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Oberösterreichs SPÖ braucht Geschlossenheit und Öffnung

Gestern fand der Landesparteitag der oberösterreichischen SPÖ statt. Die Oberösterreichischen Nachrichten haben mich um einen Kommentar gebeten.

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Noch nicht einmal 100 Tage – So kann es nicht weitergehen

Noch sind für Schwarz-Blau II die obligatorischen 100 Tage nicht vorbei. Aber schon jetzt ist unbestreitbar: So einen fulminanten Fehlstart hat noch kein Regierungschef hingelegt. Die Euphorie des Anfangs war schnell verflogen, Katzenjammer hat sich breitgemacht. Offensichtlich war zu viel heiße Luft im Wahlkampf. Keines der groß angekündigten Projekte ist auf Schiene. Das Land ist führungslos. Wie bei einer Bootsfahrt, bei der jemand verabsäumt hat, die Ruder mitzunehmen.

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Viktor Orbán – alles andere als ein Vorbild

Während des NR-Wahlkampfes hatten sich Österreichs jetzige Nr. 1 und Nr. 2 einen Wettkampf geliefert, wer von beiden den besseren Kontakt zu Ungarns starkem Mann Viktor Orbán hätte. Alles drehte sich damals um die zum wichtigsten Thema hochstilisierte „Flüchtlingsfrage“.

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Quo vadis Austria

Die ersten vier Wochen Schwarz-Blau II hätten wir also hinter uns. Absolut kein Grund beruhigt zu sein. Es braut sich etwas zusammen in unserem Land, mit weitreichenden historischen Konsequenzen, nicht nur für Österreich. Noch ist es zu früh zu beurteilen, was da wirklich vorgeht. Ist es der Beginn einer Dritten Republik, von der seit Jörg Haiders Zeiten immer wieder die Rede war oder gar der Start für eine Annäherung an ein illiberales Europa, die der jahrzehntelangen Westintegration Österreichs ein Ende setzen könnte? Oder der Moment der Zerstörung der Sozialstaatlichkeit – 40 Jahre nach Thatcher – zu einem Zeitpunkt wo sich die Dinge im Mutterland des Neoliberalismus zu wenden beginnen? Oder ist alles nur schlicht und einfach heiße Luft?

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Österreich im Herbst – Die Wende wenden

Österreich ist wieder in den internationalen Medien. Wie zuletzt vor einem Jahr, als Alexander van der Bellen zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Damals wurde das als Trendwende gefeiert. So wie jetzt auch wieder. Der Ton ist besorgter. Aber was passiert wirklich? Erleben wir gerade eine Zeitenwende? Müssen wir alles hinnehmen, was auf uns in den nächsten Jahren zukommen wird? Ratlosigkeit und Apathie machen sich breit.

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Politik der Zukunft heißt Probleme lösen

