war auf Schiene. Vor allem, weil auch der politische Gegner schwächelte. Die Grünen hatten sich selbst in die Luft gesprengt und die FPÖ zeigte deutliche Anzeichen von Materialermüdung. Ja, und die SPÖ hatte alle Fehler gemacht, die man in einem Wahlkampf machen kann. Überinszeniert, Strategie gewechselt, Silberstein und Gusenbauer. Dazu kam noch Friendly Fire aus den eigenen Reihen.
Alles begann sich zu ändern, als der künftige Heilsbringer aus seiner Deckung heraustreten und kritische Fragen beantworten musste. Aus dem „Phantastian“ war plötzlich wieder der Sebastian geworden. Ja, es gab offensichtlich noch andere Probleme als die herbeigeredeten und es gab auch nicht für alles einen „quick-fix“ a la Schließung der Balkanroute, die in Wirklichkeit nur ein Fake war. Jetzt waren die Spitzenkandidaten auf ihre Substanz reduziert. Zum Glück. In den letzten Wochen zeigte sich immer mehr, dass viele Menschen der Überinszenierung und der voreiligen Kür des Siegers überdrüssig sind. In den vielen Gesprächen im Laufe der Wahlkampagne höre ich immer häufiger, dass die Menschen an Lösungen für die wirklichen Probleme interessiert sind: den hohen Mieten, den oft langen Wartezeiten für Operationen und der ungerechten Verteilung der Einkommen. Und sie glauben, dass Christian Kern in der Lage ist diese Antworten zu geben. Seine öffentlichen Auftritte haben mittlerweile Kultcharakter. Überall wo er auftritt, rockt er. Selfies mit dem Kanzler verbreiten sich viral auf Facebook. Alle, die einmal bei einer Veranstaltung dabei waren, sind begeistert. Nicht nur Genossen. Unlängst am überfüllten Stadtplatz im schwarzen Vöcklabruck bedrängte sogar der ÖVP nahestehende Standler den Kanzler, um ein Selfie zu ergattern.
Noch sind es vier Wochen und von Tag zu Tag wächst meine Hoffnung, dass es vielleicht doch noch um Inhalte gehen könnte. Das wäre nicht nur zum Vorteil der SPÖ, es würde vor allem unserer Republik guttun.