Ich war noch nie in Srebrenica. Aber ich war in Gorazde. Beides sind Städte in Ostbosnien, an der Drina gelegen, beide Städte waren Gegenstand brutaler Belagerung während des Jugoslawienkrieges und standen damals unter dem halbherzigen Schutz der Vereinten Nationen. Ich war nur kurz in Gorazde und traf mich mit den politisch Verantwortlichen, in einem Lokal direkt an der Drina. Es waren Männer, stolze Männer.

In Srebrenica gibt es keine stolzen Männer. Srebrenica ist der Ort eines der grauenvollsten Verbrechen im heutigen Europa. 8000 seiner Männer wurden systematisch auf bestialische Weise gemordet. Genozid nennt das Völkerrecht ein solches Verbrechen, dessen Tatbestand darin besteht, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.“

Genau das geschah in den Julitagen des Jahres 1995 in Srebrenica. Mitten in Europa, vor den Augen der ganzen Welt. Deren Repräsentanten, in diesem Fall UN – Friedenstruppen aus den Niederlanden, sahen tatenlos zu, ja, ließen sich zu opportunistischen Komplizen degradieren. Die Männer von Srebrenica waren den Kräften wehrlos ausgeliefert, die sich zum Ziel gesetzt hatten, diese Region ethnisch zu säubern. Mitten in Europa. Dieser nationalistische Wahn hatte sich seit Generationen aufgebaut, basierte auf Vorurteilen, Neid und Minderwertigkeitskomplexen, immer präsent in der Region. Zumeist blieb dieser Wahn auf eine kleine Gruppe von versponnenen Abenteurern und hirnlosen Maulhelden beschränkt. Wie der berühmte Geist in der Flasche. Immer dann, wenn es kriselt, dann greift man nach der Flasche.

So auch zu Beginn der 1990-er Jahre, als Jugoslawien kollabierte. Plötzlich zählte nur mehr das Negative. Schuld waren immer die anderen. Menschen, die gute Nachbarn waren, wurden plötzlich zu Feinden. Menschen, die diese Gegend seit Jahrhunderten gemeinsam bewohnt hatten, wurden drangsaliert, ihrer Würde beraubt und erniedrigt. Sie wurden vertrieben, vergewaltigt, niedergemetzelt. Man wollte sie auslöschen, ein für alle mal. Unter der Führung, eines sich auf seine verborgene historische Größe rückbesinnenden Serbien sollte Jugoslawien aus der Krise heraussteigen wie der Phönix aus der Asche. Mit der Kraft aus der Vergangenheit hinein in eine neue Zukunft! – Auch das ist Europa.

In unserem Fall reichte die Vergangenheit zurück bis ins Jahr 1389. Zur Mutter aller Schlachten und allen Unheils, zur Schlacht am Amselfeld. 600 Jahre sind eine Ewigkeit. 600 Jahre, das sind 20 bis 30 Generationen, die diese Geschichte unentwegt fort tradiert und weiter gesponnen haben. Das prägt sich ein in die Seele eines Volkes. Wer auf einem solchen Klavier spielt, wie das Milosevic mit seiner berühmten Rede getan hat, der muss mit den Konsequenzen rechnen. Und es gilt auch: Wer sich selbst erhöht, der erniedrigt andere. Nationalistischer Größenwahn lässt sich nicht dosieren. So wie der Geist aus der Flasche. Einmal entwichen kann ihn keine Macht der Erde wieder in die Flasche zwingen. Seine Wirkung ist hochtoxisch, er vernebelt die Gehirne, macht hemmungslos und bricht alle Tabus. So geschehen in Sarajevo, Prijedor, Omarska, Visegrad und eben Srebrenica. Eine Flugstunde bzw. eine Tagesreise von Österreich entfernt. So nah und dennoch – für die Mehrzahl der Menschen hierzulande – weit weg.

Der Bosnienkrieg und als seine ultimative Übersteigerung der Genozid von Srebrenica hinterließen eine offene Wunde, die noch lange nicht abgeheilt ist. Sie zeigen auf, dass wir uns nicht selbstzufrieden damit brüsten können, Europa hätte seine Lektionen aus der Katastrophe des von den Nazis angezettelten großen Krieges gelernt. Srebrenica ist eine Stätte ,an der niemand stolz sein kann. Anders als in Orten wie Sarajevo, wo man unter vielen Opfern der brutalen Übermacht standhielt, oder eben Gorazde. Srebrenica ist eine Stätte der Schande, eine Stätte der Schmach und der Niedertracht. Srebrenica macht traurig und betroffen. Es macht hilflos, das Geschehene in Worte zu fassen. Zum Glück ist die menschliche Sprache dazu nicht fähig. Es zeigt aber auch unsere ganze Hilflosigkeit, das Unfassbare nicht verhindert zu haben oder es ungeschehen machen zu können. Angesichts der Tragik der Vorgänge reicht es freilich nicht aus, den Hinterbliebenen Mitleid entgegen zu bringen oder ihnen die Versicherung unseres tiefen und aufrichtigen Beileids abzustatten. Das ist viel zu passiv gewollt.