Warum Symbolpolitik bei der Lösung der Migrationsfrage versagt hat
Ein absurder Wahlkampf geht zu Ende. Die wirklichen Probleme, um die es bei Wahlen eigentlich gehen sollte, nahmen wenig Raum ein. Oft hatte man den Eindruck, als würde nicht in Österreich gewählt, sondern in Phantasia: Mittelmeerroute, Balkanroute, Islam und wieder Islam. In allen Facetten: Kindergärten, Burkinis, Burkas und Kopftücher. Angst und negative Gefühle machten sich breit und vergifteten das politische Klima. Inszenierung allerorten, Scheingefechte und dreiste Übertreibungen ersetzten politische Argumente. Die unentwegt von verantwortungslosen Medien geschürte Angst vor dem Fremden, den Anderen ließ keinen Raum für Differenzierung. Die Flüchtlinge, die Ausländer, die Fremden wurden als die neuen Sündenböcke dämonisiert.
Seit dem denkwürdigen Sommer 2015 dreht sich alles um die „Flüchtlinge“. Das Land ist tief gespalten. Fakten spielen kaum mehr eine Rolle. Voreingenommenheit bestimmt die politische Debatte. Sachlichkeit und Lösungsorientierung bleiben auf der Strecke. Meinung ersetzt die Analyse. In einem solchen Klima gedeihen Ängste. Vor allem dann, wenn die Politik sich auf kurzfristige Scheinlösungen beschränkt und versucht mit dem Schüren von Ängsten Stimmen zu gewinnen. Obwohl die Zahlen der Asylwerber auf dem niedrigsten Stand seit 2004 sind, wird die Situation (noch immer) zum Ausnahmezustand hochstilisiert. Alles wird nur mehr durch diesen Meinungsfilter gesehen, wichtigere Probleme werden negiert und positive Nachrichten nicht mehr wahrgenommen. Eine brandgefährliche Situation, weil sie die Glaubwürdigkeit rationalen politischen Handelns unterminiert. Die Folgen werden noch lange nach diesem Wahltermin spürbar sein. Wenn uns die Zukunft der Demokratie etwas bedeutet, dann müssen wir alles tun, diesen Nebel zu durchdringen. Wir müssen zurück zu den Fakten, die Probleme benennen und Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Und die gibt es.
Europa: Problem oder Lösung?
Immer wieder heißt es: Die EU hat das Flüchtlingsproblem nicht im Griff. Das ist richtig und falsch zugleich. Richtig, weil nur durch ein gemeinsames Vorgehen die gigantischen Herausforderungen bewältigt werden können. Und das erwarten die Menschen eigentlich von Europa. Sie sind enttäuscht, weil das so gar nicht funktioniert. Der Grund dafür sind die nicht vorhandenen gesamteuropäischen Instrumente. Trotz häufiger Versuche im Lauf der letzten Jahrzehnte haben sich die Mitgliedstaaten nicht zu einem einheitlichen System durchringen können. Gemeinsame Kontrollen an den Außengrenzen wollte man nicht, weil das die Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten eingeschränkt hätte. Ein europäisches Einwanderungsgesetz, das ähnlich wie in Kanada eine bestimmte Anzahl von Plätzen für Zuwanderer vorgesehen hätte, um die sich die Menschen in einem nachvollziehbaren Verfahren bewerben hätten können, wurde von Deutschland verhindert.
Europa hat sich auch nicht um die Fluchtursachen gekümmert, ja mit seiner Handelspolitik den Menschen geradezu ihre Lebensgrundlage geraubt. Zudem wurden die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit zusammengestrichen. Das trifft im Besonderen auf Afrika zu. Dazu kamen kriegerische Auseinandersetzungen in der weiteren Umgebung, an denen der Westen nicht unbeteiligt war. Im Nahen Osten oder im Norden Afrikas. Um die Menschen in den Flüchtlingslagern der Herkunftsregionen kümmerte man sich unzureichend. Man war auch nicht bereit Kontingente für besonders Schutzbedürftige festzulegen, die eine sichere Einreise über humanitäre Korridore sicher ermöglicht hätte. Weil das alles nicht funktionierte und es keine klaren Strukturen gab, wurde das Asylwesen zur einzigen Möglichkeit nach Europa einzuwandern. Dafür ist es aber nicht gedacht. Es gab unzählige Versuche, das Asylsystem einzuschränken. Allesamt waren sie vergeblich, weil man nicht bereit war, das Problem an der Wurzel zu lösen. Diese gescheiterte Politik hat einen Namen: Dublin. Das bedeutet, für Asylsuchende ist immer das Ersteintrittsland zuständig. Natürlich kann das nicht funktionieren. Verantwortlich für Verfahren sind die Mitgliedstaaten mit einer Außengrenze. Betroffen sind aber alle Mitgliedstaaten. Von der großen Anzahl der Asylsuchenden überfordert, ließen einzelne Länder die Asylsuchenden einfach weiterreisen. Ein unwürdiges Hin- und Herschieben von Verantwortung setzte ein. Dublin wurde zum andauernden Selbstbetrug und zum Grundstein für die Flüchtlingskrise, die eigentlich eine europäische Solidaritätskrise ist.
Wenn man die Dinge schleifen lässt…
Jahrelang hatte man eine Politik des Nichthandelns, des Wegschauen und des Kleinredens betrieben. Migration, Asyl, Flucht und Vertreibung waren keine vorrangigen Themen. In den Staatskanzleien kannte man nur ein Mantra: Sparen, sparen und wieder sparen. Vor allem zu Lasten der sozial Schwachen. Das soziale Netz wurde immer mehr durchlöchert und viele fühlten sich im Stich gelassen. Leichtfertig überließ man das Migrationsthema der rechten Propaganda. Weder wurden die Sorgen und Nöte der verunsicherten „kleinen Leute“ ernst genommen, noch setzte man sich mit den Bedenken der humanitären Organisationen auseinander. Augen zu und nur nicht Anstreifen, so ging es jahrelang dahin. Das trug maßgeblich dazu bei, dass sich Mythen und Unwahrheiten festsetzten. Je offenkundiger dies wurde, desto mehr versuchte man von dieser Welle an Emotionen zu profitieren und sie zu politischem Kleingeld zu münzen. Provinzpolitiker aller Schattierungen gefielen sich in dieser neuen Rolle. Im Sommer 2015 sollte sich das alles rächen. Hunderttausende Menschen machten sich auf den Weg. Für viele Menschen waren diese beinahe apokalyptischen Bilder beunruhigend. Die überall spürbare Verunsicherung mobilisierte Ängste, vor allem dort, wo es keinen persönlichen Kontakt mit den Flüchtenden gab. Die Regierenden schwiegen. Es war ein dröhnendes Schweigen. Wochenlang ließ sich niemand von den Verantwortlichen blicken. Die Bilder aus Traiskirchen schockierten eine ganze Nation. Gleichzeitig mobilisierten sich freiwilliges bürgerschaftliches Engagement in bisher nicht gekanntem Ausmaß. Ohne diese Aktivitäten wäre es zu einem Kollaps der öffentlichen Ordnung gekommen.
Dichtung und Wahrheit 
Die gleichen Kreise, die sich damals vor ihrer Verantwortung drückten gefallen sich nun, von naiven Gutmenschen zu reden. Gebetsmühlenartig wird von einer Armada von Politikern wiederholt, „NGO-Wahnsinn“ und vorsätzliche Willkommenskultur wären verantwortlich, dass sich die Menschen nach Europa aufmachen. Damit wird auf perfide Weise von jahrelanger Untätigkeit abgelenkt. Statt die Probleme offen anzusprechen und mutig zu lösen, werden Scheinlösungen propagiert: Symbolische Politik, also eine Politik des „So tun, als ob“. Man wird halt schneller populär, wenn man dem Volk nach dem Mund redet und einfache (Schein)Lösungen propagiert. Den harten Typen darzustellen, der ja die Probleme nicht wirklich lösen muss, ist kurzfristig einträchtig. Symbolpolitik braucht die Vereinfachung: Gut-Böse, „Wir“ und die Anderen. Solches Schwarz Weiß Denken wird aber der Wirklichkeit nicht gerecht. Diese ist bunt, differenziert und komplex.
