Erwin Pröll versteht ihn, Wolfgang Schüssel schätzt ihn und Horst Seehofer lädt ihn ein. Die Rede ist von Viktor Orbán. Der ungarische Ministerpräsident ist gegenwärtig drauf und dran, die EU zu zerstören. 25 Jahre nachdem sein Amtsvorgänger Gyula Horn den Stacheldrahtzaun durchtrennte, ließ er an der Grenze zu Serbien einen neuen errichten. Nicht nur um Flüchtlinge abzuhalten. Vielmehr gibt er vor, das „christliche Ungarn“ vor einer islamischen Invasion zu schützen. Die Europäische Kommission konnte ihn nicht davon abhalten. Ihre Warnungen blieben auffallend vage. Wohl auch deswegen, weil sich manche bereits innerlich mit seiner Existenz abgefunden, oder sogar klammheimlich mit ihm angefreundet haben.
Orbáns Freunde
Nicht wenige äußerten im Vorfeld der Maßnahmen sogar Verständnis. So der glücklose Obmann der christlich-sozialen ÖVP, die sich bis vor Kurzem noch stolz als Europapartei präsentiert hatte. Für Reinhold Mitterlehner ist mittlerweile ein „Konflikt mit Orban absolut sinnlos“. Fragt sich bloß: warum? Es wird wohl nicht nur die Sorge, um die im Nachbarland prominent vertretenen österreichischen Banken sein? Und auch nicht die Erkenntnis, dass das Gesetz des Handelns gegenwärtig beim Puszta-Putin zu liegen scheint. Da muss schon eine gewisse Grundsympathie vorhanden sein. So wie bei vielen Parteifreunden in der EVP auch. Dort ist FIDESZ nach wie vor Mitglied. Orbán wird mit Samthandschuhen angefasst und Kritik wird nur hinter verschlossenen Türen geäußert. Was macht Viktor Orbán für viele Konservative so unverzichtbar? Machtkalkül? Vielleicht. Aber auch ohne FIDESZ wäre die EVP noch immer Nr. 1 im Europaparlament. Viktor Orbán ist in der Europäischen Volkspartei durchaus umstritten. Manche hassen ihn und noch mehr fürchten ihn. Nicht wenige verehren ihn. Er ist der Prellbock, hinter dem man sich verstecken kann. Einer für die „Dirty Jobs“, über die man nicht gerne redet, die man aber mitunter für notwendig erachtet. Darum wird man ihn auch nicht fallen lassen. Ich behaupte, dass Orbán deswegen so wichtig ist, weil er eine potenzielle Option bedeutet. Eine Art „Wildcard“ für Zeiten, wo der neoliberal verzerrte marktwirtschaftliche Grundkonsens der europäischen Eliten an Legitimität einbüßt. Man braucht bloß miteinander zu vergleichen, wie der pro-europäische und moderate Fraktionsvorsitzende der EVP, Manfred Weber behutsam mit Viktor Orbán umgegangen ist und wie harsch er ein paar Wochen später Alexis Tsipras attackierte. Das ist auch die rote Linie für viele in der EVP. Solange die Sozialdemokratie überall brav mitmacht, ist eine Zusammenarbeit mit ihr zweifellos zu bevorzugen. Einen grundsätzlichen Kurswandel – weg von der Fixierung auf Austerität und Privatisierungsdogma – würde man aber nur ungern akzeptieren. Es ist also vorrangig ein taktisches Spiel. Die EVP braucht Orbán. Und umgekehrt braucht Orbán auch die EVP.
Politik als Business
Orbán ist ein Jahrhundertpolitiker. Zumindest aus ungarischer Sicht. Er versteht sein Geschäft. Und das ist wörtlich zu nehmen. Die Verteilung von EU-Geldern dient dem Ausbau und der Zementierung der politischen Macht. Und sie rechnet sich für Orbáns Familie und Freunde. Immer wieder müssen sich die EU-Institutionen mit dem Verdacht der missbräuchlichen Verwendung europäischer Gelder beschäftigen. Zuletzt im Fall der Vergabe ehemals staatlichen Pachtlandes. Manches ist in der Tat verwunderlich. Die Mühlen der europäischen Kontrollinstanzen mahlen freilich recht langsam. Aber irgendwann kommt alles ans Licht. Mit einer gewissen Berechtigung kann man darauf hoffen. Weil es nicht akzeptabel ist, dass EU-Gelder so kanalisiert werden können, dass sie vorrangig der Verfestigung der Machtposition einer kleinen Gruppe dienen. Ohne die EU-Milliarden gäbe es praktisch keine öffentlichen Investitionen in Ungarn. Die öffentliche Auftragsvergabe ist so konstruiert, dass sie als Füllhorn Orbánscher Wohltaten empfunden wird. Würde die EU strengere Maßstäbe anlegen, dann wäre das Kapitel Orbán sehr schnell Geschichte.
