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Die Aktualität des 12. Februar

Referat von Josef Weidenholzer bei der Gedenkveranstaltung der SPÖ in Mauthausen am 13.02.2014
Ich freue mich sehr, dass ich heute bei Eurer Feier zum Gedenken an die Ereignisse des 12. Februar sprechen darf. Ich bedanke mich für die ehrenvolle Einladung und vor allem dafür, dass ihr diesen Tag nicht in Vergessenheit geraten lässt. Obwohl ich im Laufe meines politischen Lebens schon oft zu diesen Ereignissen das Wort ergriffen habe, ist es für mich immer wieder aufs Neue eine Herausforderung.
Immer wieder frage ich mich, warum uns dieser 12. Februar 1934 noch immer bewegt. Warum wir Sozialdemokraten auch nach mittlerweile 80 Jahren darüber reden müssen. Und warum die meisten Konservativen auch nach 80 Jahren noch nicht darüber reden wollen. Ja sollten wir nach so vielen Jahren nicht einfach damit aufhören, in den Wunden des Vergangenen zu wühlen oder vielleicht großzügig darüber hinwegsehen? Gibt es denn heute nicht viel wichtigere Dinge, derer sich die Sozialdemokratie annehmen sollte? Das stimmt zweifelsohne. Die Menschen erwarten von uns politische Antworten auf die drängenden Fragen der Gegenwart. Rasch und unzweideutig. Sie wollen wissen, ob wir ihre Zukunftsängste ernst nehmen.
Angst ist heute allgegenwärtig. Die Angst um den Arbeitsplatz, die Angst den mühsam erworbenen Wohlstand zu verlieren oder ihn mit anderen teilen zu müssen. Angst ist ein problematischer Wegbegleiter des Politischen. „Angst essen Seele auf“ sagte der Filmregisseur Rainer- Werner Fassbender einmal. Ängste zu schüren gehört zum Standardrepertoire der Volksverführer. In der Vergangenheit genauso wie in der Gegenwart. Deshalb muss verantwortungsvolle Politik die Sorgen der Menschen ernst nehmen und sie beantworten. Die Sozialdemokratie hat sehr gute, ja sie hat die richtigen Antworten. Sie steht für mehr und bessere Jobs, für Recht und Sicherheit und dafür, dass jeder Mensch gleich viel wert ist.
So einfach und vernünftig diese Botschaft ist, so schwer ist sie gegenwärtig zu vermitteln. Die Menschen sind verunsichert, weil sie spüren, dass wir uns in einer historischen Krise befinden.
Und weil das so ist, müssen wir gerade heute wieder über 1934 reden. Ja und wir müssen unsere Finger auf die schon lange vernarbten Wunden legen. Das sind wir nicht nur den Opfern schuldig.
Im Zusammenhang mit dem 12. Februar hatte der Grundsatz, dass wir aus der Geschichte lernen könnten, noch nie so eine Berechtigung wie jetzt. So wie die Gründer der Zweiten Republik ihre, in der damaligen Situation durchaus richtigen Lehren gezogen hatten, sich zur politischen Mäßigung zwangen und das System der Sozialpartnerschaft zu entwickeln begannen, so müssen wir auch heute wieder dazu bereit sein, über den Tellerrand zu blicken.  Aus heutiger Sicht war es damals vielleicht etwas voreilig, sich die Hände zu reichen, ohne zu klären, was eigentlich vorgegangen, also der Katastrophe vorausgegangen war.  All zu schnell hatte man sich nämlich darauf geeinigt, die Verfassung in der Fassung von 1929 wieder in Kraft zu setzen. Niemand wollte darüber reden, ob diese wirklich tauglich war, den neuen Herausforderungen gerecht zu werden.
Ganz anders waren die Konsequenzen, die unsere deutschen Nachbarn zogen. Sie verwarfen die Weimarer Verfassung und schufen eine auf dem Grundgesetz basierende Rechtsordnung.
In Österreich gab es nicht einmal den Versuch einer Diskussion. In der Nachkriegszeit hatte man nämlich den Focus auf bedingungslose Zusammenarbeit gelegt.  Der Krieg der Worte dürfe sich nie wieder in einen Krieg der Waffen ausweiten. Es war nicht falsch, was meine Elterngeneration da machte. Vor allem war es klug, weil in einem Land, wo der Ost-West Konflikt quer durch das Bundesgebiet verlief, dies die real existierende Gefahr einer Teilung des Staatsgebietes verstärkt hätte.
