Europa braucht wieder eine Ostpolitik

Über die Ehrung der New Republic Foundation freue ich mich wirklich. Von Repräsentanten des demokratischen Ungarn ausgezeichnet zu werden, bedeutet mir als Österreicher und überzeugten Europäer sehr, sehr viel. Ungarn, das ist nicht nur das Nachbarland, mit dem wir durch eine gemeinsame Geschichte verbunden sind.

Die Natur hat es so eingerichtet, dass die Donau unsere gemeinsame Lebensader ist. Alles hängt zusammen, fließt ineinander. Ob wir es wollen oder nicht. Ich bin oft in der weiten Welt unterwegs und werde dann nach meiner Herkunft gefragt. Immer wieder muss ich den Menschen erklären, dass ich zwar Deutsch spreche, aber deswegen noch lange kein Deutscher bin. Da kommt dann oft die Rede auf Mitteleuropa, auf Österreich-Ungarn. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass ich jetzt in Habsburg Nostalgie verfalle. Dieses Kapitel sollte für uns endgültig abgeschlossen sein. Vielmehr will ich mich dem gemeinsamen geografischen Raum – unserer gemeinsamen Heimat also – widmen. Im Deutschen erweckt dieser Begriff mitunter rückwärtsgewandte Assoziationen. Ich verwende ihn aber in einem emotionalen, in die Zukunft gewandten Sinn. Heimat liegt persönliche Vertrautheit zugrunde. Im Sinne Ernst Blochs ist das „ein Ort, der allen in die Kindheit scheint.“ Also:

Ich bin in einem kleinen Dorf an der österreichisch-bayerischen Grenze aufgewachsen, recht weit weg von Ungarn. Und dennoch habe ich sehr früh eine innige Vertrautheit entwickelt. Als ich gerade ein bisschen Lesen konnte, begann ich mich für Zeitungen zu interessieren. Fernsehen gab es noch nicht. Mich faszinierten die Bilder vom ungarischen Freiheitskampf, sie haben sich tief in mein Unterbewusstsein eingeprägt, auch einen Namen, den ich damals mit Nagy statt Notsch aussprach, habe ich seither immer präsent. Und ich weiß noch, wie ich meinen Vater mit der Frage, was denn Freiheit bedeute in Bedrängnis brachte. Es blieb nicht bei den Zeitungsbildern. Bald kamen Menschen, Ungarn- Flüchtlinge, wie man sie damals wertschätzend nannte. Freundliche Menschen. Und wieder war ich neugierig. Besonders die Sprache hatte es mir und meinen Schulfreunden angetan, nicht nur weil wir rein gar nichts verstanden haben, sondern auch wegen ihrer einzigartigen Sprachmelodie. Das ist bis heute so geblieben und es klingt vertraut, wenn ich irgendwo in der weiten Welt Menschen Ungarisch sprechen höre.

Als Heranwachsenden hat mich nie die Frage losgelassen, warum zwischen unseren Ländern ein Eiserner Vorhang existierte und warum unser Europa in zwei Hälften zerschnitten war. Bald begriff ich, welch persönliches Glück mir widerfuhr, dass ich auf der richtigen Seite des Zauns aufwachsen durfte. Meine Sympathie gehörte vor allem jenen Menschen auf der anderen Seite, die sich gegen dieses Unrecht zur Wehr setzten.

Im Prager Frühling oder in Polen nach den Streiks in der Danziger Werft. Immer wieder versuchten die Menschen im Osten gegen die grässliche Diktatur und die permanente Freiheitsberaubung anzukämpfen. Das war gefährlich, es erforderte Mut, Ausdauer und Fantasie. Die Menschen im Westen hingegen beobachteten die Vorgänge im Osten oft wie in einem Film. Es stimmt: Kontakte waren nur schwer möglich, aber das entschuldigt nicht unsere provokante Passivität. Das trifft besonders auf Österreich zu. Wir genossen es, dem Schicksal, das dem Osten widerfuhr, entkommen zu sein, genossen es, das Schaufenster des Westens zu sein. Schon damals trat etwas zu Tage, was heute alle Diskussionen über die gegenwärtige Situation in Osteuropa so mühsam macht, ein westliches Überlegenheitsgefühl, das man nur überheblich nennen kann.

Der Osten interessierte sich zwar für uns, aber wir nicht für ihn. Außer wenn es etwas Billiges zu kaufen gab. Natürlich ist das eine Vereinfachung, es gab auch viele, denen das nicht behagte. Ich bemühte mich dazu zu gehören. Aber den meisten von uns entging, dass aus den Erfahrungen der historischen Niederlagen lernend sich die Menschen im Osten neu zu organisieren begannen, von unten als Zivilgesellschaft. Ein Begriff übrigens, den man im Westen zu diesem Zeitpunkt nicht kannte. Der spätere polnische Ministerpräsident Mazowiecki sprach in diesem Kontext von „der Kraft der Gesellschaft“, von ihren geistigen Werten, von ihrer Klugheit bei der Geltendmachung der Menschenrechte und den Rechten der Nation. Uns im Westen mangelte es am Verständnis dafür. Wir waren von den symbolischen Akten fasziniert, vom Fall der Mauer, dem Durchschneiden des Grenzzauns oder von der feierlichen Beisetzung der sterblichen Überreste von Imre Nagy.

