Eigentlich mag ich Sonntage. Auch solche, an denen nicht die Sonne scheint. Da ist der Grad der Fremdbestimmung um einiges geringer und mit etwas Glück komme ich dazu, jene Dinge zu tun, die mir Spaß machen. Interessantes lesen, Freunde treffen oder Pläne schmieden.
Der heutige Sonntag ist anders. Eine unangenehme Grundstimmung hält mich seit dem frühen Morgen gefangen.
Eigentlich sollte ich gut gelaunt sein. Gerade ist der Momentum-Kongress im oberösterreichischen Hallstatt zu Ende gegangen. Mehr als 250 großteils junge Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben sich gut vorbereitet, auf hohem Niveau, streitlustig aber dennoch respektvoll zueinander, Gedanken über die Zukunft der Demokratie gemacht. Über Eliten und Parteienherrschaft, Partizipation, „liquid democracy“ oder direkte Demokratie. Seit fünf Jahren findet Momentum statt und stellt eindrucksvoll unter Beweis, dass es in Österreich nicht an zur Politik bereiten und fähigen jungen Menschen mangelt.
Trotz dieser Erkenntnis will meine depressive Stimmung nicht weichen. Ist mir doch gerade letzte Woche, als ich von Brüssel ins kleinformatige Österreich heim kam, eine Meinungsfrage ins Auge gefallen, wonach Frank Stronach auf einen zweistelligen Prozentanteil käme. SPÖ und ÖVP würden weiter verlieren, glücklicherweise auch die FPÖ, die Grünen würden nur minimal zulegen.
Ich frage mich und ich grüble darüber, wieso soviele Menschen zu Stronach flüchten. Eine wirkliche Alternative stellt er ja nicht dar. Seine Ansichten sind bizarr und seine Lösungsvorschläge gefährlich. Man braucht viel Geduld und Wohlwollen, um ihm überhaupt folgen zu können.
In den vergangenen zwanzig Jahren ist er nun der dritte Politiker, der sich mit Erfolg in Fundamentalopposition zum etablierten Politikbetrieb versucht: Haider, Strache, Stronach.
Die beiden einstmaligen Großparteien schaffen mittlerweile nicht einmal mehr zusammen eine einfache Mandatsmehrheit. Noch immer begreifen sie nicht, dass dies weniger mit der politischen Verführungskunst der populistischen Opposition, als vielmehr mit den eigenen Fehlern zu tun hat. Noch immer tun sie so, als ob sie der Nabel der politischen Geschehnisse in diesem Land wären und begreifen nicht, dass ihre koalitionsinternen Hahnenkämpfe niemanden außerhalb ihres Wahrnehmungshorizonts interessieren. Viele Menschen in Österreich sind deswegen angewidert. Die Geschehnisse rund um den U-Ausschuss haben diese Stimmung gewaltig beflügelt.
Haider, Strache, Stronach haben Erfolg, weil SPÖ und ÖVP immer mehr zu autistischen Organisationen verkommen. Obwohl sich die Erfolge (Beschäftigungsentwicklung, Wirtschaftswachstum etc.) im europäischen Vergleich durchaus sehen lassen können, schaffen sie es, dass die Mehrheit der Bevölkerung zunehmend systemkritisch wird.
Das ist eigentlich eine Meisterleistung. Bei der ÖVP kann man das ja noch nachvollziehen. Die Selbstanmaßung von Schwarz-Blau hat tiefe Spuren hinterlassen.
Aber die SPÖ? Selten hat sich eine Partei so sehr selbst demontiert, wie dies der SPÖ in den letzten Monaten gelungen ist. Trotz guter Regierungspolitik und trotz einer weitgehend „sauberen Weste“.
Ich bin ein in der Wolle gefärbter Roter. Aber die gegenwärtige Situation überfordert auch mich. Wohin ich komme, herrscht Unverständnis. Ich habe viel mit jenen, von einem früheren Parteivorsitzenden zynisch als „Basiswappler“ bezeichneten Mitgliedern zu tun. Überall greift Resignation um sich. Mich erschreckt diese um sich greifende Passivität. Der Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, ist allgegenwärtig. Lieber die Situation bejammern und nichts dagegen unternehmen, weil man ja nicht permanent enttäuscht werden möchte.
Barbara Blaha, die Präsidentin des Momentum-Kongresses, hat in ihrem Einleitungsstatement etwas sehr treffendes gesagt:
„Viel ist dieser Tage von der Alternativlosigkeit die Rede. Dass dem nicht widersprochen wird, ist die denkbar höchstentwickelte Form von Herrschaft. Die wahre Dominanz besteht nicht darin, dass sich niemand wehrt. Sondern darin, dass sich die Menschen für so machtlos halten, dass ihnen schon der Gedanke sich aufzulehnen, an den Verhältnissen auch nur zu rütteln, absurd erscheint.“
Dem ist wenig hinzuzufügen – außer die Frage vielleicht, wieso es sich eine politische Bewegung wie die österreichische Sozialdemokratie leisten kann, auf Frauen wie Barbara Blaha zu verzichten.
Wieso ist die SPÖ eigentlich nicht in der Lage, mit der kritischen, primär an Inhalten interessierten Jugend (zu der auch viele unverbrauchte Alte gehören), in einen Diskurs zu treten. Wieso ist man nicht bereit, sich einer grundsätzlichen Diskussion über die demokratischen Strukturen, über Pluralität in den Medien, über die Reform des Bankensektors oder über die Beseitigung der Korruption zu stellen. Wieso nicht willens, eigene Fehler einzugestehen und an deren Überwindung zu arbeiten.
Die österreichische Sozialdemokratie könnte jene Kraft sein, die Alternativen formuliert, zum Wirtschaftssystem und zu den korrupten Strukturen, die das Land zersetzen. Sie könnte der grassierenden Dummheit, die durch die Boulevardmedien täglich vergrößert wird, etwas entgegensetzen.
Es gibt genug Menschen, die genau solches erwarten. Würde die Sozialdemokratie diese Rolle einnehmen, dann würde unser Land nicht wie in einer Geiselhaft den Populisten ausgeliefert sein. Wer selbst keine Alternativen formuliert, der riskiert, dass es andere tun.
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Im August verbrachte ich auf Einladung von Daran Kravan, dem Präsidenten der Khmer Anti Poverty Party, einige Tage in Kambodscha. Ich kenne Daran von einem Besuch, den er mir im Mai im Europäischen Parlament in Brüssel abstattete. Er lebt normalerweise in den USA, wo er wie viele andere Flüchtlinge aus seinem Land Zuflucht fand. Seine Flucht glich einer Odyssee und es grenzt an ein Wunder, dass er überlebte. Wie viele andere, die in die Flucht getrieben wurden, möchte er in seine Heimat zurückkehren und sie zum Positiven verändern.