Immer wieder heißt es, Angela Merkels Selfies und die „Bahnhofsklatscher“ hätten einer regelrechten Invasion von Fremden die Bahn geebnet. Orbán versucht es gar verschwörungstheoretisch und sieht einen von George Soros erfundenen Masterplan zur Unterwanderung des christlichen Abendlandes dahinter. Die Wahrheit zu finden, ist ganz einfach. Man muss die Dinge bloß im zeitlichen Ablauf betrachten. Merkels Selfies, die Errichtung des ungarischen Grenzzauns, das „Durchwinken“ und die immer wieder zitierten Willkommensszenen standen am Ende einer Kette von Ereignissen. Am Anfang war das Versagen des Westens, in den Kriegsregionen und in den Teilen der Welt, wo bittere Not herrscht. Weder war man in der Lage für Frieden und Gerechtigkeit zu sorgen, noch bereit, die Versorgung der Menschen nahe der Krisengebiete zu garantieren. Schon seit Anfang 2015 hatte die internationale Gemeinschaft immer wieder auf den drohenden Kollaps der chronisch unterfinanzierten Versorgungsstrukturen in den Lagern im Libanon und im Nordirak hingewiesen. Niemand wollte diese Rufe hören. Im Gegenteil, jene die heute bei jeder Gelegenheit betonen man müsse „vor Ort“ helfen, waren für die Kürzung der Hilfsgelder verantwortlich. Auch in Österreich. Der Flüchtlingstreck wurde ausgelöst, weil die durchschnittlichen monatlichen Aufwendungen von 28$ pro Flüchtling auf 13$ gesunken waren. Die Folgen solch kurzsichtiger Politik liegen klar auf der Hand.
Dazu kommt das verantwortungslose Handeln nationalistischer Politiker. Ungarns Orbán schlug das Angebot einer europäischen Lösung aus und setzte, aus innenpolitischen Motiven, auf Grenzen dichtmachen und Abschottung. Das ließ seine Popularitätswerte ansteigen. Und es kümmerte ihn wenig, dass seine Ankündigung einen Grenzzaun zu Serbien zu errichten einen regelrechten Ansturm auslöste und erst die Geschäftsgrundlage für kriminelle Schlepperbanden schuf. Die 71 Toten von Parndorf hätten Mahnung genug sein sollen. Nach heutigem Wissenstand wäre diese Tragödie vermeidbar gewesen, wenn damals die ungarischen Behörden die ihnen zugänglichen Daten ausgewertet hätten. Aber man war mit anderem beschäftigt. Ungarns Flüchtlingspolitik war auf Zuspitzung ausgerichtet. Daher auch die chaotischen Zustände damals am Keleti Bahnhof in Budapest. Die meisten haben vergessen, dass die nächtliche Grenzöffnung, die Merkel und Faymann einvernehmlich vornahmen einen ganz banalen Grund hatte. Orbán hatte die Flüchtlinge in hunderte Busse gesteckt und sie an die österreichisch-ungarische Grenze verfrachtet. Für die beiden Regierungschefs gab es keine wirkliche Alternative. Deutschland hätte seine Grenzen dichtmachen können, aber das wäre sicher nicht im Interesse Österreichs gewesen. Auf keinen Fall stimmt, dass die Grenzöffnung den Zustrom ursächlich ausgelöst hat. Sie war ein pragmatischer Versuch Kontrolle über die Abläufe zu bekommen. Tempo und Druck reduzieren, hieß es damals. Das dauerte fast zwei Monate. Zu stark war der Druck geworden, über die sozialen Medien hatten sich viral Informationen über die Fluchtwege verbreitet, das Ganze geriet außer Kontrolle. Das wiederum rief kriminelle Schleppernetzwerke auf den Plan. Trittbrettfahrer fühlten sich magisch vom Flüchtlingstreck angezogen. Plötzlich war alles möglich.
Der Türkei- Deal als europäische „Realpolitik“
Schon Ende September begannen die Kommission und einzelne Mitgliedstaaten mit der Türkei über eine Kooperation zu verhandeln, deren Ziel die Eindämmung und Verlangsamung der Flüchtlingsströme aus der Türkei war. Von einer Notbremse war die Rede, das deutsche Wort „Realpolitik“ war plötzlich in aller Munde. Dieser Begriff wird immer dann verwendet, wenn man meint, im Namen politischer Zielsetzungen, moralische Bedenken ignorieren zu müssen. Ohne Zweifel gibt es ernst zu nehmende menschenrechtliche Einwände gegen das, was später als Türkeideal bekannt werden sollte. Eine „Koalition der Willigen“ zu der lange Zeit auch Österreich gehörte, wollte eine europäische Lösung, die auf den Prinzipien Verlangsamung des Zustroms aus der Türkei sowie Verteilung der bereits in Europa befindlichen Flüchtlinge (Relocation) und deren anschließender Integration beruhte. Warum es fast ein halbes Jahr dauerte, bis der Türkei-Deal umgesetzt wurde, hat viele Ursachen. Einmal mussten organisatorische Voraussetzungen geschaffen werden, sogenannte Hotspots, die eine ordnungsgemäße Registrierung ermöglichten. Sowohl in der Türkei als auch in der EU gab es aber auch Bedenken und Widerstände. Viele bezweifelten, ob die Türkei überhaupt paktfähig wäre, andere wollten verhindern, erpressbar zu sein. Nicht wenige bezweifelten, ob es wirklich um eine solidarische europäische Lösung gehen sollte, oder das dominante Deutschland, wie in der Eurokrise bloß seine eigenen Interessen durchsetzen wollte. Das alles ließ viele zögern. Aber je länger nichts passierte, desto mehr wuchs die Ungeduld. Vor allem in den Ländern, die die meisten Flüchtlinge aufgenommen hatten. Die Integration ging zudem schleppend voran, Asylverfahren wurden hinausgezögert und das Krisenmanagement funktionierte nicht. Und es kam zu spektakulären Vorfällen, wie jene in der Kölner Silvesternacht. Im Jänner 2016 begann die Stimmung zu kippen.
Fake-Politik: „Schließung“ der Balkanroute
Österreich, das noch bei der Ratstagung im Dezember 2015 seine Ständige Vertretung in Brüssel für ein Treffen der „Koalition der Willigen“ zur Verfügung stellte, legte innerhalb von zwei Monaten eine 180 Grad Wende hin. Der unter dem Einfluss des bayerischen Ministerpräsidenten und Merkel Gegenspielers Horst Seehofer stehende Sebastian Kurz hatte seinem Bundeskanzler Werner Faymann das Heft aus der Hand gerissen und sich an die von Viktor Orbán orchestrierte Visegrád Gruppe angedient. Diese Staaten (Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei) hatten sich seit Anbeginn gegen eine europäische Lösung gestellt. Aus unterschiedlichen Gründen. Ein Motiv war aber überall präsent, die Krise zu nutzen um Stärke zu suggerieren. Um die Lösung der Krise selbst ging es dabei freilich nicht. Wie Anfang März 2016.
Je wahrscheinlicher der Türkeideal wurde, desto größer auch der Drang zu innenpolitisch motiviertem Aktionismus. Drei Wochen vor dem damals schon ausverhandelten Inkrafttreten des Türkei- Abkommens trafen sich auf österreichische Initiative die von der Balkanroute betroffenen Staaten zur Westbalkankonferenz – wohlgemerkt ohne Deutschland und Griechenland – den Protagonisten einer europäischen Lösung. Es dauerte immerhin noch bis zum 9. März, bis Slowenien schließlich die Balkanroute offiziell schloss, nachdem Mazedonien, dem ungarischen Vorbild folgend, schon seit einiger Zeit begonnen hatte den Grenzübertritt durch administrative Maßnahmen zu verzögern. Das war nicht die Lösung des Problems. Der Zustrom nach Europa ließ deswegen schlagartig nach, weil das Türkei-Abkommen am 18. März in Kraft trat. Im Jahresschnitt waren es danach täglich weniger als 100 Personen, die auf den Hotspots der griechischen Inseln registriert wurden. Die medial zelebrierte Schließung der Balkanroute hatte keinerlei Effekt. Sie bewirkte freilich, dass Zehntausende irgendwo auf der Balkanroute hängen blieben und versuchten, trotzdem weiterzukommen.
Eine ideale Grundlage für die Geschäftspraktiken krimineller Menschenschmuggler. Gemäß dem Motto: je dichter der Zaun, desto höher der Preis. Eine unmittelbare Folge des nationalstaatlich motivierten Grenzschließungsreigens war das Ansteigen organisierter Kriminalität. Mädchenhandel, Kinderprostitution und Organhandel waren die Begleiterscheinungen dieser nicht durchdachten Politik. Nicht nur das. Besonders problematisch ist, dass die öffentlich zur Schau gestellte Absicht dieser Maßnahmen, die Menschen an der Einreise nach Österreich zu hindern, gar nicht erfüllt wurde. Zehntausende kamen über die Balkanroute nach Österreich und Deutschland. Man gaukelte also der Bevölkerung mit dramatischen Bildern vor, etwas erreicht zu haben, das in Wirklichkeit gar nicht der Fall war. Die Kosten dieser Maßnahmen fallen unter den Tisch, während man nicht müde wird tagtäglich vorzurechnen, was die Bevölkerung angeblich wegen der Unterstützung der Flüchtlinge verliert. Neidgefühle werden geschürt. Sie sind die Basis für die zerstörerische politische Energie, die sie sich in unserem Land breitgemacht hat und den Blick für die wirklichen Probleme, denen wir uns stellen sollten, vernebelt.
 

