Es vergeht mittlerweile kein Tag, an dem man sich für Österreich nicht fremd schämen muss. Peinlichkeiten wohin man schaut. Die österreichische Politik ist aus dem Ruder gelaufen, sie ist in einem jämmerlichen Zustand. Verantwortungsbewusstes Handeln nur mehr in Ausnahmefällen. Unerwartete Abgründe haben sich aufgetan, politische Korruption in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen. Über allem schwebt die Unschuldsvermutung. Redlichkeit und Vernunft haben ausgedient.

Schon lange geht es nicht mehr um das Lösen von Problemen, diese werden oft gezielt herbeigeredet. „So tun, als ob“ ist der Modus aller Politik hierzulande. Inhaltlicher Tiefgang und Faktentreue sind nur mehr in Spurenelementen vorhanden. Der Wahlkampf zur Bundespräsidentenwahl hat wieder einmal eindrucksvoll bewiesen, dass die politische Debatte in unserem Land unter jedem Niveau ist.

Vor zwei Jahren konnte man sich wenigstens noch der Illusion hingeben, dass mit einem (damals nicht gerade wahrscheinlichen) Abgang von Sebastian Kurz alles anders werden könnte. Kurz ist weg. Zu unser aller Glück ist Österreich (noch) nicht Ungarn geworden. Ohne das Ibiza-Video wäre es wohl anders gekommen.

Wir sind noch einmal davongekommen. Das ist das Verdienst von Teilen der Justiz, die eindrucksvoll ihre Unabhängigkeit unter Beweis stellten. Allerdings auch das Resultat eines eklatanten Scheiterns der messianisch aufgeladenen Kurz-Truppe, die von erschreckender Machtgier und Inkompetenz getrieben war. Die Seifenblase ist geplatzt und hat die strukturellen Schwächen sichtbar gemacht. Kurz wirkte wie ein Brandbeschleuniger. Das Vertrauen in das politische System ist an einem Tiefpunkt angelangt. Seit 2018 sind die Veränderungen geradezu dramatisch.

Ja, Österreich ist keine „Insel der Seligen“ mehr. In dem Gefühl, etwas Besonderes zu sein, hatten wir uns jahrzehntelang selbstgefällig eingerichtet. Das war chronischer Selbstbetrug. Österreich stand viele Jahre wirtschaftlich gut da, weil es öffentliches Verantwortungsbewusstsein gab und der soziale Ausgleich hohe Priorität hatte. Darauf konnten wir mit Recht stolz sein. Ein international bewundertes Sozial- und Gesundheitssystem war das Fundament unseres Wohlstands, weil es den Menschen Zukunftsperspektiven und Zuversicht gab.

Getrübt war diese Erfolgsbilanz freilich durch ein strukturelles Demokratiedefizit, dem man lange Zeit keine Beachtung geschenkt hat. Gleichsam ein Konstruktionsfehler der Zweiten Republik, der historisch nachvollziehbar ist. Österreich war jahrzehntelang eine, von zwei sich mit Mißtrauen begegnenden politischen Lagern gelenkte Demokratie. Im Gegensatz zu Deutschland gab es daher kaum eine am Diskurs orientierte Öffentlichkeit. Ein Vakuum, das Platz für Inszenierungen schuf. Jörg Haider versuchte sich als erster. Erfolgreich. Schrittweise wurde bislang Unsagbares zur Normalität, es zählte immer weniger was man sagte, vielmehr wer und wie.

Inszenierung über alles, persönliche Profilierung statt Expertise und Krawall statt Austausch von Argumenten. Die Politik wurde immer mehr zur Bühne, auf der sich rabiate Politdarsteller als Vertreter der kleinen Leute inszenierten, dabei aber knallhart ihre Interessen befriedigten. Ein eklatantes Beispiel ist die „Patientenmilliarde“, die aus der Krankenkasse eine Gesundheitsheitskasse zu machen vorgab, statt Einsparungen über 200 Mio Mehrkosten verursachte, die Mitsprachemöglichkeiten der Versicherten drastisch beschränkte und die Qualität der Leistungen nachhaltig beeinträchtigte. Dieses Leuchtturmprojekt der Regierung Kurz-Strache war eine teure Polit-Show auf dem Rücken der Bedürftigen. Sachliche Argumente fehlten weitgehend, die Diskussion folgte einem vorgegebenen Spin. Die politische Entscheidungsfindung war von Beratungsfirmen orchestriert. Was da im Detail passierte, werden wir erst erfahren, wenn die Sperrfrist des Staatsarchivs, wohin die relevanten Unterlagen vorsorglich ausgelagert wurden, abgelaufen ist. In vielen Bereichen läuft das nach dem gleichen Muster ab. Allerorten tummeln sich Berater, die „Reformen“ inszenieren, ohne die Einbindung der Interessenvertretungen oder das erforderliche Fachwissen, das der zuständigen Ministerialbürokratie kategorisch abgesprochen wird. Im Parlament werden dann die von Umfrageergebnissen inspirierten Projekte mithilfe des „Klubzwangs“ durchgezogen. Inhaltliche Debatten sind die Ausnahme. Die Pandemie hat die Schwächen dieser sich immer mehr verfestigenden Pseudo-Politik deutlich offengelegt. Tagtäglich wird uns das vor Augen geführt. Dieser Rückzug aus der öffentlichen Verantwortung schafft wenig öffentlichen Nutzen, vielmehr generiert er private Nutzniesser.