In Kambodscha spielte sich eine der ganz großen Tragödien des 20. Jahrhunderts ab. Zunächst wurde das Land trotz des Versuchs neutral zu bleiben in den Vietnamkonflikt hineingezogen. Der Vietkong führte seine Waffenlieferungen über kambodschanisches Territorium durch. Die USA, die damals von der fixen Idee beseelt waren, dem Kommunismus keinen Millimeter nachgeben zu dürfen, wurden durch den Vietnamkrieg in ihre erste militärische Niederlage hineinmanövriert. Kambodscha kam am Ende dieses Dramas ins Spiel und wurde zum Zielpunkt großflächiger, systematischer Bombardements. 2.756.941 Tonnen Bomben töteten innerhalb eines Jahres mehr als 200.000 Menschen.
Amerika wollte Stärke zeigen, wie wir das ja auch aus der Gegenwart kennen. „Tough“ zu sein ist freilich kein Programm. Die amerikanische Politik wollte alles auf einmal erzwingen, mit größtmöglichem Materialeinsatz und ohne Rücksicht auf Verluste. Eine derart unsensible Vorgangsweise empörte die Betroffenen und machte sie zu Feinden Amerikas. So wie heute die Talibans und Al Kahida nutzten das extremistische Gruppen für ihre Propaganda. Die Khmer Rouge wären ohne die verfehlte Politik der USA niemals an die Macht gelangt.
Die Herrschaft der Khmer Rouge über ganz Kambodscha dauerte nur vier Jahre, aber sie verwüstete das Land für viele Generationen. Rund ein Viertel der Bevölkerung wurde ermordet. Zumeist ganz systematisch in sogenannten „Killing Fields“ , auf die die städtische Bevölkerung zwangsdeportiert wurde. Pol Pot, Bruder Nr.1 träumte von einer agrarkommunistischen Gesellschaft. All jene, die dem entgegenstehen hätten können, wurden als Klassenfeinde liquidiert. In Folterzentren wie dem berüchtigten Tuol Sleng in Phnom Penh wurden systematisch Schuldbekenntnisse fabriziert.
Dieses unermessliche Morden wurde durch eine Intervention von außen beendet. Vietnam unterstützte ein früheres Mitglied des Khmer Rouge Führungszirkels, Hun Sen, der noch heute Ministerpräsident ist. Ruhe kehrte deswegen nicht ein, wohl auch, weil ausländische Mächte wie China und die USA, Vietnam und die Sowjetunion den Konflikt am Köcheln hielten. Erst 1998, nach zwei weiteren Bürgerkriegen kam es unter UN-Vermittlung zu einem Settlement und damit zu einer gewissen Stabilität.
Seither wird das Land von einer korrupten „Elite“ um Hun Sen beherrscht. Das garantiert, dass sich die Regierenden genauso wie die Tycoons aus dem vietnamesischen Nachbarland und China ungehemmt ihre Taschen füllen können. Zu Lasten der Bevölkerung, natürlich. Die Armutsrate ist hoch, besonders dramatisch ist sie unter Kindern. Ein besonderes Problem stellen die hunderttausenden Invaliden dar, da bei weitem noch nicht alle Landminen beseitig sind. Menschenrechte gelten wenig in diesem Land. Dafür genießen die einstigen Massenmörder die stille Duldung des Regimes. Mühsam quält sich ein Internationaler Gerichtshof durch die Geschichte und hat bisher erst ein Urteil fabriziert. Mehr als dreißig Jahre danach.
Dafür geht man gnadenlos gegen alle vor, die die Machenschaften des Regimes aufdecken, wie der Fall des Umweltaktivisten Chut Wutty zeigt. Er wurde im April ermordet, weil er die illegale Rodung des Regenwaldes öffentlich machte. Kambodscha ist eine Goldgrube für den globalen Kapitalismus. Die Arbeitsbedingungen sind unbeschreiblich. Während meines Aufenthaltes berichtete eine lokale Tageszeitung, dass an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen dutzende Arbeiterinnen, die für H&M tätig waren, wegen Erschöpfung ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Mein Freund Daran zeigte mir all diese Erscheinungen des modernen Kambodscha, brachte mich mit NGOs, Studenten und Medienvertretern zusammen, vor allem zeigte er mir, dass es sehr viele gibt, die sich nach Freiheit und Gerechtigkeit sehnen.
Daran, der die Khmer Anti Poverty Party gründete und leitet, ist ein guter Mensch, hierzulande würden ihn seine Feinde als Gutmenschen bezeichnen. Er hat einen fast kindlichen Optimismus. Seine Biographie ist beeindruckend und zeigt, dass man selbst in den Momenten größter Erniedrigung Mensch bleiben kann. Selbst gerade seiner Exekution durch die Khmer Rouge entkommen, hatte er mehr als 30 Kindern Schutz gegeben, sie gemeinsam mit seinem 13-jährigen Gehilfen ein halbes Jahr lang versteckt und mit Nahrung versorgt. Dieser lebt in Kambodscha und nennt einen Kleintransporter sein eigen. Damit kann er gerade über die Runden kommen. Sein Leben ist ein ständiger Überlebenskampf. Dennoch hat er unlängst ein Baby adoptiert, das sonst nicht überlebt hätte. Um die Armut zu bekämpfen und die Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen, will er Premierminister werden. Mücke gegen Elefant oder David gegen Goliath. Doch das Regime, das sich alle fünf Jahre zur Wahl stellt und dazwischen keine Rede-und Versammlungsfreiheit zulässt fürchtet ihn. Weder durften wir eine Pressekonferenz, noch eine öffentliche Versammlung abhalten. Als wir dies dann in seinem Hauptquartier als Privatveranstaltung etikettiert trotzdem taten, da wurden die Teilnehmer von der Polizei genau beobachtet. Und pünktlich zum Veranstaltungsbeginn fiel auch die Stromversorgung aus. Zwei Tage später erfuhr Daran, dass der Vermieter den Kontrakt auf Druck der Lokalbehörde kündigte. Mit solchen täglichen Widerwärtigkeiten müssen jene rechnen, die sich für ein demokratisches und sozial gerechtes Kambodscha einsetzen.
Menschen wie Daran verdienen unsere tatkräftige Unterstützung. Ich werde versuchen, das Meine dazu beizutragen, vor allem im Europäischen Parlament. An das alles sollten wir auch dann denken, wenn wir uns darüber freuen, wie günstig wir gerade wieder etwas gekauft haben. Oft oder zumeist geht dies zu Lasten der Menschen in „unterentwickelten“ Ländern.
1) Bree Lafreniere, Daran Kravanh, Music Through The Dark, University of Hawaii Press 2000.