Das wird noch was – Kern ist wieder da

Noch vor wenigen Wochen schien es so, als wären die Nationalratswahlen bereits entschieden. Der Vorsprung von Sebastian Kurz galt als nicht mehr einholbar. Zumindest suggerierten uns das die Mainstream-Medien. Tagtäglich dröhnte es aus allen Rohren: Sebastian Superstar. Oftmals nahm dies groteske Züge an. Wie etwa am 23. August, als der französische Staatspräsident Macron Christian Kern in Salzburg besuchte. Auch die Ministerpräsidenten der beiden Nachbarstaaten Tschechien und Slowakei waren eigens zu diesem Termin angereist. Hauptthema im Abendjournal aber war die jährliche Präsentation der von Kurz in Auftrag gegebenen Integrationsstudie. Ausführlich wurden die einschlägigen Sujets bedient. Dass die vier Regierungschefs sich bei ihrem Treffen mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit beschäftigten und europäische Lösungsvorschläge gegen das für die österreichischen Arbeitnehmer nachteilige Lohndumping entwickelten, kam in der Berichterstattung nur am Rande vor.
Fantasy World gegen reale Politik. Lieber über den Wolken schweben, als dicke Bretter zu bohren (wie es Max Weber zum Kriterium redlicher Politik machte). Sozialschmarotzer, Mittelmeerroute, Balkanroute, Islam und wieder Islam. In allen Facetten: Kindergärten, Burkinis, Burkas und Kopftücher. Das war der Rahmen, in dem der Wahlkampf gesetzt schien. Angst und negative Gefühle sollten den Boden für einen Machtwechsel aufbereiten. Der selbsterklärte Retter aus all dem Unheil hatte sich rar gemacht und war systematisch inhaltlichen Auseinandersetzungen ausgewichen. Alles war auf Schiene. Vor allem, weil auch der politische Gegner schwächelte. Die Grünen hatten sich selbst in die Luft gesprengt und die FPÖ zeigte deutliche Anzeichen von Materialermüdung. Ja, und die SPÖ hatte alle Fehler gemacht, die man in einem Wahlkampf machen kann. Überinszeniert, Strategie gewechselt, Silberstein und Gusenbauer. Dazu kam noch Friendly Fire aus den eigenen Reihen.
Alles begann sich zu ändern, als der künftige Heilsbringer aus seiner Deckung heraustreten und kritische Fragen beantworten musste. Aus dem „Phantastian“ war plötzlich wieder der Sebastian geworden. Ja, es gab offensichtlich noch andere Probleme als die herbeigeredeten und es gab auch nicht für alles einen „quick-fix“ a la Schließung der Balkanroute, die in Wirklichkeit nur ein Fake war. Jetzt waren die Spitzenkandidaten auf ihre Substanz reduziert. Zum Glück. In den letzten Wochen zeigte sich immer mehr, dass viele Menschen der Überinszenierung und der voreiligen Kür des Siegers überdrüssig sind. In den vielen Gesprächen im Laufe der Wahlkampagne höre ich immer häufiger, dass die Menschen an Lösungen für die wirklichen Probleme interessiert sind: den hohen Mieten, den oft langen Wartezeiten für Operationen und der ungerechten Verteilung der Einkommen. Und sie glauben, dass Christian Kern in der Lage ist diese Antworten zu geben. Seine öffentlichen Auftritte haben mittlerweile Kultcharakter. Überall wo er auftritt, rockt er. Selfies mit dem Kanzler verbreiten sich viral auf Facebook. Alle, die einmal bei einer Veranstaltung dabei waren, sind begeistert. Nicht nur Genossen. Unlängst am überfüllten Stadtplatz im schwarzen Vöcklabruck bedrängte sogar der ÖVP nahestehende Standler den Kanzler, um ein Selfie zu ergattern.
Noch sind es vier Wochen und von Tag zu Tag wächst meine Hoffnung, dass es vielleicht doch noch um Inhalte gehen könnte. Das wäre nicht nur zum Vorteil der SPÖ, es würde vor allem unserer Republik guttun.