Machterhalt mit allen Mitteln
Schon einmal wurde es recht knapp für Orbán. Das ist noch kein Jahr her. Korruptionsvorwürfe häuften sich, Nachwahlen wurden verloren und immer mehr Menschen gingen auf die Straße. Orbán war angezählt und musste einen schleichenden Machtverlust befürchten. Der Verlust politischer Macht hätte natürlich sein Geschäftsmodell gefährdet. Das musste verhindert werden. Mit Recht sehen viele Beobachter in der ungarischen Flüchtlingskrise eine bewusste Eskalationsstrategie Orbáns. Seit Jahresbeginn, seit dem Anschlag auf Charly Hebdo verfolgte er einen Kurs, der eine Bedrohung Ungarns durch islamistische, mit terroristischen Gruppierungen sympathisierende Horden heraufbeschwor. Das „liberale Blabla“ der EU-Eliten wäre nicht geeignet, das zu verhindern. Da müsse Ungarn zur Selbsthilfe greifen. Eine Volksbefragung auf der Basis eines suggestiven Fragebogens wurde durchgeführt. Großflächenplakate – sinnvollerweise in ungarischer Sprache – forderten die Migranten auf, nicht in Ungarn zu bleiben und schließlich wurde mit dem Bau eines Zauns zu Serbien begonnen. Die Situation geriet aus den Fugen. Nun konnte er sich, wie geplant, nach seinem Geschmack inszenieren: Orbán als Retter Ungarns, Orbán als Verteidiger des Abendlandes, Orbán als Mann der Tat, der die liberalen Weicheier in Brüssel vor sich hertreibt. Das Spiel ist aufgegangen. Seine Beliebtheitswerte im Inland sind gestiegen. Seine, ebenfalls unter innenpolitischem Druck stehenden Nachbarn beginnen, ihn zu kopieren und für alle europaskeptischen Strömungen am rechten Rand ist er mittlerweile zum Helden mutiert.
Orbáns Programm heißt Orbán
Ist Orbán ein rechter Ideologe? Viele seiner Äußerungen würden diesen Schluss nahelegen. Seine Absage an die „liberale Demokratie“ oder sein bizarres Plädoyer für die ungarische Nation. Aber Orbáns Antrieb ist nicht so sehr ideologischer Natur, es ist sein ausgeprägter Machttrieb, der sich ideologische Positionen nach dem Opportunitätsprinzip zu eigen macht. Orbáns Ultima Ratio heißt Orbán. Und sein Problem ist die Unberechenbarkeit demokratischer Entscheidungen. Nur schwer verkraftete er, als er 2002 schon nach einer Periode aus dem Amt des ungarischen Ministerpräsidenten gewählt wurde und auch 2006 überraschenderweise nicht reüssieren konnte. Gegen die verhassten Sozialisten setzte er daher auf eine gnadenlose Oppositionspolitik, verteufelte Ferenc Gyurcsány wegen dessen „Lügenrede“ und begann auf dem Klavier des Nationalismus zu spielen, auch um den Preis, damit die rechtsradikale Jobbik ins politische Spiel zu bringen. Er wollte weg vom angelsächsischen Demokratiemodell. Viel wurde über Gyurcsánys Geheimrede geschrieben. Weniger bekannt ist Orbáns Geheimrede, ein Jahr vor seinem triumphalen Wahlsieg 2010. Dabei versprach er, dem „dualem Parteihader“ ein Ende zu bereiten und seine Partei im „zentralen politischen Kraftfeld“ für die kommenden 15 bis 20 Jahre „zum allein herrschenden Machtfaktor zu machen.“ Wieder an die Macht gelangt, sollte nichts dem Zufall überlassen bleiben. Vor allem sollte – wie in westlichen Demokratien üblich – verhindert werden, dass das Pendel wieder zurückschlägt. Der überwältigende Wahlerfolg, der nicht zuletzt deswegen zustande gekommen war, weil die Linke regelrecht kollabierte, brachte Orbán aufgrund des damals in Ungarn geltenden Mehrheitswahlrechts eine 2/3 Mehrheit der Mandate. Dieses Momentum nutzte er für einen radikalen Umbau Ungarns zu einem autoritären Staat: unbeirrt, unnachgiebig, alle Widerstände aus dem Weg räumend. Von der Europäischen Union ließ er sich schon gar nicht davon abbringen. Der LIBE-Ausschuss des EP (Tavares-Report) stellte zwar eindeutige Verletzungen der Grundrechte fest. Das blieb freilich ohne Folgen. Orbán machte ein paar Schritte zurück und überbot sich gleichzeitig in nationalistischer Rhetorik. Wesentlich war für ihn bloß, nicht von den europäischen Futtertrögen abgeschnitten zu werden. Das gelang und damit auch der nächste