Bilder von der Versammlung in Kambodscha im August 2012
Kärnten und Sommer sind eng miteinander verbunden. Auch für mich. Viele Sommer verbrachte ich in dieser schönen Gegend, wo einem die Menschen stets freundlich begegnen. Irgendwann ließ ich davon ab. Aus unterschiedlichen Gründen. Einer davon war die Politik. Mich ärgerte der vor allem unter Alkohollaune von vielen Kärntnern zelebrierte Chauvinismus. Vom Freistaat war die Rede, von der Minderwertigkeit der Nachbarn, den Fremden und von arbeitsscheuen Elementen, die dem Staat zur Last fielen. Eigenartigerweise meinte man damit nicht jene, die von Jahr zu Jahr mit öffentlichen Mitteln neue, immer protzigere Hotelbauten errichteten. Auch wenn ich mich von diesen unangenehmen Begegnungen, zumindest was die Urlaubszeit betrifft, physisch fern zu halten vermochte, wurden sie bald zum alltäglichen Begleiter. Alles würde besser, gerechter, wenn er nur etwas zu reden hätte. Er würde mit den Bonzen aufräumen und es all jenen zeigen, die uns auf der Tasche liegen. Es rumorte im österreichischen Volk und Jörg Haider hatte offensichtlich einen Ton getroffen, diese Stimmung in politische Münze umzuwandeln. Kärnten wurde zum Laboratorium für einen autoritären Umbau und zum Mekka all jener, die eine „Dritte Republik“ herbei sehnten. Das „Dritte Lager“ unter der populistischen Führung Jörg Haiders war bald die eigentliche Triebkraft der österreichischen Politik und lähmte die etablierten Parteien wie die Schlange das Kaninchen.
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Letzte Woche hielt ich mich als Mitglied einer zehnköpfigen Delegation des Europäischen Parlaments in Belgrad auf. Zweck unserer Delegation war es, das Ausmaß der organisierten Kriminalität und die Bemühungen Serbiens, diese in Zusammenarbeit mit der Europäischen Union zu unterbinden, zu studieren.
Zum Zeitpunkt unserer Anwesenheit waren die Verhandlungen um eine neue Regierung, die vom früheren, sozialistischen Innenminister Ivica Dacic geführt werden soll, weitgehend abgeschlossen. Ein wichtiges Element der künftigen, von den meisten Beobachtern als fragil eingeschätzten, Regierung soll die Intensivierung des Kampfes gegen organisierte Kriminalität, Korruption und Geldwäscherei sein. Wir hatten drei Tage lang, unter der Moderation des Chefs der EU-Delegation, Vincent Degert, Gelegenheit, in intensiven, offenen Gesprächen mit ca.40 relevanten serbischen Akteuren die Lage zu erörtern.
„Wende“ unter Djindjic
Serbien ist für die Entwicklung der organisierten Kriminalität deswegen von zentraler Bedeutung, weil das Land Ende infolge seiner Verwicklung in den Balkankrieg zu einem „failed state“ geworden war. Als der später von der organisierten Mafia ermordete Zoran Djindjic, 2001 begann, Serbien wiederum zu einem Rechtsstaat zu entwickeln war das Land außenpolitisch isoliert und Politik und organisiertes Verbrechen nahezu ident.
Seit der demokratischen Wende unter Djindjic hat sich die serbische Regierung bemüht, dem organisierten Verbrechen und der Korruption den Kampf anzusagen. Zunächst mit mäßigem Erfolg. Seit 2010 gibt es eine Sonderstaatsanwaltschaft, umfangreichen Zeugenschutz und die Möglichkeit zur sofortigen Beschlagnahme von Vermögen. Nach Angaben des Chefs der Sonderstaatsanwaltschaft, Miljko Radosavljevic wurden 1541 Personen vor Gericht gestellt. Es erfolgten bislang 735 Verurteilungen. Bereits bei begründetem Tatverdacht kommt es zu Beschlagnahmen. Wir konnten eine Lagerhalle besichtigen, in der Luxusautos im Wert von 2 Millionen Euro ihrer weiteren Verwertung harren. Sobald das Urteil rechtskräftig wird, werden diese Gegenstände veräußert. Liegenschaften werden ebenso beschlagnahmt, so wurden einem Tycoon unlängst 10 Häuser in Belgrad abgenommen. Diese wurden sozialen Zwecken zugeführt. Wir besuchten beispielsweise einen Kindergarten, der in einer seiner Villen untergebracht wurde. Dieses rigide Programm wurde nach dem Vorbild des italienischen Anti-Mafia Programms entwickelt und wird von der EU Delegation organisatorisch und mit finanzieller Unterstützung begleitet. Auch besuchten wir ein Forensisches Institut – errichtet durch EU-Mittel zur Drogenanalyse und -bekämpfung (siehe Bild oben).
Für Europa hat der Kampf gegen organisierte Kriminalität, Korruption und Geldwäscherei in Serbien und in der angrenzenden Region oberste Priorität. Man weiß genau, dass eine Stabilisierung der Region und auch eine Befriedung der Konfliktzonen im Nordkosovo, aber auch in Bosnien-Herzegowina nur voran kommen wird, wenn die kriminelle Verflechtung von Politik und Wirtschaft in dieser Region beseitigt wird. Vorher wird es auch keinen EU -Beitritt Serbiens geben. Vor allem will man auch die Fehler vermeiden, die man bei der Aufnahme Rumäniens und Bulgariens gemacht hat. Ohne Zweifel gibt es Fortschritte, vor allem, weil ein klares Bekenntnis der staatlichen Stellen vorliegt. Alle wissen, dass eine europäische Perspektive für Serbien nur dann möglich ist, wenn rechtstaatliche Strukturen entstehen. Allerdings ist der Fortschritt langsam und die Praxis weicht immer wieder von den offiziellen Vorsätzen ab. Korruption ist ein täglicher Begleiter und beginnt eigentlich schon mit der nächstmöglichen Verkehrskontrolle.
„In der Hand von hundert Familien“
JournalistInnen und NGO-VertreterInnen haben uns eindringlich geschildert, dass das organisierte Verbrechen den Staat nach wie vor im Griff hat. Etwa hundert Familien kontrollieren nach Aussage eines Journalisten der Tageszeitung Politika das Land. Deren Vermögen stammt aus den Balkankriegen und dem Waffengeschäft (warlords), dem Drogenhandel (Serbien liegt auf der Haupttransitroute) und dem organisierten Menschenhandel. Eine weitere Quelle des Reichtums ist auch die Privatisierung einstigen Staatsvermögens und das äußerst intransparente öffentliche Beschaffungswesen. Auf all diesen Ebenen gibt es Bemühungen, allerdings gleichen diese mehr denen des Sisyphos. Es geht nicht viel weiter, die Verfahren sind langsam und die Presse deckt meistens zu und nicht auf. Die Medien sind fest in den Händen der Etablierten. Und trotzdem gibt es mutige Menschen, die nicht locker lassen. Kritische JournalistInnen, Blogger und Whistleblower und Menschen wie beispielsweise Miroslav Milicevic, der Vizepräsident des Anti-Corruption Council ist. Er nimmt sich kein Blatt vor den Mund und lässt nicht locker. Sehr beeindruckend sein Resümee: „Ich weigere mich zu glauben, dass unser Kampf hoffnungslos ist. Ich bin mir sicher, eines Tages werden wir nicht mehr notwendig sein.“
So viel Optimismus ist nicht weit verbreitet, die meisten Menschen sind skeptisch. Und sie haben wahrscheinlich auch Recht. Solange nämlich die Armut allgegenwärtig ist, die Einkommen auf dem Niveau Nordafrikas liegen (ca. 300 €) und Ungleichheit das Land lähmt, ist es sehr schwer, diesem Teufelskreis zu entkommen. Ungleiche Gesellschaften, die von Korruption durchsetzt sind, tun sich schwer, ausreichendes Wachstum zustande zu bringen. Positiv zu bewerten ist der stetige Druck, den die EU auf die serbischen Behörden ausübt. Allerdings werden diese Bemühungen durch die Laxheit einzelner Mitgliedsstaaten konterkariert. Auf die Frage, inwieweit illegal erworbene Reichtümer im Ausland gewaschen werden gab mir ein Vertreter des serbischen Finanzministeriums folgendes zur Antwort: „Das geschehe nicht nur via die Karibik, Liechtenstein oder die Schweiz, sondern eben auch in Luxemburg, Zypern und – Österreich.“ Korruption und organisierte Kriminalität lässt sich daher nicht auf den Balkan oder das südliche Italien beschränken. Sie gefährdet in ganz Europa die rechtsstaatlichen Strukturen.