Ein Wiener Lied auf 70 Jahre Volkshilfe

70 Jahre Volkshilfe Wien – das ist schon was. 70 Jahre sind eine lange Zeit – schon fast ein Menschenleben. Und: Volkshilfe und Wien, das ist etwas ganz Besonderes. Gerade in einer Zeit, wo die sozialen Probleme zunehmen. 70 Jahre Wiener Volkshilfe, das ist die Geschichte gelebter Solidarität. Helfen, sich um Schwächere kümmern das sind selbstverständliche Eigenschaften. In der langen Geschichte der Sozialdemokratie waren sie immer präsent. Allen sollte es besser gehen, fair und gerecht sollte das Leben sein und wenn die gesetzlichen Leistungen einmal nicht mehr reichten, dann sollte jemand da sein, der einen auffängt. Ja, es ist wichtig darauf hinzuweisen: der Sozialstaat und die freie Wohlfahrt sind gleichursprünglich. In Wien ist das deutlich zu sehen. Als die Wiener Sozialdemokratie vor nunmehr beinahe hundert Jahren zur stärksten Kraft im Rathaus wurde und aus Wien eine weltweit bewunderte soziale Musterstadt machte, da fanden sich auch Frauen und Männer zusammen, die konkret helfen wollten. Der Name war Programm: „Societas“ und nicht etwa „Caritas“. Man wollte klar zum Ausdruck bringen, was man nicht wollte: Solidarität statt Barmherzigkeit und Rechtsanspruch statt Mildtätigkeit. Und selbstverständlich wollte man da sein, wenn das soziale Netz aus irgendeinem Grund nicht funktionierte. Es gab genug zu tun, weil der Sozialstaat erst im Aufbau war. Es ging freilich nicht nur um ergänzende Hilfen mit Lebensmitteln, Kleidung oder um die Möglichkeit die notleidenden Kinder während der Ferien zu Genossen ins Ausland zu schicken. Vielmehr wurde es bald notwendig die sozialdemokratische Idee, dass Menschen einen Rechtsanspruch auf soziale Absicherung haben, gegen die Angriffe der damaligen Bürgerlichen zu verteidigen, die immer lauter von sozialen Lasten zu reden begannen.
Diese „rohe Bürgerlichkeit“ stand am Beginn der Zerstörung der demokratischen Institutionen in den 1930er Jahren und führte geradewegs in die Katastrophe. Nunmehr ging es darum, den politisch Verfolgten und Inhaftierten zu helfen. Solche Hilfe ist dann am effizientesten, wenn sie im Stillen passiert. Das ist einer der Gründe, warum wir so wenig über das Wirken von Josef „Beppo“ Afritsch, dem ersten Präsidenten der Wiener Volkshilfe, in diesen Jahren wissen. Ende der 1970er-Jahre traf ich in Birmingham eine ältere Dame aus dem Umkreis einer britischen Unternehmerfamilie. Small Talk. Noch wusste ich nicht, dass die Volkshilfe einmal für mein Leben sehr wichtig werden würde. Ich war verwundert, weshalb diese bürgerliche Dame so viel über das Rote Wien und den Februar 1934 wusste. Sie erzählte mir von den Bemühungen der britischen Quäker den vom Ständestaat Verfolgten zu helfen und dass dabei ein Mann in Wien besonders wichtig gewesen wäre, der später sogar österreichischer Innenminister gewesen sei. Ein feiner und mutiger Mensch sei er gewesen, Gärtner von Beruf. Der Mann, von dem sie sprach, war Josef Afritsch. Er war es, der nach 1945 die Fäden bei der Gründung der österreichischen Volkshilfe ziehen sollte. Afritsch war ein Mensch, der sich nicht in den Vordergrund drängen musste, er war ein Teamplayer und ein Mann der Prinzipien, der das Leben liebte. So wie der von Schweden aus ebenfalls bei der Gründung der Volkshilfe aktive Bruno Kreisky war er Mitglied der Revolutionären Sozialisten, Internationalist durch und durch. Der Einfluss der Immigration in der Gründungsphase der österreichischen Volkshilfe ist unübersehbar. Vor allem aus der Schweiz, aus Schweden, Dänemark und Norwegen wurden beträchtliche Mittel zur Verfügung gestellt. Getrieben vom Wunsch, dass das Rote Wien, das so vielen Vorbild und Ansporn gewesen war, wiedererstehen sollte. Norwegen, obwohl es unter der Nazibesatzung stark gelitten hatte, war besonders großzügig. Und die Norsk Folkehjelp war denn auch unser Vorbild und Namensgeber.
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Das alles sollten wir nicht vergessen. Vor allem dann, wenn es am Stammtisch wieder einmal gegen „die Ausländer“ geht. Ja damals, als es uns wirklich schlecht ging, waren es „die Ausländer“, die zur Stelle waren. Und sie hätten durchaus Gründe gehabt, sich an uns zu rächen. Josef Afritsch drückte es prägnant aus, worum es gehen muss, wenn die Menschen neu anfangen wollen: „Lasst uns den Hass begraben.“, sagte er bei der Eröffnung der internationalen Kulturstätte Hörndlwald 1951. Da war ich ein Jahr alt. Und wie die meisten meiner Generation bin ich mit diesem Grundsatz aufgewachsen und alt geworden. Lange Zeit war das alles unbestritten: Toleranz, Weltoffenheit und Menschenrechte. Für die Volkshilfe war das immer klar. Wir sind gut gefahren damit, uns daran zu halten. 70 Jahre lang.
Erfolgsgeschichte „Dobro dosli!“
Die Wiener Volkshilfe hat ganz entscheidend dazu beigetragen, dass Wien wieder zur sozialen Musterstadt werden konnte. Sie hat Großes geleistet und es gab leider auch dunkle Seiten. Ich bin dankbar, dass das jetzt aufgearbeitet wird. Die Fähigkeit zur Selbstkritik ist ein entscheidender Erfolgsfaktor. Die Geschichte der Wiener Volkshilfe ist eine Erfolgsgeschichte. Ihr seid, so wie es Gründungsauftrag war den Menschen immer zur Seite gestanden, habt in Notfällen spontan geholfen und hartnäckig gegen die Einsamkeit des Alters gehalten. Wenn gleichsam im Zehnjahresrythmus die Menschen in unserer Nachbarschaft Opfer politischer Willkür wurden, wie 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei, 1981 in Polen oder in den 1990er-Jahren, als nationalistischer Wahn Jugoslawien zerstörte, immer dann, wenn sie aus ihrer Heimat fliehen mussten, war die Volkshilfe da. Ganz selbstverständlich: als Quartiergeber, als Vermittler oder als Integrationsinstanz. Ich erinnere mich noch gut daran, dass die Wiener Volkshilfe ihre Arbeit für die Bosnien-Flüchtlinge unter das Motto „Dobro dosli!“- auf Deutsch „Seid willkommen!“ stellte. Es wurde ein großartiger Erfolg. Viele der damaligen Flüchtlinge sind heute begeisterte Wienerinnen und Wiener.
Die Wiener Volkshilfe hat bewiesen, dass es das berühmte Goldene Wiener Herz wirklich gibt. Wie bei vielen anderen Aktivitäten, bei den mobilen Diensten oder im Bereich der stationären Altenbetreuung im Auftrag und in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Wien. Oder im Bereich der Obdachlosenarbeit, wo ihr innovative Pionierarbeit geleistet habt. Auch die experimentelle Arbeitsmarktpolitik mit ihrem in ganz Europa bekannten Musterbetrieb „Wien Work“ ist von diesem Geist des Zupackens und der Wertschätzung für jene, denen es das Leben nicht leicht gemacht hat geprägt. Natürlich geschah das alles immer in Zusammenarbeit mit anderen – mit öffentlichen Einrichtungen und gemeinwohlorientierten Trägern. Dazu zählte auch immer wieder die Bundesvolkshilfe. Insofern fühle ich mich auch ein bisschen als Teil der Wiener Volkshilfe. Dabei war das gar nicht so selbstverständlich für einen oberösterreichischen Mostschädel wie mich. Ich bin in die Funktion eines Volkshilfepräsidenten eher hineingestolpert. Das hing mit den unerfreulichen Vorfällen, mit denen die Volkshilfe zu Beginn der 1990er- Jahre konfrontiert war zusammen. Ich werde darauf heute nicht eingehen, nicht zuletzt, weil die ganzen Dinge viel komplexer waren, als viele meinen. In jede Richtung. Aber es war eine untragbare Situation. Ich gehörte als junger ungeduldiger Funktionär zu den Kritikern der Entwicklung. Wahrscheinlich habe ich den Mund zu weit aufgemacht. Ehe ich mich versehen konnte, wurde ich dazu gedrängt die Position des Präsidenten zu übernehmen: „Dann mach es halt besser, wenn du schon so gscheit bist.“ Einzig die Wiener Volkshilfe war skeptisch gegen mich und machte ihre Zustimmung von einer Aussprache mit mir abhängig. Karli Svoboda war der Vermittler. Ich erinnere mich noch gut, etwas spannungsgeladen war das alles und dann die Begrüßung: Wir freuen uns, dass der Genosse „Joschi Weidinger“ – Oh nein. Erstens war ich nicht der Joschi, sondern der Joe und dann der Vergleich mit dem Joschi Weidinger, dem einzigen bedeutenden Boxer, den Wien je hervorgebracht hat. Ich hatte auf jeden Fall die Lacher gegen mich. Wien und der Boxsport das ist ja nicht gerade eine Win-win-Situation. Vor allem ist das Boxen auch nicht der Stil, sich in dieser Stadt durchzusetzen. Es ist ja bezeichnend, dass der Ruhm eines Hansi Orsolics von seinem Song „Mei potschertes Leben“ herrührt und nicht von seinen Boxkünsten.
Volkshilfe Sommerfest
Wenn man in Wien etwas durchsetzen will, dann geht das nicht mit Gewalt und nicht mit einem Schlag. Wien ist nicht Chicago. In Wien geht es eleganter ab und ein bisserl pomaliger und auch etwas fintenreicher. Meine oberösterreichischen Freunde hatten mich damals gewarnt: „Tu dir das nicht an, da kannst du nur ausrutschen auf diesem glatten Wiener Parkett“. Ich habe es fast ein Vierteljahrhundert ausgehalten, sogar ein bisschen was weitergebracht, einige Male bin ich wohl auch ausgerutscht. Ich habe diese Stadt lieben gelernt. Nicht, weil sie meine Hauptstadt ist. Was heißt das schon Hauptstadt. Jedes Land muss eine Hauptstadt haben. Wien ist viel mehr für mich. Und das hängt vor allem mit den Menschen zusammen, denen ich hier begegnen durfte. Wenn man 20 Jahre mindestens einmal die Woche nach Wien pendelt, dann kriegt man einiges mit. Ich bin immer gerne nach Wien gefahren und einige Male habe ich auch den letzten Zug nach Linz verpasst. Mein Wien ist das Wien der Außenbezirke, das normale Wien, wenn man das so sagen darf – das Wien der überraschenden Momente. Ein solcher Moment war für mich ein Nachmittag mit Franziska Fast beim Heurigen in der Speckbachergasse 14 in Ottakring. An jenem Ort, der den Wiener Universalkünstler und Freund der Volkshilfe Karl Hodina, zu seinem „Herrgott aus Sta“ inspiriert hatte. Franziska Fast kannte ich schon lange. Schon vor meiner Volkshilfezeit hatte ich mit ihr an der Linzer Uni – da war sie eine der vier Staatssekretärinnen, die Bruno Kreisky in die Regierung berufen hatte – eine Tagung mit Fabriksarbeiterinnen veranstaltet. Hin und wieder hatte ich sie auch singen gehört. Aber an diesem Nachmittag da ließ sie uns alle tief in die Seele der Volkshilfe, in die Seele der Wiener Sozialdemokratie blicken. Ein Ministerialrat begleitete sie mit der Gitarre und sie bot alles dar, was ihr gerade im Sinn stand, erzählte von Bruno Kreisky und was man nicht alles zum Guten verändern könnte und müsste. Humorvoll und kämpferisch und doch mit einem Anflug von Melancholie. Franziska Fast, das ist Wien – und nicht Joschi Weidinger und sein wehleidiger Hansi Orsolics Verschnitt. Wir alle müssen dankbar sein, dass es sie gegeben hat. Vor allem müssen wir ihr dankbar sein, was sie für und mit uns getan hat. Körperlich nicht gerade von überragender Statur war sie eine der größten österreichischen Sozialdemokratinnen der Nachkriegszeit. Sie war ein Glücksfall für die Volkshilfe. Ich denke auch gerne an die Begegnungen mit Landtagspräsident Hansi Hatzl. Wenn wir wichtige persönliche Dinge zu besprechen hatten, dann trafen wir uns in Simmering und wenn wir gar nicht weiterwussten, dann überlegten wir, was die Franzi wohl gesagt hätte. Doch ich soll nicht ins Schwelgen geraten, auch wenn es der Anlass erlauben würde.
Die Gefahr der Wiederholung
Die Zeiten sind ernst, sehr ernst sogar. Zumindest fühlen das die meisten Menschen heute so. Angst hat sich breitgemacht und lässt viele wider jede Vernunft handeln. Die Angst den Arbeitsplatz zu verlieren, die Angst um das Ersparte, die Angst um die eigene Identität und die Angst um die Zukunft der Kinder. Wir haben das Gefühl auf schwankendem Boden zu stehen. Schwindlig könnte einem werden. Ohnmachtsgefühle machen sich breit. In dieses Vakuum stoßen die autoritären Verführer. Sie haben nichts anderes als die eigene Macht im Kopf. Sie brauchen diese Unsicherheit. Deshalb reden sie unentwegt auf uns ein, verzerren, lügen und beleidigen. Sie wollen, dass wir den Boden unter den Füßen verlieren. Fake-News und Hassrede haben sich in den sozialen Medien breitgemacht. So rau war der Ton noch nie. Scheinlösungen werden populär und eine Politik des „So tun, als ob“ ersetzt zunehmend kluges, vorausblickendes Handeln, das eigentlich notwendig wäre. Sachorientierte Politiker werden als langweilig denunziert. Es zählt die Inszenierung und das Oberflächliche. Die Parteien sind dabei sich auseinander zu schimpfen, wie das unlängst Holocaust-Zeitzeuge Rudi Gelbard so treffend formulierte. Zumindest gilt das für die österreichische Politik. Aber auch auf europäischer Ebene stehen die Zeichen nicht gut. Brexit, Ungarn, Polen, der nicht vorhandene Wille zu einer europäischen Migrationspolitik das alles schwächt Europa. Gerade in Zeiten eines Donald Trump. Ich habe diesen negativen Ton nicht angeschlagen, weil ich etwa ein Pessimist bin. Ich sage das in Kenntnis der historischen Parallelen. Auf der einen Seite haben wir die nationalistischen Vereinfacher, denen keine Übertreibung zu groß und die vor allem vom möglichen Schaden, den sie anrichten könnten unbeeindruckt sind. Auf der anderen Seite die bürgerlichen Schnösel, der Generation der Erben entstammend, denen alles Soziale ein Dorn im Auge ist, weil es ihre eigene Ellbogenfreiheit einengt. Am liebsten hat man sein Spielzeug allein. Diese rohe Bürgerlichkeit ist ebenso gefährlich wie das aggressive Herrenmenschentum. Ja, liebe Freunde, so ähnlich ist es schon einmal zugegangen. Die Geschichte kann sich wiederholen, aber sie muss es nicht. Und sie wird sich auch nicht wiederholen, wenn wir nicht die Nerven verlieren. Wir brauchen nur auf unseren Erfahrungsschatz und unsere Prinzipien zurückgreifen. Leicht dahingesagt, aber was heißt das?