Ja, Österreich ist „in seinen Systemen kaputt“. Ein kolossales Scheitern lief da in den letzten beiden Jahren vor unseren Augen ab und hat den Boden für Esoterik und Radikalismus aufbereitet.

Höchste Zeit für verantwortungsbewusstes Handeln. Österreich steht am Scheideweg. Es gibt viele Baustellen in diesem Land. Wenn wir so weitermachen, dann droht uns der Absturz in die Bedeutungslosigkeit. Wenn man die Augen vor der Realität verschließt, dann löst man keine Probleme, man schiebt sie bloß auf. Und wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben.

Wohin der ausufernde Föderalismus führt, hat uns die Pandemie deutlich vor Augen geführt, ebenso was das systemimmanente populistische EU-Bashing anrichtet. Darüber müssen wir endlich faktenorientiert und mythenbefreit diskutieren. Solche ergebnisoffene Debatten lassen sich zur Zeit freilich mit einer in wesentlichen Teilen korrumpierten Medienlandschaft nicht mehr seriös führen. Unabhängige Medien sind aber das Fundament einer funktionierenden Demokratie. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Ohne Sicherstellung der Autonomie des Informationssektors gibt es keine demokratische Öffentlichkeit. Dazu gehört auch die immer mehr eingeschränkte Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Forschung. Denkfabriken ersetzen keine autonomen Universitäten.

„Checks and balances“ sind das Fundament jeder liberalen Demokratie. Nur wenn die Staatsgewalten sich auf Augenhöhe begegnen, Medien und Universitäten unabhängig sind, kann unsere Demokratie wieder zu einem Stabilitätsfaktor werden Wir brauchen starke und allgemein akzeptierte, regelgebundene Institutionen.

Das Parlament muß dabei im Mittelpunkt stehen, als unabhängige, nur den Wählerinnen und Wählern verantwortliche Kammer. Österreich hat da zweifelsohne Nachholbedarf und hinkt europäischen Standards hinterher. Für den gescheiterten Kanzler Kurz ist das Parlament bezeichnenderweise gar ein „Ort mit sehr viel negativer Energie“. Entlarvend, weil das Gegenteil der Fall sein müsste. Das Parlament hat das Potential der zunehmenden Demokratiemüdigkeit zu kontern, weil es den Beitrag der politisch Aktiven sichtbar macht. Solche praktischen Erfahrungen stärken die Kritikfähigkeit, ohne die ein demokratischer Diskurs nicht möglich ist.

In Zeiten, wo die sozialen Medien von fake-news überschwemmt werden, Schwurbler den öffentlichen Raum dominieren, das Mißtrauen auswuchert und das Zutrauen in die Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse schwindet, st das unverzichtbar. Viele Menschen stößt das ritualisierte Hick-Hack ab, bei dem nicht die Problemlösung, sondern der politische Gegner im Visier steht. So verlockend das auch ist, jetzt ist nicht der Zeitpunkt für kleinliche Abrechnungen.

Es geht ums Ganze. Amtsmissbrauch und Korruption müssen vorbehaltlos aufgeklärt werden, die Schuldigen gehören vor Gericht und die politisch Verantwortlichen abgewählt. Aber mit einem politischen Machtwechsel alleine, wie das in einer funktionierenden Demokratie normalerweise ausreicht, werden wir aber aus diesem Jammertal nicht mehr herauskommen. Neuwahlen reichen nicht. Es ist zu wenig, auf das Scheitern des politischen Gegners zu warten.

Wir brauchen einen Neustart! Argumente müssen die unerträglich gewordenen Inszenierungen ersetzen. Die politische Realität unseres Landes muss wieder demokratiefit werden. „Generalüberholung“ hat das unlängst unser Bundespräsident genannt.

Ein breit aufgestellter Reformkonvent mit dem Auftrag Österreich zu erneuern könnte der Start dafür sein. Sehr viele Menschen sind bereit, sich konstruktiv einzubringen, wenn es nur ein ernstgemeintes Angebot gäbe. Niemand darf bei diesem Prozess ausgegrenzt werden und der Kreis der Beteiligten darf nicht auf die politische Klasse beschränkt bleiben, wie beim gescheiterten Österreichkonvent vor mehr als zehn Jahren. Es geht um Transparenz und eine intensive Beteiligung der Zivilgesellschaft und der kritisch gebliebenen Teile der Öffentlichkeit. Vor allem junge Menschen müssen mitreden können. Österreich kann es sich nicht leisten noch länger in dieser Handlungsstarre zu verharren. Es ist der Zeitpunkt gekommen, dass sich die vernünftigen und am Gemeinwohl orientierten Kräfte, die es auch in den etablierten Parteien noch gibt, endlich aus der Deckung wagen. Die Opposition, besonders die Sozialdemokratie könnte dabei eine wichtige Rolle einnehmen. Wie schon oft in ihrer Geschichte müsste sie jetzt Verantwortung für die Erneuerung unseres Landes übernehmen. Wenn sie diese Herausforderung nicht annimmt, dann wird sie bald selbst Geschichte sein.