Wollen wir ein Europa des Wohlstands und der Demokratie, dann müssen wir den Kampf gegen die organisierte Kriminalität mit allem Nachdruck führen: immer und überall. Und dann dürfen wir Serbien nicht sich selber überlassen.
Am 11. Juli 1995 nahmen bosnisch-serbische Militärs die unter dem Schutz der Vereinten Nationen stehende Enklave Srebrenica ein, in die sich mehr als 20.000 schutzsuchende Bosniaken geflüchtet hatten. In der Folge kam es zu einer systematischen Ermordung von über 8.000 Männern und zum schrecklichsten Kriegsverbrechen auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Ich habe anlässlich des Sozialpolitischen Aschermittwochs der bayerischen Arbeiterwohlfahrt im Februar 2012, bei der die Frauen von Srebrenica mit dem Inge Gabert Preis ausgezeichnet wurden, eine Rede gehalten. Diese stellt die schrecklichen Ereignisse in einen europäischen Zusammenhang.
Auszüge aus der Rede: “Europa – was sonst?
Oder die ständige Neuerfindung Europas”
Ich war noch nie in Srebrenica. Aber ich war in Gorazde. Beides sind Städte in Ostbosnien, an der Drina gelegen, beide Städte waren Gegenstand brutaler Belagerung durch serbische Kräfte während des Jugoslawienkrieges und standen damals unter dem halbherzigen Schutz der Vereinten Nationen. Ich war nur kurz in Gorazde und traf mich mit den politisch Verantwortlichen, in einem Lokal direkt an der Drina. Es waren Männer, stolze Männer.
Das Verbrechen von Srebrenica
In Srebrenica gibt es keine stolzen Männer. Srebrenica ist der Ort eines der grauenvollsten Verbrechen im heutigen Europa. 8000 seiner Männer wurden systematisch auf bestialische Weise gemordet. Genozid nennt das Völkerrecht ein solches Verbrechen, dessen Tatbestand darin besteht, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.“ Genau das geschah in den Julitagen des Jahres 1995 in Srebrenica. Mitten in Europa, vor den Augen der ganzen Welt.
Europa als Bewältigung vergangenen Schreckens
Europa ist vor allem eine Baustelle. Der ständige Versuch, den Einsturz und das Zusammenbrechen zu verhindern, indem man Provisorien einzieht, Notlösungen vornimmt und zuweilen kühne Konstruktionen zulässt. Europa ist das stetige Bemühen, überall dort Brücken zu bauen, wo sich unüberwindbare Gräben auftun.
Brücken werden zumeist aus materiellen Überlegungen errichtet, um Handel zu treiben, um miteinander in Kontakt zu treten. Einmal errichtet werden sie bald zur Selbstverständlichkeit. Erst wenn sie zerstört sind, merkt man, wie wichtig sie sind. Wie die Brücke von Mostar, die Brücke über die Drina in Vysegrad oder die Donaubrücke in Novi Sad.
Europa ist geworden, es wurde nicht auf dem Reißbrett konzipiert. Es ist gewachsen aus der Einsicht der Menschen, etwas falsch gemacht zu haben. Das zugrundeliegende Motiv: es besser zu machen und die Selbstzerfleischung nicht mehr zuzulassen.
Es gab viele Anläufe zu einem gemeinsamen Europa. Zunächst blieb dies auf wenige Weitsichtige beschränkt. Die Mehrheit erlag nur allzu leicht immer wieder dem berauschenden Gift des Nationalismus. Von Niederlage zu Niederlage freilich schwoll das Lager der Einsichtigen an. Die große Katastrophe des Zweiten Weltkriegs erlaubte schließlich einen Paradigmenwechsel, einen Neubeginn.
Die vollständige Rede zum Nachlesen- PDF-Download
Götterdämmerung unter Deutschlands Volkswirten
In den vergangenen Tagen hat ein Aufruf deutscher Wirtschaftswissenschafter für großes Aufsehen gesorgt. Auslösendes Moment war der Gipfel der Staats-und Regierungschefs Europas Ende Juni, der neben einem (dürftigen) Wachstumspakt, eine Lockerung des strengen fiskalpolitischen Regimes und den Einstieg in eine europäische Bankenunion vorsah. Dieses Wochenende wurde von den deutschen Medien zur doppelten Niederlage Deutschlands, das auch aus der Fußball EM ausscheiden musste, hoch stilisiert. Italien hatte es den Deutschen gezeigt, im Fußball und in der Politik. Das drückte aufs Gemüt.
Angeregt von Walter Krämer setzte die Gruppe zu einem Frontalangriff gegen die Konzeption der Vergemeinschaftung der Schulden an und stellten den Sinn der Rettung von Banken in Frage. Diese Anstrengungen würden doch nur der Wall Street und der City of London helfen. Die Bürgerinnen und Bürger wurden aufgefordert, sich politisch dagegen zur Wehr zu setzen und ihre Abgeordneten zu lobbyieren. Nun kann man durchaus darüber diskutieren, ob man Banken retten soll. Im Zuge der Lehmann Krise vor vier Jahren hatte man sich, die katastrophalen Konsequenzen des Bankenkrachs der späten 20-er Jahre vor Augen dazu entschieden, den Finanzsektor komme, was wolle, vor dem Untergang zu bewahren. Diese Strategie hat nicht funktioniert, mit der Konsequenz, dass es mittlerweile um das Überleben des Euro geht. Jetzt die Pferde zu wechseln, wie das die Gruppe vorschlägt, würde das Dilemma freilich noch verschlimmern und den Zusammenbruch des Euro, mit allen erdenklichen Konsequenzen einleiten. Einigen aus der Gruppe, wie Joachim Starbatty dürfte das durchaus recht sein. Dieser kämpft seit Jahren gegen die Gemeinschaftswährung und ist ein regelmäßiger Beschwerdesteller beim Bundesverfassungsgericht. Wenn man den Appell konsequent durchdenkt, dann ist der Zusammenbruch der Gemeinschaftswährung die logische Konsequenz. Die meisten der Unterzeichner werden sich dieser Konsequenzen auch bewusst sein.