Wahlerfolg. Dieser fiel zwar verhaltener aus als vier Jahre zuvor, erlaubte aber, im selben Stil fortzufahren. Großzügig hatte Orbán das Wahlrecht geändert, die Wahlkreise nach seinen Bedürfnissen zugeschnitten und Hunderttausende, für nationalistische Parolen besonders anfällige, ethnische Ungarn aus den benachbarten Ländern zu Staatsbürgern erklärt und damit zu Wahlberechtigten gemacht. Somit konnte er, wie geplant, ein System schaffen, das einen Machtverlust sehr unwahrscheinlich macht. Das alles widerspricht eindeutig dem westlichen Grundverständnis von Demokratie. Aus diesem Grund ist es nur naheliegend, dass sich Orbán nach gewonnener Wahl bei seiner berühmten Rede auf der Sommeruniversität im siebenbürgischen B?ile Tu?nad von der liberalen Demokratie lossagte. Dabei erklärte er unmissverständlich, mit der EU als einer Wertegemeinschaft und mit den darauf basierenden Kopenhagen-Kriterien, zu deren Einhaltung sich Ungarn beim EU-Beitritt verpflichtet hatte, nichts zu tun haben zu wollen: „Dass eine Demokratie nicht notwendigerweise liberal sein muss. Etwas, das nicht liberal ist, kann noch eine Demokratie sein.“
Orbáns autoritäre Vorbilder – alles ist möglich
Orbán verachtet nicht nur die europäische Wertegemeinschaft. Er bezweifelt auch die Wettbewerbsfähigkeit der EU: „Die „Stars” der internationalen Analysen sind heute Singapur, China, Indien, Russland, die Türkei.“ Eine ziemlich krude Analyse. Diesen Vorbildern müsse die ungarische Nation nacheifern: „Wir müssen uns von den in Westeuropa akzeptierten Dogmen und Ideologien lossagen und uns von ihnen unabhängig machen ….. den neuen ungarischen Staat finden, der imstande ist, uns im großen Wettlauf der Welt wettbewerbsfähig zu machen.“ Ungarns Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der EU hat sich drastisch verschlechtert. Daher ist Orbáns Benchmark auch nicht mehr der europäische Binnenmarkt. Er beklagt sogar die starke Verflochtenheit der ungarischen Wirtschaft mit der EU. Seine Vorbilder heißen mittlerweile Putin, Erdogan, Gruevski, Alijew & Co. Ein in der letzten Zeit immer häufiger auftretender autoritärer Politikertypus, dessen primäres Ziel, die Optimierung privaten Vermögens ist. Kleptokratie nennt man solche autoritären Systeme. Ungarn ist demnach auf dem Weg zu einem kleptokratischen Ständestaat. Da geht es nicht mehr primär um Ideologie, wie bei den autoritären Potentaten des vorigen Jahrhunderts, Franco, Pinochet & Co. Ideologie ist nur dann wichtig, wenn dies der Machterhaltung dienlich ist. Ebenso geschmeidig, geradezu pragmatisch ist der Umgang mit demokratischen Institutionen und Verfahren. Solange sie nicht hinderlich sind, bedient man sich ihrer. Nicht zuletzt deswegen, um vom wahren Charakter der Herrschaftsausübung abzulenken. Jene europäischen Politiker, die Orbán hofieren und verteidigen, sollten sich diese Zusammenhänge vor Augen halten. Sie sollten sich fragen, was diesen Mann, der ihre Freundschaft missbraucht, denn bewegt. Vielleicht wird ihnen dann auch klar, dass sie mit dieser Nibelungentreue zur Destabilisierung der EU beitragen. Und sie sollten unbedingt Orbáns zitierte Rede aus dem Vorjahr lesen. Vor allem seine abschließenden Bemerkungen. Sie sind unglaublich lächerlich und gleichzeitig bedrohlich. In gewisser Weise haben sie im Hinblick auf die tragischen Ereignisse dieses Sommers sogar prophetischen Charakter: „Das Wesen der Zukunft ist Folgendes: Alles kann passieren. Und „alles” ist ziemlich schwer zu definieren“. Auf jeden Fall böte diese Analyse für die „ungarische Gemeinschaft im Karpatenbecken und auf der ganzen Welt“ die historische Chance „durch Mut, voraussehendes Denken und vernünftiges, aber tapferes Handeln“ zu neuer Bedeutung zu gelangen. „Nachdem alles geschehen kann, ist es leicht möglich, dass unsere Zeit kommt.“ P.S.: Liebe Freunde in der EVP, mit so jemandem ist kein Staat zu machen. Je früher ihr euch davon abgrenzt umso besser.

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