  • Die Volkshilfe hat immer gewusst, was es heißt, die Sorgen der kleinen Leute ernst zu nehmen. Weil Volkshilfe praktizierte Solidarität bedeutet, entstanden aus der Erkenntnis, dass es am wirksamsten ist, wenn sich die Menschen selber gemeinsam helfen. „Hilfe für das Volk – Hilfe durch das Volk“ hieß das in den 1950er-Jahren. Zuhören und Hinschauen, das sind alte sozialdemokratische Tugenden. Jeder und jede verdient die gleiche Wertschätzung und hat das Recht, dass seine Sicht der Probleme akzeptiert wird.
  • Nicht die Organisation bestimmt, ob jemand ein Problem hat. Es ist nicht akzeptabel, wenn Hilfe sich danach orientiert, ob sie den gerade aktuellen politischen Kriterien entspricht. Es gibt keine politisch korrekten Probleme. So vorzugehen wäre unkorrekt und dumm. Gefährlich obendrein. Wir müssen die Menschen nehmen, wie sie sind, was denn sonst?
  • Das heißt aber nicht, dass wir Ihnen nach dem Mund reden dürfen. Das ist genauso falsch und verantwortungslos wie besserwisserische Zurechtweisungen. Wenn ich jemanden helfen will, dann muss ich zur Wahrheit bereit sein. Ein guter Arzt belügt seinen Patienten nicht. Unangenehmes muss er vielmehr mit Respekt kommunizieren.
  • Viele Menschen leiden darunter, dass niemand mehr ehrlich mit ihnen kommuniziert. Sie stört die schablonenhafte Oberflächlichkeit mit denen man ihnen gegenübertritt. Von den Wohlmeinenden werden sie oft mit Phrasen und leeren Worthülsen überflutet. Politisch korrekt zu sein heißt aber nicht jedes Wort auf die Waagschale zu legen oder die Rechtschreibfehler der politischen Gegner aufzustöbern. Politische Korrektheit setzt die Bereitschaft zur Selbstkritik voraus. W i r müssen uns fragen, warum uns die Menschen nicht mehr verstehen. Wenn wir die Menschen nicht mehr erreichen, dann liegt das an uns.
  • Die Wohlfahrtsorganisationen müssen wieder zu Räumen des gegenseitigen Vertrauens werden, wo man sich ungeschätzt austauschen kann, wo sich die Menschen außerhalb der Meinungsblasen in denen sie normalerweise gefangen sind, begegnen können. So wie das einmal gewesen ist. Damals als die Volkshilfe und ihre Vorgängerorganisation die Societas entstanden sind. Etwas vereinnahmend, man kann auch sagen abschätzig, hat man das als sozialdemokratisches Vorfeld bezeichnet. Ohne dieses Vorfeld freilich wäre die Sozialdemokratie ein abgehobener Wahlverein gewesen.
  • Ich will jetzt hier nicht ins Tagespolitische abgleiten. So viel sei aber gesagt: Ohne zivilgesellschaftliche Erdung und ohne sozialpolitische Echokammern wie die Volkshilfe gäbe es im Parlament auch keine ausreichende Unterstützung für den Sozialstaat. Die Sozialpartner sind auch unersetzlich. Aber ist es nicht bezeichnend für den Zustand dieser Republik, wenn die einen vom Ende der Sozialpartnerschaft daher schwafeln und die anderen den „NGO-Wahnsinn“ verteufeln.

Wir leben nicht in normalen Zeiten, es sind Zeiten des Umbruchs. Das birgt Gefahren aber auch Chancen. Eines geht nicht: abzuwarten, was auf uns zukommt. Also nicht, „wann der Herrgott net wü“ – wie man in dieser Stadt so gerne singt. Wir müssen bereit sein, die Dinge zu verändern, im Großen und im Kleinen. Ja und dafür gibt es auch ein Wiener Lied, eines das nicht nur Beppo Afritsch und Bruno Kreisky inspirierte: „Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt… Wir sind die Zukunft und wir sind die Tat.“