Es ist durchaus sinnvoll, sich die Gruppe, zu der natürlich auch die Österreicher Bernhard Felderer und Erich Streissler gehören, näher anzusehen. Da fällt zum Beispiel Bernd Raffelhüschen auf. Ein häufiger Gast in den Talk Shows und Propagandist für eine völlige Privatisierung der Versicherungssysteme. Dass dieser, neben seiner Lehrtätigkeit beträchtliche Einkünfte aus seiner Forschungstätigkeit für private Rentenversicherer und Finanzdienstleister bezieht, ist eine wichtige Hintergrundinformation.
Der Initiator des Aufrufes, Walter Krämer, von der Zeit einmal als „Professor Besserwisser“ tituliert ist ein Tausendsassa, Vielschreiber und Rechthaber. Laut Wikipedia kämpft er gegen Anglizismen in der deutschen Sprache, warnt vor links-grünen Miesmachern und Ökochondern und gebraucht gerne Schimpfwörter. Jüngstes Beispiel ein Interview im Standard, wo er lapidar behauptete: „Die Griechen lügen wie gedruckt.“ Vergeblich hat er gegen eine Plagiatsbeschuldigung der taz geklagt. Politisch versteht er sich als rechtsliberal, was wohl auf die Mehrzahl der Unterzeichner zutrifft.
Hans Werner Sinn mimt schon seit über einem Jahrzehnt beständig in den Talk-Shows der deutschen TV Stationen moralinsauer den Retter Deutschlands. Er versteht es, sich die Rhetorik der Stammtische zu nutze zu machen. Er ist einer von jenen Wirtschaftswissenschaftern, die mitverantwortlich dafür sind , dass es heute in Europa diese für die Eurokrise hauptverantwortlichen Ungleichgewichte zwischen Nord und Süd gibt. Jahrelang hatten diese Lohnzurückhaltung propagiert. Sinn bezeichnete damals die deutsche Wirtschaft als „Basarökonomie, die wegen zu hoher Lohnkosten zu keiner nennenswerten Wertschöpfung in der Lage sei“. Er gehörte zum Chor jener, die noch vor wenigen Jahren gebetsmühlenartig die deutsche Wirtschaft krank jammerten.
Sinn, Raffelhüschen und Co sind mitverantwortlich für die gegenwärtige Krise. Ihr neoliberales Weltbild hat den Staat verteufelt, jeden Versuch makroökonomischer Steuerung desavouiert und Deregulierung zum Dogma erklärt. Diesen Ökonomen haben wir es zu verdanken, dass europaweit die Steuern reduziert und den Staaten damit wesentliche Steuerungsmöglichkeiten genommen wurden. Gleichzeitig hat dies die Abhängigkeit von den Finanzmärkten, deren völlige Deregulierung man wie ein Mantra vor sich hertrug, erhöht. Die Privatisierung sozialer Sicherungssysteme hat schließlich zu einer Vervielfachung der für Spekulationszwecke zur Verfügung stehenden Mittel geführt. Bekanntlich vermehrt sich ja Geld nicht, wenn man es auf der Bank liegen lässt. Die neoliberale Deutung der wirtschaftlichen Zusammenhänge hat zudem nicht nur sinkende Löhne und damit verbunden die volkswirtschaftlichen Ungleichgewichte unter denen Europa heute leidet verursacht, sondern auch zu einem Rückgang der Binnennachfrage geführt.
All jenen, die Sympathie für den Offenen Brief der Ökonomen empfinden, sollten sich gut überlegen, ob sie sich nicht erneut von einer oberflächlichen Betrachtung hinters Licht führen lassen. Vielmehr geht es jetzt darum, endlich zu einer makroökonomischen Steuerung im Sinne von Keynes zurückzukehren und die staatliche Verantwortung wieder herzustellen, indem die erforderlichen Mittel durch Steuern auf Bankgewinne und Vermögen aufgebracht werden. Es müssen nachhaltige Wachstumsimpulse gesetzt werden und die innereuropäischen Ungleichgewichte abgebaut werden, vor allem auch durch höhere Lohnabschlüsse, die zu einer Ankurbelung der Nachfrage führen würde. Die Banken müssen zu ihren „basics“ zurückkehren, nämlich die Wirtschaft mit dem erforderlichen Kapital zu versorgen. Dazu bedarf es einer Regulierung des Bankensektors auf europäischer Ebene, die bisher immer wieder verschleppt wurde.
Die Lösung liegt auf keinen Fall in einer Renaissance nationalstaatlicher Lösungen. Es gilt, was Peter Bofinger schon im Februar klar gemacht hat: „Deutschland hat die Wahl, ob es das Schicksal seiner Exportindustrie in die Hände der völlig unberechenbaren Devisenmärkte legen will, oder ob es bereit ist, mit seinen Partnerländern gemeinsam einen politischen Rahmen für eine solide Fiskalpolitik in Europa zu schaffen.“ Der jüngst beschlossene Fiskalpakt ist dafür ungeeignet. Er würgt die Konjunktur ab, entmachtet die Parlamente und schmälert auf diese Weise auch die staatlichen Handlungsmöglichkeiten.
Josef Weidenholzer sprach heuer bei der Mai-Kundgebung der ungarischen SozialistInnen in Budapest. In seiner Rede unter dem Titel: „In Ungarn wird die Freiheit Europas verteidigt!“ betonte Josef Weidenholzer vor allem, die Wichtigkeit eines politisch stabilen Ungarns für Europa. Denn das, was gegenwärtig in Ungarn passiert, hat unmittelbare Auswirkung auf ganz Europa.
In Ungarn wird die Freiheit Europas verteidigt!
Rede auf der Maikundgebung 2012 der MSZP in Budapest
Es ist eine große Ehre für mich, heute am 1. Mai hier in Budapest zu reden. Der Erste Mai ist der Tag, an dem weltweit Menschen für soziale Gerechtigkeit, Menschenwürde und mehr Gleichheit demonstrieren. Es ist ein Tag mit großer Tradition.
Ich freue mich sehr darüber, diesen traditionsreichen Tag gemeinsam mit meinen ungarischen GenossInnen feiern zu dürfen. Als Präsident von solidar, dem größten zivilgesellschaftlichen Dachverband Europas mit 54 Mitgliedsorganisationen in 24 Staaten, ist es mir wichtig, in dieser für Ungarn so entscheidenden Situation meine ungeteilte Solidarität zu zeigen. In Ungarn wird heute die Freiheit Europas verteidigt. Und da will ich dabei sein. Vor allem freut mich die Tatsache, dass ich als Österreicher die Solidarität der aus der Arbeiterbewegung hervorgegangenen zivilgesellschaftlichen Organisationen Europas überbringen darf.
