Unlängst besuchte ich Belgrad, die Hauptstadt Serbiens. Mehr als 20 Jahre sind vergangen, seit ich das letzte Mal in der damaligen Hauptstadt Jugoslawiens war. Belgrad hat sich in dieser Zeit kaum verändert. Wäre da nicht die zerbombte Sendezentrale des Serbischen Rundfunks (RTS) in der Ulica Aberdareva oder die bröckelnde Betonplatten der in 1970-er Jahren von progressiven Architekten errichteten Hochhauslandschaft im Stadtteil Novi Beograd, dann könnte man meinen, in der Zeit vor dem Zusammenbruch des Kommunismus angekommen zu sein.
Eine eigenartige Erfahrung, weil die meisten Städte sich über einen so langen Zeitraum zumeist bis zu ihrer Unkenntlichkeit verändern. In Belgrad ist die Zeit stehen geblieben, die Stadt erweckt den Eindruck, als würde sie in einer zu groß bemessenen Haut stecken.
Es ist leicht mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Mitunter hat es den Anschein, als würde die gern zur Schau gestellte Ausgelassenheit davon ablenken wollen, dass viele Menschen Unvorstellbares mitmachen mussten. Eine Stimmung, die mir auch aus Sarajevo bekannt ist.
Der Zweck meiner Reise war die Teilnahme an einer von solidar, gemeinsam mit Progetto Sviluppo, dem Olof Palme Center und den serbischen Sozialpartnern organisierten Konferenz zur Bekämpfung der Schattenarbeit (Informal Economy), im Rahmen des EU Projekts „Strenghtening Serbia-EU Civil Society Dialogue“. Die Atmosphäre war konstruktiv und offen. Dass dabei Partnerorganisationen aus Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Albanien und dem Kosovo teilnahmen, tat der positiven Grundstimmung keinen Abbruch. Im Gegenteil.
Einmal mehr ein Beweis, wie sehr Europa dazu beitragen kann, dass vernünftige Problemlösungen trotz nationaler Spannungen möglich sind. Einmal mehr auch ein Beweis dafür, dass es den meisten Menschen um ein friedliches Miteinander geht.
Eigentlich hätte ich mit einem Gefühl der Zufriedenheit nach Österreich zurückreisen können. Tat ich auch. Und trotzdem wühlte mich etwas auf, ein Gefühl des Unbehagens, ja der Hilflosigkeit. Hatte mir meine Zeitreise nach Novi Beograd nicht vor Augen geführt, was passiert, wenn Nationalismus die Köpfe der Menschen vernebelt? Ich begann mein Langzeitgedächtnis zu aktivieren, erinnerte mich an Gespräche mit Jugoslawen und Jugoslawinnen, die damals vehement beklagten, dass sie den „Süden“ auf ihre Kosten „mitfüttern“ müssten. Der Süden, das waren immer die anderen. Für die Serben das Kosovo, für die Kroaten das Kosovo und Serbien, für die Slowenen ganz Restjugoslawen. Und dann gab es noch Bosnien, das sich Serbien und Kroatien am liebsten aufteilen wollten, hätte es da nicht die Muslime, die man auch Bosniaken nannte, gegeben.
Das Misstrauen war allgegenwärtig und vor allem einer Staatsführung geschuldet, die nicht mehr in der Lage war, das Gemeinsame sichtbar zu machen und die Zentrifugalkräfte zu beherrschen. Ich erinnerte mich daran, wie schnell und leichtfertig man, gerade mit westlicher Unterstützung begann, dazu überzugehen, das Heil in der Zerschlagung Jugoslawiens zu suchen. Bei der voreiligen Herstellung nationaler Souveränität spielte auch Österreichs Außenminister Alois Mock eine wesentliche Rolle.
Dieser Glaube war naiv und gefährlich. Das war wie mit dem Geist aus der Flasche. Einmal geöffnet, ließ er sich nicht mehr beherrschen. Die nationalen Gefühle, angefacht von den jeweiligen nationalen Regierungen, entfalteten sich überschwänglich, hielten vor nichts zurück und führten zum Bürgerkrieg, zu grausamen ethnischen Säuberungen und zum Völkermord.
Der Nationalismus hat das ehemalige Jugoslawien nachhaltig verändert und um Jahrzehnte zurückgeworfen. Eine ganze Generation wird nötig sein, um wieder Anschluss an die europäische Entwicklung zu finden. Der gewaltsame Tod von mehr als 100.000 Menschen, die Folgen der Gewaltexzesse, Massenvergewaltigungen, der Vertreibung und Flucht werden noch lange in den Seelen der Menschen ihre Ablagerungen hinterlassen. Die (spät, aber doch erfolgte) Festnahme von General Ratko Mladic, markiert möglicherweise einen Zeitpunkt, von dem an die Region nunmehr ernsthaft mit der Aufarbeitung des Geschehenen beginnen kann.
Die Chancen stehen gut, da die Menschen am Westbalkan zunehmend erkennen, dass es keine Alternative zum friedlichen Zusammenleben und zur Zusammenarbeit von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft gibt.
Wolfgang Petritsch bringt die Lehre der Geschichte auf den Punkt: “Es gibt im Grunde nur eine Möglichkeit der Vereinigung, von der alle Serben träumen. Und diese ist nicht in einem Großserbien zu verwirklichen, sondern nur im europäischen Verbund.” Ja, so einfach ist es. Wäre es.
Während sich erstmals seit langem wieder eine echte Chance für Serbien und für die Region auftut, ist dieses Europa dabei, sich selbst zu zerstören. Exakt nach demselben Muster wie der Selbstzerstörungsprozess Jugoslawiens vor einer Generation.
Wieder sind es regionale Ungleichgewichte, die den Nationalismus entfachen. Man braucht nur den Menschen zuzuhören: Die faulen Griechen, die auf unsere Kosten leben, die Südeuropäer im Generellen. Schon wieder werden nationale Eigenschaften bemüht. Wie zu Zeiten unserer Großeltern: Nur keinem Italiener trauen, schon gar nicht, wenn er der Chef der Europäischen Zentralbank sein soll.
Noch funktioniert das europäische Institutionengefüge. Noch.
Ich bin froh, dass ich letzte Woche in Belgrad war. Ich bin froh, dass mir auf diese Weise drastisch vor Augen geführt wurde: Europa darf nicht passieren, was vor einer Generation Jugoslawien widerfahren ist. Europa muss sich gegen alle Renationalisierungsversuche wehren. Europa muss der Versuchung des Nationalismus widerstehen, sogar dann, wenn er nur in homöopathischen Dosen verabreicht wird.
Das historische Beispiel Jugoslawien zeigt uns, wie schnell schlechte Politik in Kombination mit dem Schüren von nationalen Vorurteilen zum Zusammenbruch eines Staatsgebildes führen kann. Und was dann als Konsequenz droht.