Am Anfang war ein Schaukasten

Ich freue mich schon auf meine Mairede, morgen in meiner Geburtsstadt Schärding, an einem der schönsten Stadtplätze Europas. Eine der frühesten Erinnerungen meiner Kindheit ist ein Schaukasten im Nachbargrundstücks meines Elternhauses. Nicht irgendwie mittig, sondern haarscharf an der Grenze zu uns. Ein rotgestrichener Holzrahmen mit einer Glasscheibe versehen, an zwei rostigen Profilträgern befestigt und quasi gekrönt mit den drei Pfeilen, dem Symbol der SPÖ, deren Parteigänger sich damals stolz Sozialisten nannten. Der Schaukasten war verschlossen. Den Schlüssel bewahrte der Nachbar auf. In regelmäßigen Abständen wechselte er den Inhalt aus. Er war Kranführer im nahegelegenen Steinbruch. Er hob sich deutlich von den anderen Steinbrucharbeitern ab, die in unserem Dorf, das eigentlich ein Bauerndorf war, wohnten.
Meine Eltern besaßen eine Gemischtwarenhandlung. Das war damals noch kein Selbstbedienungsladen, man wurde bedient und man hatte viel Zeit für die Kundschaft. Alle Bewohner des Dorfes kamen regelmäßg vorbei. Die sozialen Unterschiede waren klar ersichtlich. Die Bauern bezahlten bar, während der Großteil der Steinbrucharbeiter „aufschreiben“ ließ und erst zum Monatsende bezahlte. Das Geld war eben knapp, aber für den mitunter exzessiven Konsum alkoholischer Getränke reichte es trotzdem. Die Krämerei meiner Eltern war das Kommunikationszentrum des Dorfes. In den Abendstunden mutierte es regelmäßig zum Wirtshaus. Von der Arbeit heimkehrende Steinbrucharbeiter, Tagelöhner, Jagdkumpanen meines Vaters und Rentner, denen man die Verletzungen des Krieges, körperlich und psychisch, anmerkte. Fast ausschließlich waren es Männer, die an der Plage und Mühe ihrer Arbeit litten, irgendwie mit der neuen Zeit, die ins Dorf einzog, nicht zurechtkamen und ihren Frust im Alkohol ertränkten. Tagtäglich. Ich war schon damals neugierig und hörte gerne zu. Manches verstand ich nicht, weil ich mir nichts darunter vorstellen konnte. Etwa, wenn es um Stalingrad und „den Russen“, um Tapferkeit und Ehre oder warum „wir“ den Krieg verloren, ging.
Manches lernte ich zu verstehen. Warum manche Geld hatten, um sich Lebensmittel zu kaufen und andere nicht. Warum Väter ihre Kinder schlugen oder warum vor allem die Steinbrucharbeiter  – sie litten an der Staublunge – alle „vor der Zeit“ starben. Schon als Kind begann ich zu begreifen, welche Auswirkungen soziale Ungleichheit hat. Unsere Eltern hatten wenig Zeit und so zog es meinen Bruder und mich oft zu den Nachbarn. Der Nachbar mit dem Schaukasten hatte es mir besonders angetan. Einmal, weil er drei Töchter hatte, die, etwas älter als wir, sich um uns annahmen. Zum anderen aber, weil er anders war. Ruhiger und besonnener, man hörte ihn nicht mit seinen Kindern schreien und auch dem Alkohol war er nicht zugeneigt. Er kam ohne Umwege nach der Arbeit nachhause, verbrachte viel Zeit im Garten und besaß auch Kleintiere. Wenn er die Abendnachrichten im Radio hörte, mussten wir ruhig sein. Er interessierte sich für das Weltgeschehen. Der Aufstand in Ungarn ist meine erste politische Erinnerung. Alles aus dem Radio. Und Zeitschriften und Zeitungen lagen auch herum. Andere als in meinem Elternhaus, wo katholisches Schrifttum in seiner ganzen Üppigkeit zur Verfügung stand.
Auch die Inhalte im Schaukasten standen im Gegensatz zur Umgebung, die von einer geradezu atavistischen Ursprünglichkeit geprägt war und in die die Moderne erst einzuziehen begann. Im Schaukasten war von sozialem Fortschritt und sozialer Gerechtigkeit die Rede, hier wurde das ASVG, das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz abgefeiert und hier erfuhr ich auch, dass es einen Weltfrauentag gibt. Auch mit dem Wort Arbeitszeitverkürzung wurde ich erstmals auf diese Weise konfrontiert. Die Sprache glich jener aus den Radionachrichten. Hier wurde nicht geflucht. Die Plakate versprachen politische Lösungen für die Probleme unter denen die Menschen im Dorfe litten. Aber auf beklemmende Weise standen sie nicht im Bezug dazu. Niemals hörte ich jemanden, die Wörter aus dem Schaukasten verwenden, die ich als Schulbub zu buchstabieren versuchte. Ich kann mich auch nicht erinnern, jemals jemanden gesehen zu haben, der vor dem Schaukasten innehielt. Aber durch ihn war die neue, die moderne Zeit im Dorf präsent. Plakativ. Irgendwann einmal zerbrach die Scheibe, die aus Blech angefertigten drei Pfeile verschwanden, bis dann der Schaukasten aufgeben wurde. Jahrelang erinnerten die aus dem Boden ragenden Profilträger noch daran, dass es einmal jemanden gegeben hat, der sich als Außenposten einer anderen, besseren Welt verstand. Wann das alles passierte, weiß ich nicht mehr genau. Ich bin aus dem Dorf weggezogen und nur mehr sporadisch nachhause gekommen. Vor allem hat sich das Dorf selbst zu seiner Unkenntlichkeit verändert. In seiner damaligen Gestalt ist es nicht mehr existent.
Das Verschwinden des Schaukastens dürfte freilich zu einem Zeitpunkt vor sich gegangen sein, als die Sozialdemokratie in meinem Dorf erstmals den Bürgermeister stellte. Dies geschah 1967 bei den oberösterreichischen Landtags- und Gemeinderatswahlen. Erstmals und zum einzigen Mal war die oberösterreichische Sozialdemokratie die stärkste Kraft im Landtag. Viele Gemeinden wechselten bei dieser Gelegenheit den Bürgermeister. Meine Gemeinde sollte von da an mehr als vier Jahrzehnte von der Sozialdemokratie regiert werden. Der Wechsel damals war eine Sensation. Seit der Einführung einer demokratischen Gemeindeverfassung nach dem Ersten Weltkrieg hatten immer nur die Vertreter der Bauernschaft das Sagen gehabt. Der neue rote Bürgermeister war bezeichnenderweise der Gastwirt, beim dem die Steinbrucharbeiter einkehren zu pflegten. Der Bürgermeisterwechsel hatte nicht nur mit den zweifelsohne vorhandenen persönlichen Fähigkeiten des Kandidaten zu tun. Vielmehr war er Resultat eines Prozesses, der sich in den 1960er Jahren über ganz Westeuropa auszubreiten begann. In seinem Gefolge kam es zu gravierenden politischen Machtverschiebungen, die so etwas wie ein Goldenes Zeitalter der Sozialdemokratie einleiteten. Es war die Zeit, in der sich Menschen, wie ich, aus innerer Überzeugung der Sozialdemokratie anschlossen. Nicht, weil es uns in die Wiege gelegt war, sondern, weil wir von der Vorstellung der Gleichheit der Menschen überzeugt und von der Vorstellung getrieben waren, durch die richtigen Argumente die Welt zum Besseren verändern zu können. Nicht von ungefähr sprach man daher damals auch vom „Genossen Trend“, der für ein stetiges Wachstum der Sozialdemokratie sorgen sollte.

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Fracture Zone – Weidenholzer meets Eichholzer