Ungarn, das ist für einen österreichischen Sozialdemokraten etwas ganz besonderes. Wir sind mehr als Nachbarn, wir teilen eine lange gemeinsame Geschichte, in der es viele Höhepunkte gibt, aber auch versäumte Gelegenheiten und Situationen, die man besser wieder ungeschehen machen sollte. Wir sind auf einander angewiesen. Wenn es dem einen gut geht, dann profitiert auch der andere und umgekehrt. Die gegenwärtige Situation bei Euch ist daher auch von grundlegender Bedeutung für uns. Und die Feinde der Demokratie in unserem Land kooperieren ungeniert mit den Feinden der Demokratie in eurem Land. Nicht weil sie Freunde Ungarns wären. Vielmehr hoffen sie, dass das nationalistische Zersetzungswerk auf die gesamte Europäische Union übergreift. Wie schon einmal in der Geschichte wollen sie Menschen gegeneinander aufhetzen, Sündenböcke definieren und Feindbilder schaffen, um von den wirklichen Problemen abzulenken.
Europa – das ist unbestritten – befindet sich in einer tiefen, historischen Krise. Es ist keineswegs gewiss, dass alles so bleibt, wie es ist. Amerikanische Hedge-Fonds spekulieren mit hohem Einsatz auf den Zusammenbruch des Euro und Europas Rechte setzt ganz offen auf den Zerfall. Strache, Wilders und wie sie alle heißen, sie liegen auf der selben Linie wie Jobbik. Marie Le Pen, die gerade jetzt einen entsetzlich hohen Stimmenanteil erreichen konnte, will die EU zerschlagen und träumt von einer neuen geopolitischen Konstellation, bei der die Geschicke Europas von einem Kräftedreieck Paris – Berlin – Moskau bestimmt würden.
Europa ist in Gefahr! Und damit unser Wohlstand und das friedliche Zusammenleben auf diesem Kontinent. Die gegenwärtige Krise Europas ähnelt jener in den 1930-er Jahren. Wir wissen was darauf gefolgt ist: Krieg und Barbarei. Das müssen wir verhindern. Die Ursachen der Krise liegen nicht – wie es uns die Verantwortlichen einreden wollen – darin, dass wir über unsere Verhältnisse gelebt haben, zu hohe Sozialleistungen und zu hohe Löhne erhalten haben. Nein! Die Ursachen liegen bei den Banken, im Finanzsektor, bei gierigen Spekulanten, die ohne ein Gefühl für Verantwortung, den Menschen alles mögliche vorgegaukelt haben. Leider waren daran auch Österreicher beteiligt.
Die Zeche für diese neoliberale Politik, die nur den Markt als gestaltendes Prinzip gelten lassen wollte, bezahlen allerdings nicht die Verursacher der Krise. Sie lassen vielmehr die kleinen Leute, die Arbeiter und Angestellten, bluten. Der jüngst von Merkel und Sarkozy unter Ausschluss des Europäischen Parlaments verfügte Fiskalpakt bedeutet eine Sanierung der Haushalte auf dem Rücken der Arbeitnehmer. Das ist sozial ungerecht, volkswirtschaftlich dumm und politisch gefährlich. Europa braucht Wachstum und Beschäftigung und das gibt es nur dann, wenn die breiten Massen über genügend Einkommen verfügen. Wenn ein großer Teil der Bevölkerung verarmt ist, wie das leider in Ungarn der Fall ist, dann wird die Wirtschaft nicht in die Gänge kommen.
Als jemand, der aus dem Ausland kommt, stünde es mir eigentlich nicht zu, innenpolitische Vorgänge zu kommentieren. Ich mache es dennoch, weil es mich zornig macht, zu sehen, wie Armut und Ungleichheit in Ungarn überhand nehmen und die Demokratie sukzessive ausgehöhlt wird. Denn das, was gegenwärtig in Ungarn passiert, hat unmittelbare Auswirkung auf ganz Europa.
Die europäischen Institutionen, die Kommission und das Parlament und auch der Europarat sind besorgt über die Entwicklung in Ungarn. Das Parlament hat in einer Entschließung seine Sorge über die Verhältnisse geäußert. Der Parlamentsausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, dem ich angehöre, bereitet einen Bericht vor, der prüfen soll, wie weit in Ungarn die europäischen Grundrechte verletzt werden. Der politische Willensbildungsprozess ist in diesem Fall langwierig und kompliziert, aber allein die Tatsache, dass wir uns damit beschäftigen, zeigt, wie ernst die Lage mittlerweile ist. Nicht nur die juristisch fassbare Verletzung von Grundrechten gibt Anlass zur Sorge. Es ist der Geist, der dahinter steckt. Der Geist des Viktor Orban. Ein Geist, der das eigene Handeln selbstgerecht zum Maßstab allen Handelns macht, keine Selbstkritik kennt und jede Kritik als Majestätsbeleidigung abkanzelt. Es ist ein Geist, der nur Feinde kennt. Auf solchen Grundsätzen kann man keine Zukunft begründen.
Es ist der Geist der Vergangenheit. Als die dunklen Jahre des Kommunismus zu Ende gingen, da hofften viele Menschen auf ein freies Leben in Wohlstand, so wie es die Menschen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs viele Jahrzehnte genießen konnten. Das Goldene Zeitalter des europäischen Wohlfahrtstaates gründete auf dem Willen zur Zusammenarbeit, der Bereitschaft zur Toleranz gegenüber Minderheiten und der grundsätzlichen Offenheit gegenüber Kritik. Und vor allem darauf, den arbeitenden Menschen Würde und Gerechtigkeit zu garantieren. Die Gewerkschaften wurden als staatstragende Fundamente betrachtet. Das Streikrecht war eine natürliche Selbstverständlichkeit und die Betriebsräte eine wichtige Stütze der Unternehmen. Die Sozialpartnerschaft war Vorrausetzung für den wirtschaftlichen Erfolg vieler westlicher Länder.
Nicht Konfrontation oder Polarisierung sondern Zusammenarbeit war das Erfolgsgeheimnis. Zusammenarbeit zwischen Arbeit und Kapital, zwischen den politischen Lagern und über die nationalen Grenzen hinweg. Und noch ein wichtiger Faktor: Der Arbeitsertrag genauso wie die gesellschaftlichen Lasten sollten gerecht verteilt werden. Das europäische Sozialmodell beruht auf der Idee der Umverteilung. Den Steuern liegt daher ein progressiver Satz zugrunde. Nichts von all dem findet man bei der gegenwärtigen ungarischen Regierung. Deren Maßnahmen helfen denen, denen es ohnehin besser geht. Sie verschärfen die gesellschaftliche Ungleichheit. Das Land ist auf dem Weg zur Oligarchie und in die politische Isolation. Das tut weder Ungarn noch Europa gut.
Es ist Zeit zur Umkehr. Europa braucht Ungarn: Europa braucht ein politisch stabiles Ungarn, wo Demokratie und Menschenrechte geschätzt werden und die breiten Massen am Wohlstand teilhaben, weil die Gewerkschaften für gerechte Löhne sorgen können. Deshalb ist es wichtig, am Ersten Mai, gerade hier in Budapest, auf die Straße zu gehen. Die Botschaft des Ersten Mai ist universell, sie ist klar und einfach: Gebt den arbeitenden Menschen den Stellenwert, der ihnen zusteht, sorgt dafür, dass ihre Arbeit menschenwürdig ist und die Menschen fair und gerecht miteinander umgehen! Und lasst Euch nicht vom Nationalismus verblenden, indem ihr die internationale Solidarität hoch haltet! Diese Forderungen sind nicht neu und begleiten uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, seit wir den Ersten Mai feiern. Wir müssen sie immer wieder aufs Neue erheben. Laut und öffentlich.