Damit sind wir wieder in Ungarn. Ich erinnere mich noch gut daran. Dieses Ereignis verfolgte ich im Fernsehen und ich wusste auch, wie man Nagy wirklich aussprach. Vor allem fiel mir ein junger, unrasierter Mann im offenen Hemd auf, der so gar nicht zu den übrigen Akteuren zu passen schien. Schon damals zeigte Viktor Orbán seine Fähigkeit die Rolle des „Uomo Virtuoso“ zu spielen.

30 Jahre sind seither vergangen, das Denkmal von Imre Nagy wurde von seinem prominenten Platz entfernt und Ungarn wird von einer politischen Figur dominiert, die dem vom Machiavelli beschriebenen Habitus entspricht. Es steht mir nicht zu, die innenpolitischen Vorgänge in Ungarn zu kommentieren. Dafür gibt es bessere Experten in diesem Raum. Diese Vorgänge haben allerdings eine über Ungarn hinausreichende, europäische Dimension. Das Europäische Parlament hat im September mit einem historischen Beschluss ein Artikel 7 Verfahren gegen Ungarn eingeleitet. Wir erwarten, dass die Mitgliedstaaten sich ernsthaft damit auseinandersetzen. Das nicht zu tun wäre ein fataler Fehler.

Was gegenwärtig in Ungarn geschieht, ist gegen den Geist der europäischen Verträge gerichtet, verstößt gegen alle Prinzipien der liberalen Demokratie und ist vor allem ein Schlag ins Gesicht all derer, die jahrzehntelang gegen die Diktatur gekämpft haben. Ungarn ist zu einer Fassadendemokratie geworden. Für die Opposition wird es immer schwieriger, ihre verfassungsmäßige Rolle wahrzunehmen, die Zentraleuropäische Universität (CEU) musste das Land verlassen, die Zivilgesellschaft wird zunehmend drangsaliert und verliert ihre Handlungsspielräume. Die Menschen sind zutiefst verängstigt, weil sie einer Propagandamaschinerie ausgesetzt sind, die die freie Presse marginalisiert hat. Und das alles mitten in Europa.

Was in Ungarn, in Polen  passiert, das ist den Menschen in Europa nicht egal. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahrzehnten interessiert es sie. Das ist das einzig Positive an der gegenwärtigen Entwicklung. Mittlerweile gibt es eine europäische Öffentlichkeit dafür, wenn rechtsstaatliche Prinzipien oder die Menschenrechte verletzt werden. Es scheint, als hätten wir doch aus der Geschichte gelernt. Natürlich ist vieles noch zögerlich, der Informationsstand müsste umfassender und die Gegenmaßnahmen konzertierter und effektiver sein. Vor allem, weil die Kräfte der Zerstörung noch nie so stark waren. Sie wissen, was sie wollen. Sie benötigen ein „sittliches und politisches Trümmerfeld“. Deshalb wollen sie das gemeinsame Europa kaputtmachen und ein Europa der Vaterländer an dessen Stelle setzen. Sobald sie das erreicht haben werden sie übereinander herfallen, wie sie es immer getan haben, diese (vermeintlich) starken Männer. Werden vom Germanentum oder vom hunnischen Erbe reden, von der russischen Seele oder der britischen Einzigartigkeit. Wo das dann endet, wissen wir.

Aber noch ist Europa nicht verloren. Wir müssen bloß das neu gewonnene Interesse aneinander nutzen. Wir im Westen müssen darauf verzichten euch belehren zu wollen und bereit dafür sein, auch vom Osten zu lernen. Wir müssen vor allem die gemeinsamen Probleme ansprechen. Nicht in dem wir uns gegeneinander ausspielen lassen. Wem hilft es, dass wir unseren Pflegenotstand dadurch lösen, dass ihr eure medizinischen Fachkräfte verliert oder unsere Automobilindustrie verlängerte Werkbänke im Osten errichtet und für Arbeitslosigkeit an den traditionellen Standorten sorgt. Oder warum es bei Lebensmitteln im Osten B-Qualität gibt. Diese und viele anderen Probleme lassen sich nur mit gemeinsamen europäischen Institutionen, auf der Basis gegenseitigen Respekts und mit rechtsstaatlichen Instrumenten lösen. In der Diaspora ist eine neue Generation herangewachsen, geprägt durch die Erfahrung auch in anderen Ländern gelebt zu haben. Deren Erfahrung verbindet uns und gibt Anlass zur Hoffnung unseren gemeinsamen Lebensraum als gemeinsame Heimat zu begreifen. Immer wenn ich die Bilder der Demonstrationen in Ungarn und die vielen europäischen Fahnen sehe, dann weiß ich, es gibt nicht nur dieses nationalistische Negativszenario, von dem alle reden, sondern auch eine europäische Zukunft: vorwärtsgewandt und nicht ausgrenzend.

Dann werden wir vielleicht auch den für die osteuropäische Kleinstaaterei typischen und auf geschürter Angst basierenden „antidemokratischen Nationalismus“ überwinden und dann wird sich die Freiheit entfalten können, für die die Helden meiner Kindheit 1956 gekämpft haben. Lassen sie mich zum Schluss István Bibó zu dessen Gedächtnis dieser Preis gestiftet wurde, zitieren. Als hätte er die gegenwärtige Situation vorausgeahnt, meinte er 1946: „Demokrat zu sein heißt in erster Linie keine Angst zu haben…vor der Meinung des anderen, vor den Anderssprachigen, den Andersrassigen, der Verschwörung … und vor all jenen imaginären Gefahren, die nur dadurch zu wirklichen Gefahren werden, weil wir Angst vor ihnen haben.“

Rede anlässlich der Verleihung des New Republic Award 2019 der Democratic Coalition am 9.2.2019 in Budapest