Ich lese gern die FAZ, weil sie gut recherchiert ist, und weil sie das bürgerliche Leitmedium Deutschlands darstellt. Will man wissen, wohin sich Europa bewegt, dann ist ihre regelmäßige Lektüre wichtig, wenn nicht unverzichtbar. Schon längere Zeit aber fällt mir ein europaskeptischer, immer häufiger auf deutsche Befindlichkeiten rekurrierender Tonfall auf. Dabei geht es nicht mehr, wie vor gut einem Jahrzehnt, darum, in selbstkritischer Manier zu diskutieren, was sich in Deutschland alles ändern sollte. Diesmal ist die Befindlichkeit nicht nach innen gerichtet. Es geht um die Außensicht, also was sich aus deutscher Sicht in Europa zu ändern hat und wie die europäischen Partner – oder klingt es nicht schon wie „die anderen“? – darauf reagieren.
Es wäre interessant, diese Veränderungen inhaltsanalytisch aufzuarbeiten. Heute möchte ich mich auf die Analyse der FAZ-Ausgabe vom Gründonnerstag, die mich über das verlängerte Osterwochenende begleitet hat, beschränken – in dessen Mittelpunkt die Aufarbeitung des Zypern-Debakels, ein ausführliches Interview mit dem zypriotischen Außenminister sowie Berichte über die Verärgerung der Regierungskoalition über Kritik an der deutschen Position. Alle seien „Gegen Deutschland“, so der Titel eines Kommentars von Klaus-Dieter Frankenberger in der Printausgabe am 29. März 2013. Deutschland würde Führungsverantwortung übernehmen und dafür mit „Nazi-Vergleichen“ abgestraft werden. Eigentlich sei ja ganz Europa froh, dass die Deutschen so tough vorgehen, die politisch Verantwortlichen anderer Länder würden sich allerdings gern hinter Deutschland verstecken. „Thatcher-Erfahrung“,  nennt das der Kommentator. Ganz im Sinne des liberalen Credos würden sich eben die Besseren, die Tüchtigeren durchsetzen. Daher solle man nicht dauernd Ressentiments bemühen und die „Sündenböcke für die eigene Lage nicht in Berlin suchen.“ Das Resümee ist einfach: „Wenn Deutschlands Stärke ein Problem für die EU ist, dann hilft nur eines: Auch unsere Partner müssen stark werden. Ist das schon belehrend?“ Gerade dieser letzte Satz ist entlarvend, zeigt er doch das ganze Ausmaß an Selbstgerechtigkeit, von dem das deutsche Selbstverständnis geprägt ist.
Da passt gut dazu, wenn sich anschließend Reinhard Bingener über „Luther und die Deutschen (29.3.2013)“ verbreitert. Sich über Luther ein Bild zu machen, bedeute für die Deutschen auch, sich ein Bild von sich selbst zu machen. Auch in der Krise würde sich das bemerkbar machen. Die „Wertvorstellungen der Länder, die von der Reformation geprägt wurden“ seien „in offenen Gegensatz zur Alltagsmoral anderer Länder“ geraten. Der Rekurs auf die Reformation, als „die große Geschichtstat deutscher Innerlichkeit“ (Thomas Mann) erlaubt gleichsam eine ideologische und moralisch aufgeladene Sicht der deutschen Suprematieansprüche. Man würde, so Bingener, Deutschland und dem vom Protestantismus geprägten europäischen Norden genau jene auf Luther zurückgehenden Eigenschaften „ankreiden“ : „Was in den Krisenländern als „notwendige Flexibilität“ bezeichnet wird, heißt hierzulande Vertragsbruch. Was in Paris als „Wachstumsimpuls“ gilt, hält man in Berlin für Vergeudung.“ Erinnert das alles an die Slogans, dass am deutschen Wesen die Welt genesen solle, an die deutsche „Mannestreue“ und all diese unsäglichen und gefährlichen Narrative, die mit der Gründung der EU überwunden schienen?
Es handelt sich um eine Momentaufnahme. Als regelmäßiger Leser der FAZ komme ich allerdings immer mehr zur Überzeugung, dass sich in Deutschland eine Abkehr von Europa vorbereitet. In der Printausgabe wird auch das neue Verhältnis der (krankhaft europaskeptischen) Briten zu den Deutschen zelebriert: „Fast scheint es, als werde nun endlich alles gut. Im Oktober soll gemeinsam der Völkerschlacht bei  Leipzig gedacht werden, die die Briten… an der Seite der Kontinentalmächte sah, die Napoleon erfolgreich zurückschlagen konnten….. Wächst da womöglich – nach einem Jahrhundert offener und versteckter Feindseligkeiten – zusammen, was zusammengehört?“ So viel Geschichte, zu viel Geschichte. Ich erinnere mich, dass es genauso am Balkan begonnen hat. Mit dem Beschwören lange zurück liegender Ereignisse und mit dem Zuschreiben von Attributen an einzelne Völker.
Aber: Was helfen solche moralisierenden Zuschreibungen, wenn es darum gehen soll, einen Ausweg aus der Finanzmarktkrise zu suchen? Der Nationalismus ist ein Konstrukt, das zunächst in den Köpfen entsteht, Befindlichkeiten überhöht und Realitäten schafft, denen man irgendwann nicht mehr entfliehen kann. Noch ist das möglich. Nicht um ein Europa nach deutschem Ebenmaß geht es, sondern um ein europäisches Deutschland, ein europäisches Frankreich oder (schön wär’s) ein europäisches Großbritannien. Da ist es geradezu ein Hoffnungszeichen, wenn einen Tag vor dem Gründonnerstag in eben dieser FAZ Ulrike Guérot und Robert Menasse in  “Es lebe die europäische Republik!” ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Europäische Republik veröffentlichen und dazu auffordern, „mit aller Kreativität, zu der dieser Kontinent fähig ist“  zu diskutieren, „wie die nachnationale europäische Demokratie, am Ende konkret institutionell verfasst sein wird.“