Gerade auch in so dramatischen Zeiten wie diesen: in Ungarn, in Österreich und in ganz Europa. Die Botschaft des Ersten Mai ist ein verlässlicher Kompass in einer unübersichtlich gewordenen Welt. Deshalb: Ein Hoch dem Ersten Mai!
Wie wesentliche Errungenschaften Europas kurzfristigen Interessen geopfert werden
Die Reisefreiheit, eine der großen Errungenschaften Europas soll wieder eingeschränkt werden, so tönte es dieses Wochenende aus den Medien. Anlass ist ein gemeinsamer Brief, den die Innenminister Frankreichs und Deutschlands, Claude Guéant und Hans Peter Friedrich an die Europäische Kommission geschrieben haben. Kein Zufall, dass der Brief genau jetzt kommt. Diesen Sonntag wird in Frankreich gewählt und die Chancen für Sarkozy stehen nicht gut. Da hilft der CSU Minister gerne einmal seinem Parteifreund, noch dazu, wo in seinem Heimatbundesland – in Bayern – 2013 auch Wahlen bevorstehen.
Sarkozy hatte im Vorjahr, als seine Umfragewerte besonders schlecht waren, schon einmal vorübergehende Grenzkontrollen zu Italien eingeführt. Auch die damalige konservative Regierung Dänemarks griff im Juli 2011 zum gleichen Mittel, um sich die parlamentarische Zustimmung einer rechtspopulistischen Partei, auf deren Duldung sie angewiesen war, zu sichern. Die Kommission spielte mit und erarbeitete einen Vorschlag, der grob gesagt, die Eigenmächtigkeiten der beiden Länder legalisieren sollte. Während die Kommission aber zumindest die Feststellung einer besonderen Situation, die eine Wiedereinführung der Grenzkontrollen bis maximal 30 Tage erlaubt, auf europäischer Ebene vornehmen will, beharren Frankreich und Deutschland, eine Aussetzung des Schengen Abkommens auf nationalstaatlicher Ebene zu entscheiden. Der Brief wird bei der Sitzung des Rates der Innenminister in der nächsten Woche Gegenstand der Beratungen sein.
Die Reisefreiheit ist eine der wesentlichen Errungenschaften Europas, ebenso wie die Gemeinsame Währung, der Euro. Beides wird laufend kurzfristigen Interessen geopfert. So wie etwa zu Beginn der Griechenland Krise. Da verzögerte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel monatelang eine Lösung, exakt bis zum Tag der Landtagswahl in NRW und verschärfte auf diese Weise das Ausmaß der Euro Krise in geradezu fahrlässigem Ausmaß. Solche Politik, wie sie besonders durch „Merkozy“ losgetreten wurde, bringt weder den von den Populisten gewünschten Erfolg, noch schafft sie die zu lösenden Probleme aus der Welt. Heribert Prantl sagte daher folgerichtig in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung: „Die temporären Grenzschließungsprogrammen sind eine Dauerwerbung für Europafeinde.“ Dennoch setzt sich immer mehr dieses Praxis einer symbolischen Politik durch, die Handlungsbereitschaft suggeriert und aus Popularitätshascherei auf eine wirkliche Lösung der Probleme verzichtet. Seit Jahren sind die europäischen Innenminister unfähig, sich auf eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge zu einigen, seit Jahren verabsäumt es Europa, die Probleme der Roma an der Wurzel zu packen. Europa versagt in der Nachbarschaftspolitik und zieht sich aus der Entwicklungszusammenarbeit zurück. Diese elementaren Fragen sind freilich schon lange nicht mehr nationalstaatlich zu lösen, auch nicht wenn die zwei größten Mitgliedsstaaten Deutschland und Frankreich das aus wahltaktischen Überlegungen glauben mögen.
Seit 1. April 2012 ist sie jetzt also auch in Österreich Gesetz, die sogenannte Vorratsdatenspeicherung. Sechs Monate müssen Anbieter von Telekommunikationsdiensten künftig die Kommunikations,- und Verbindungsdaten von allen, die ihre Dienste nutzen, speichern. Im Falle des Verdachts, dass diese Personen ein Verbrechen begangen haben könnten, sowie in Fällen, wo Gefahr für Leib und Leben besteht, können Justiz bzw. Polizei dann ungehindert zugreifen.
Kampf gegen den Terrorismus?
Die Vorratsdatenspeicherung geht auf eine EU Richtlinie aus dem Jahr 2006 zurück, an der auch die Republik Österreich selbst beteiligt war. Österreich hat sich zwar lange geziert, glaubte schließlich aber den Drohungen der EU-Kommission mit einem Vertragsverletzungsverfahren nachgeben zu müssen und hat die Vorratsdatenspeicherung mit 1. April 2012 umgesetzt. Die Richtlinie war eine typische Anlassgesetzgebung, die unter dem Eindruck der Bombenattentate in Spanien und Großbritannien erlassen worden war. Der sogenannte „Kampf gegen den Terrorismus“ führte damals zu dem Glauben, immer mehr Überwachung einführen zu müssen – ohne zu prüfen, ob diese Maßnahmen wirklich sinnvoll und mit den demokratischen Prinzipien vereinbar sind.
Bedenken in der Bevölkerung
Die Einführung der Vorratsdatenspeicherung sorgt zu Recht für große Bedenken in der Bevölkerung. Wie kaum ein anderes Gesetz in der jüngsten Zeit, hat es die Menschen beunruhigt und verärgert. Eine große Mehrheit kann einfach nicht verstehen wozu das gut sein soll und fühlen sich bedroht. Das Gesetz verstört die Menschen und steht in keinerlei Relation zu den dadurch für die Exekutive im Kampf gegen das organisierte Verbrechen entstehenden Möglichkeiten. Diese werden als relativ bescheiden bewertet und rechtfertigen keinesfalls derartig gravierende Eingriffe in die Grundrechte („Brüssel in Erklärungsnot“, Link zu heise.de).
Warum dennoch Hoffnung besteht
Die Richtlinie ist europaweit noch immer nicht vollständig in Kraft, Deutschland muss nach einem Urteil seines Verfassungsgerichts ein neues Gesetz einbringen. Gleichzeitig hat die irische Regierung eine erfolgsversprechende Klage gegen die Richtlinie beim EuGH eingebracht. Erhebliche Unzufriedenheit über die unterschiedliche Handhabung der Richtlinie in den einzelnen Mitgliedsstaaten gibt es auch bei der Europäischen Kommission. Für diesen Sommer hat sie deshalb eine Reform der Richtlinie angekündigt, die zwar nicht zu deren Aufhebung führen soll, aber doch einige gravierende Änderungen erwarten lässt. Vor allem, was die Speicherdauer, den Zweck und die Reichweite, den Kostenersatz für die Provider und einen besseren Schutz der Grundrechte betrifft.