Srebrenica muss uns wütend machen. Zornig.

In so einer Situation kann der Zorn – der unter alltäglichen Umständen ein schlechter Ratgeber ist – ein heiliger Zorn sein. Niemals zu vergessen – das sind wir den Opfern und ihren Hinterbliebenen schuldig. Die Täter wollten alles, was vom muslimischen Srebrenica zeugen könnte: die Menschen, ihre Geschichte, ja das künftige Erinnern ein für alle mal zum Verschwinden bringen. Genauso wie es im Übrigen die Nazis hielten. In Treblinka, Sobibor oder Hartheim, wo sie alle Spuren tilgten, die an ihr verbrecherisches Tun erinnert hätten. Keine Spuren sollten übrig bleiben vom Völkermord in Srebrenica. Die Täter verscharrten ihre Opfer und unternahmen allerlei Täuschungsmanöver, um spätere Identifizierungen unmöglich zu machen. Selbst als Tote sollten sie nicht mehr existieren.

Es ist eine nur den Menschen eigene Verhaltensweise, die Toten würdevoll zu bestatten. Dies zu verweigern ist eine zutiefst unmenschliche, ja nichtmenschliche Tat. Eine der ältesten Tragödien Europas handelt davon: Antigone, die Tochter des Ödipus. Diese fühlte sich verpflichtet, auch unter Androhung der Todesstrafe für eine würdevolle Bestattung ihres Bruders zu sorgen. Sie widersetzte sich dem königlichen Gesetz und bezahlte dies mit dem eigenen Leben. Bertolt Brecht setzte die antike Tragödie in Bezug zu den Nazi Verbrechen. Was er Antigone über die Jahrhunderte zurück zurief, das gilt ebenso für die Frauen von Srebrenica: „ Noch je vergaßest Du Schimpf und über die Untat wuchs ihnen kein Gras.“

Menschen, die Srebrenica vergessen lassen wollen, die die Geschehnisse leugnen oder verharmlosen, solche Menschen tragen dazu bei, dass sich derartiges wiederholt, ja, solche Menschen leisten künftigen Verbrechen Vorschub. Das Leugnen der Verbrechen von Srebrenica ist vielmehr selbst ein Verbrechen. So wie das Leugnen des Holocaust. Niemals vergessen – dieses Motto des Antifaschismus trifft gerade in diesem Fall zu.

Wie sollte man das jemals vergessen können. Ich erinnere mich noch gut an eine Pressekonferenz der oberösterreichischen Volkshilfe, wenige Tage nach den schrecklichen Vorkommnissen. Als Gäste hatten wir Frauen, die soeben dem Grauen entkommen waren, weil sie sich über die Berge bis nach Tuzla durchschlagen konnten.

Ich erinnere mich an die Gefühle der Ohnmacht und des Zornes, die in mir hochkamen. Vor allem einen Tag später, als ich feststellen musste, dass die Medien kaum Notiz nahmen. Auf meine Vorhaltungen hin erklärte mir ein befreundeter Journalist, ich müsste doch einsehen, dass österreichische Medien die Verpflichtung hätten, nicht einseitig Partei zu ergreifen.

Aber: das Verbrechen des Genozids erlaubt keine Äquidistanz. Wer die Schuldigen nicht benennt, Unrecht nicht als solches bezeichnet, der kann keinen Schlussstrich unter die Vergangenheit setzen. Und damit gibt es auch keine Zukunft.

Nicht zu vergessen, bedeutet freilich nicht, daraus die Berechtigung ableiten zu können, das „Tätervolk“ hassen zu dürfen. Man kann Individuen hassen, aber niemals ein Volk.

Antigone, die große Frauengestalt aus der Antike, sprach, als sie bereits ihren Tod vor Augen hatte, jene seherischen Worte, die ein politisches Vermächtnis für Europa darstellen: „Nicht (mit) zu hassen, (mit) zu lieben sind wir geworden!“ Solche Größe ist nicht immer möglich und bedarf eines stetigen Bemühens.

Die Drina, dieser Schicksalsfluss Europas, ist Zeugnis davon, dass solches immer wieder gelingt. Ivo Andric, der heute keineswegs Unbestrittene, hat in seinem mit dem Nobelpreis gewürdigten Roman „Die Brücke über die Drina“ beschrieben, wie konstitutiv für die Stadt Visegrad das Zusammenleben der verschiedenen Ethnien und gleichzeitig fragil dieses Gebilde war. Er hat uns eine zentrale Erkenntnis vermittelt, ohne die Europa nicht existieren kann:

Von allem, was der Mensch baut und aufbaut, gibt es nichts Besseres und Wertvolleres als Brücken.“

https://www.weidenholzer.eu/joesblog/20-jahre-nach-srebrenica-hat-europa-daraus-gelernt-oder-droht-uns-das-schicksal-des-ehemaligen-jugoslawien/. (Aus einer Rede beim Politischen Aschermittwoch der Arbeiterwohlfahrt Bayern 2012)