Irgendwo über dem Atlantik. Ich habe die „Moving Map“ eingeschaltet. Landkarten haben mich schon als Kind interessiert, vor allem die Ozeane. Die ganze Zeit irritiert mich ein Punkt auf der Karte: Charlie-Gibbs Fracture Zone. Er verweist auf die tektonische Bruchzone unter dem Atlantik. Langsam, ganz langsam entfernen sich die amerikanische und die eurasische Platte voneinander. 2,5 cm pro Jahr.
Ich bin am Weg nach Kanada, gemeinsam mit Kollegen aus dem EU-Parlament. Wir wollen uns mit der dortigen Migrationspolitik vertraut machen. In Zeiten von Trump ist es wichtig, die transatlantischen Beziehungen im Auge zu behalten. Irgendwie kriege ich die Befürchtung nicht los, dass sich die beiden Kontinente mit wachsender Geschwindigkeit voneinander entfernen. Ich komme mit der Flugbegleiterin ins Gespräch. Ihr Deutsch ist eigenartig. Klingt zwar muttersprachlich, aber oft fehlt es an den entsprechenden Vokabeln. Ihre Mutter kam aus Deutschland. Sie freue sich ihre Muttersprache im Gespräch mit mir zu „improven“. Sie sagt es wirklich so. Sie ist stolze Kanadierin und stolz auf ihre deutsche Herkunft. Womit sie nicht zurechtkäme wäre dieser deutsche Karneval. Das fände sie überhaupt nicht lustig. Ob man dafür den Ausdruck „gekunstelt“ verwenden könne. Ich bejahe ihre Frage. Sie meint, dass ihre Mutter eigentlich aus Polen käme, aus Schlesien. Sie hätte Eichholzer geheißen. Wir reden über das großartige Breslau und darüber was der Unterschied zwischen Eichenholz und Weidenholz wäre. Und dass Deutsch als Muttersprache zu haben nicht bedeute, Deutsche(r) zu sein.
Im Multi-Kulti Parlament
Bei allen Menschen, mit denen ich fortan in Kontakt komme, geht es um deren Herkunft. Ungefragt erfährt man vom jeweiligen Gegenüber, ob sie/er im Land geboren wurde oder woher die Eltern und Großeltern kamen. Die meisten Abgeordneten, mit denen wir in Ottawa zusammentreffen, haben ihre Wurzeln außerhalb Kanadas. Der Kollege neben mir stammt aus dem Libanon, die Kollegin gegenüber aus Hongkong. Rund um den Tisch versammelt, Menschen aus Polen, Italien oder Kambodscha, ein deutschstämmiger Jude. Und eine Abgeordnete ukrainisch- mexikanischer Abstammung, die mit Stolz erzählt, in ihrem Wahlkreis gäbe es viele Portugiesen, die ihr besonderes ans Herz gewachsen wären. Ein älterer Kollege von der Konservativen Partei meint, er würde sich da direkt exotisch ausnehmen, da er lediglich irische Eltern aufweisen könne. Ich bin mir sicher, dass es weltweit kein Parlament mit einem derart hohen Anteil von Abgeordneten mit migrantischem Hintergrund gibt. Das spiegelt die gesellschaftliche Realität des Landes wider. Von woanders zu kommen, anders auszusehen das ist hier kein Nachteil. Im Gegenteil: „Diversity makes Canada great“. Das konnte ich – als Kontrapunkt zu Trump – immer wieder hören. Den Prozess der Nationswerdung Kanadas hätte es ohne dieses leidenschaftliche Bekenntnis zur Multikulturalität niemals gegeben. Und Kanada würde auch nicht zu den wohlhabendsten Ländern der Welt gehören. Das multikulturelle Toronto boomt, weil es Menschen aus der ganzen Welt anzieht. Kanadierin oder Kanadier ist man, wenn man in diesem Land lebt und arbeitet. Eine Kopftuchdebatte, nein, so etwas würde es hier niemals geben.
Immer wieder fällt mir auf, wie unaufgeregt über Themen geredet wird, die bei uns mittlerweile die Menschen entzweien. Wie würde man hierzulande reagieren, wenn ein Minister, der Sikh ist, seinen Turban tragen würde oder eine Abgeordnete Kopftuch. Mich überrascht eine Kirche unweit des Parlaments in Ottawa. Deutlich sichtbar ist ein grüner Halbmond, unübersehbar der Zusatzvermerk „Solidarity.“ Ein paar Wochen zuvor hatte es einen Anschlag auf eine Moschee gegeben. Ja, Kanada ist anders. Als Europäer reibt man sich die Augen. Können wir aus den Erfahrungen lernen? Sollten wir? Aber geht das überhaupt? Sicherlich haben uns die Kanadier eines voraus: Sie wissen, worüber sie reden, wenn es um Diversität geht. Unterschiede werden zelebriert und hochgehalten. Einig ist man sich freilich, wenn es um die kanadischen Werte geht. Die werden von niemandem in Zweifel gestellt. Kanada ist eine durch und durch westliche Gesellschaft, sehr europäisch. Vielleicht sogar das bessere Europa.
Canada4
Noch sind die Rechtspopulisten sehr ruhig. Das liegt daran, dass die Vorzüge der Zuwanderung klar ersichtlich sind. Postfaktische Hetze oder opportunistische Symbolpolitik greifen nicht wie hierzulande. Noch ist die Politik nicht vom mitteleuropäischen Stumpfsinn erfasst. Das hängt auch damit zusammen, dass Probleme nicht unter den Tisch gekehrt werden. Probleme wären da, um gelöst zu werden. Das hören wir oft. Ganz anders als bei uns in Mitteleuropa, wo Probleme dazu dienen, Ängste zu schüren. Nicht Ideologie, sondern Pragmatismus bestimmt die Migrationspolitik. Immer wieder ist von „managed migration“ die Rede. Die Menschen haben das Gefühl, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Kontrollängste gibt es nicht. Alles ist nachvollziehbar. Die Zahlen aus dem Vorjahr sind beeindruckend: Etwa 160.000 Menschen wandern jährlich „regulär“ nach Kanada ein, indem sie sich bewerben und akzeptiert werden, weil sie bestimmten Kriterien entsprechen. 11.000 weil sie als Asylwerber persönlichen Schutz suchen, 25.000 als Kontingentflüchtlinge, weil der kanadische Staat bereit ist, seine Verpflichtungen als Mitglied der internationalen Gemeinschaft wahrzunehmen. 85.000 kommen im Rahmen der Familienzusammenführung. Das erschreckt niemanden, weil die Menschen wissen, wie wichtig es ist, seine Lieben um sich zu haben. Die Erinnerung daran, selbst eingewandert zu sein ist allgegenwärtig. Wir treffen Vertreter einer Organisation, deren Gründer italienische Einwanderer waren und die sich momentan um syrische Kontingentflüchtlinge kümmern. Diese wurden im Rahmen des Resettlement-Programms aufgenommen. Menschen, deren Auswahlkriterium es war, zur Gruppe der „most vulnerable“ zu gehören. Aufnahmekriterium war nicht die beste Integrationsmöglichkeit, sondern die besondere Hilfsbedürftigkeit. Wie jetzt bei der Aufnahme von beinahe 2000 jesidischen Binnenflüchtlingen aus dem Nordirak.
Initiative für Flüchtlings-Patenschaften
Wenn NGOs oder Privatbeteiligte Patenschaften eingehen, sind auch persönliche Präferenzen möglich. Dieses Partnerschaftsprogramm ist einzigartig, weil sich Menschen einfach zu Gruppen zusammenschließen können, um Verantwortung für eine oder mehrere Personen zu übernehmen: finanziell, als Mentor und Begleitperson. Nach unserer Rückkehr haben wir Anträge im Rahmen der Reform des europäischen Asylwesens eingebracht, derartiges auch in Europa zu ermöglichen. Es sieht gut aus.
Ja, es ist notwendig, von anderen Kulturen zu lernen. Was Migration und Flucht anbelangt auf jeden Fall von Kanada. Am Rückflug über den Atlantik ist sie wieder präsent, die Fracture Zone. Der Flug ist unruhig, ich träume vor mich hin und wache immer wieder auf. Nein, ich werde aufgeweckt, von Gespenstern, die Donald Trump und Steve Bannon ähnlich sehen. Ich habe das Gefühl, als würde unter mir alles ins Wanken geraten, Amerika und Europa sich rasant voneinander entfernen. Ich höre Nummer 45 sagen, dass nach der Mauer zu Mexiko auch eine solche zu Kanada notwendig wäre. Das, was mir seit meiner Kindheit vertraut war, die westliche Wertegemeinschaft, scheint sich gerade aufzulösen. Der Atlantik verbindet nicht mehr. Die Bruchzone ist allgegenwärtig. Alles vorbei? Mitnichten. Die Krise ist Europas Chance und Verpflichtung zugleich.

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