Parlament gefordert
Es wird eine große Herausforderung für das Europäische Parlament werden, das alles zu korrigieren, was sich die europäische Ebene in einer beispiellosen Regulierungswut vor mehr als fünf Jahren angemaßt hat. Mit dem entsprechendem Druck von außen und mit guten Argumenten wird vielleicht einiges möglich sein. Gerade die Geschichte des ACTA-Abkommens ist ein gutes Beispiel dafür, dass nicht alles so laufen muss, wie es sich manche in der Kommission vorstellen. Und Cecilia Malmström (EU Kommissarin für Innenpolitik) ist nicht Karel de Gucht (EU-Handelskommissar). Während dieser sich mit flotten Sprüchen gegen das Parlament zu profilieren versucht, hat sie Erfahrungen als Mitglied des Europäischen Parlaments und seinerzeit auch gegen die Richtlinie gestimmt.
Download: Council of the European Union/Commission Services, Consultation on reform of Data Retention Directive, 18620/11, 15.12.2011, S. 8, online: http://quintessenz.at/doqs/000100011699/2011_12_15,Eu_Commission_data_retention_reform.pdf (11.1.2012)
Es scheint Ruhe einzukehren auf den Finanzmärkten. Zumindest vorübergehend. Eine Zwischenbilanz zeigt: Konfus und von Vorurteilen getrieben, versuchten Europas verantwortliche Politikerinnen und Politiker den Krisenbrand zu löschen, für den sie selbst mitverantwortlich waren, weil sie in ihrem naiven Vertrauen auf die Selbstregulierungskräfte der Märkte, vorher die „firewalls“ beseitigt hatten. Um die Situation in den Griff zu bekommen, setzten sie schwere Munition ein, die „Dicke Bertha“ oder die „Bazooka“ und „fluteten“ den Kapitalmarkt. In der berechtigten Angst, dass der griechische Brand auf andere Länder übergreift, griffen sie zu Wasserwerfern und zerstörten das griechische Haus bis auf seine Grundfesten. Diese Strategie könnte tatsächlich aufgegangen sein und die Gefahr eines finanzpolitischen Flächenbrandes scheint fürs nächste gebannt.
Krise lösen?
Also, Ende gut- alles gut? Nein. Man hätte die Krise mit Sicherheit schneller lösen können. Nicht in zwei Jahren, sondern in zwei Monaten. Dies war nicht möglich, weil das bestimmende politische Personal (in der EU und in den meisten Mitgliedsstaaten) weder über das nötige theoretische Wissen noch über den politischen Willen verfügte, für ein europäisches Problem, eine europäische Lösung zu versuchen. Innenpolitische Rücksichtnahme verstellte den Blick für die historischen Notwendigkeiten. Merkel torkelte von Landtagswahl zu Landtagswahl. Am Ende gab es zwar eine Lösung, aber sie ist der Ausdruck der in Europa grassierenden Kleingeisterei. Konservativ durch und durch erschöpft sie sich in der Flucht vor staatlicher Verantwortung, verlässt sich ängstlich auf die Selbstregulierungskraft der Märkte und kennt nur ein einziges Mittel: Sparen. Dieser Austeritätsfetischismus ist gefährlich. Er ruiniert Volkswirtschaften nachhaltig, gerade jetzt am Beispiel Griechenlands zu studieren. Er zerstört aber auch die demokratischen Grundlagen der einzelnen Nationalstaaten. Um der heimischen Wählerschaft willen, deren Kenntnis wirtschaftlicher Zusammenhänge sich auf die Informationen von Boulevard Medien und selbsterklärten Experten bezieht, werden souveräne Staaten so behandelt, als wären sie deutsche Bundesländer. Was für Deutschland, genauer für seine Meinungsführer und Meinungsführerinnen gut ist, das wird doch auch von den anderen zu verlangen sein. „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ hieß es ehedem. Diese verhängnisvolle Losung hört man immer öfter. Gepaart mit dem ebenfalls populären „Wer zahlt, schafft an!“ ist sie wie Sprengstoff und geeignet, das europäische Projekt schwer zu beschädigen.
„Deutsches Europa“ oder „Europäisches Deutschland“?
Ein „deutsches Europa“, von dem neuerdings immer häufiger die Rede ist, ist etwas anderes als ein „europäisches Deutschland“. Und es ist bezeichnend, dass die Fiskalunion, die primär die deutsche Wählerschaft beruhigen soll, außerhalb der europäischen Verträge konzipiert ist. Neben die bisherige EU wurde gleichsam eine zweite EU gesetzt, die weitgehend der Mitsprache des Europäischen Parlaments entzogen ist. Dafür haben der Europäische Gerichtshof und die Europäische Kommission sehr wohl Relevanz. Dem Austeritätsdogma zuliebe nimmt man bewusst eine Schwächung der Demokratie in Kauf.
Für ein starkes Parlament!
Martin Schulz hat in seiner Antrittsrede als Präsident des Europäischen Parlaments diesen Tendenzen, „den Kampf angesagt“: „Das Ergebnis einer parlamentarisch unzureichend legitimierten Politik wird von den Bürgern als Diktat aus Brüssel empfunden. Den Preis dafür bezahlt die EU als Ganzes: … Und dem wird das Europäische Parlament nicht tatenlos zuschauen!“. Es ist wichtig, dass sich gerade ein deutscher Parlamentspräsident so klar und deutlich zu einem demokratischen und gemeinschaftlichen Europa bekennt.
Populistische Stammtischkategorien
Sonst müsste man tatsächlich verzweifeln. Man braucht ja nur dem Stichwortgeber der bundesdeutschen Finanzpolitik, Hans-Werner Sinn zuhören, der gegenwärtig die Öffentlichkeit mit seiner skurillen „Target 2“-Argumentation verwirrt und verunsichert. Damit wird er genau so wenig rechtbehalten wie damals vor fünf Jahren, als er behauptete, Deutschland wäre kein Exportland mehr. Wie er freilich seine Argumente begründet, das wird leider nachhaltigen Schaden verursachen. Seine Argumentation stützt sich vornehmlich auf populistische Stammtischkategorien. Die Gefahren gehen nämlich von den „lateineuropäischen Ländern“, „vom mediterranen Lebensstandard“ oder von den „immer neue Partys feiernden …. Südländern“ aus. Die deutschen Rentner müssten daher um ihre Alterssicherung bangen (- fast so als ob es keine Finanzspekulation gegeben hätte). Diese Töne sind zumindest in der Intensität, mit der sie öffentlich vorgebracht werden, neu. Dass dieser Bocksgesang in den nächsten Monaten anschwellen wird und am Ende vielleicht etwas ähnliches passieren wird, was sich vor einer Generation in Jugoslawien zugetragen hat kann befürchtet werden. Das muss verhindert werden, denn Europa ist zu wichtig, um es zerfallen zu lassen.