Die Probleme wurden allerdings damit nicht aus der Welt geschafft. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben sagt der Volksmund zutreffend.Im Gegensatz zu Deutschland blieb die Bewältigung der Vergangenheit aus. Österreich als erstes Opfer der Nazi- Agression. Mit dieser Notlüge ließ sich gut leben. Da war es dann auch nicht mehr schwierig der Welt weiszumachen, dass Hitler ein Deutscher und Beethoven ein Österreicher war. Bis zur Waldheim Affäre Mitte der 1980-er Jahre belogen wir uns also selbst und das mit nachhaltigen Konsequenzen. In einer auf diese Weise entpolitisierten Landschaft konnten später Figuren, wie Haider, Strache oder Stronach gedeihen. Eine unmittelbare Auswirkung dieses Vergangenheitverdrängens war die Ausblendung der Umstände, weshalb es überhaupt zu den Februarereignissen gekommen war. Das lag durchaus im Interesse der ÖVP. Wenn man nicht über die Schuld an der „großen“ Katastrophe des Nationalsozialismus redete, wieso sollte man sich denn dann mit der „kleinen“ Katastrophe des Austrofaschismus beschäftigen?  Das erklärt unter anderem, wieso man kein Unrechtsbewusstsein hatte, ein Bild des Diktators Dollfuß im  Parlamentsklub der ÖVP aufzuhängen.
Erst in den 1970-er Jahren regte sich ein diesbezügliches Unrechtsbewusstsein. Das waren jene Zeiten, als man begann, sich vorsichtig an die Aufarbeitung der Vergangenheit zu machen.  Gefördert durch Sozialdemokraten wie Bruno Kreisky, Engelbert Broda oder Herta Firnberg und beflügelt durch einen von kritischer Auseinandersetzung mit allem Etablierten getriebenen Zeitgeist. Ich hatte das Privileg damals dabei sein zu dürfen. Als junger Assistent bei Karl R. Stadler an der Linzer Universität. Gemeinsam mit engagierten Kollegen begannen wir das andere Österreich zu rekonstruieren, das Österreich der Arbeiterbewegung, deren Führer man ins Ausland vertrieben hatte, das Österreich der Verfolgten und Vertriebenen, über die man den Mantel des Schweigens gelegt hatte und das Österreich der Täter und opportunistischen Profiteure, deren Schatten das geistige Klima erstickten.
An unserem Institut hatten wir auch die erste empirische Untersuchung über rechtsextreme und autoritäre Tendenzen im Bewusstsein der österreichischen Bevölkerung durchgeführt.
Die Ergebnisse waren erschreckend und ließen vorausahnen, was noch auf uns zukommen sollte. Wir prognostizierten damals, dass eine rechtsautoritäre Partei bis zu einem Viertel der Bevölkerung gewinnen könnte. Unsere Befunde, Argumente und Sorgen wurden beiseite geschoben, ja belächelt. Wir würden in der besten und der stabilsten aller Welten leben. Österreich wäre eine Insel der Seligen. Das offizielle Österreich schwebte damals in einer Wolke der Harmoniesucht und Selbstgerechtigkeit.  Nur ja nichts aufrühren, nur ja nicht nachfragen. Diese Ignoranz rächt sich heute.
Die Finanzkrise hat Gesellschaft und Politik erfasst. Die Menschen sind orientierungslos und haben das Vertrauen in die Politik und die demokratischen Institutionen verloren. Es fällt mir schwer das zu sagen, aber es ist leider zutreffend, die Situation gleicht jener der Dreißiger Jahre. So wie damals sehnen sich auch heute die Menschen nach Alternativen. So wie damals sind jene, die das Übel – die Dominanz des Finanzkapitals- an der Wurzel anpacken wollen, mangels politischer Mehrheit, dazu nicht in der Lage. Sowie damals wird die Schuld bei den anderen gesucht, werden Sündenböcke erfunden und vor allem wird der Hass auf die Parteiendemokratie geschürt.
Und das sollte bei aller Harmoniesucht nicht vergessen werden. Es gibt keine geteilte Schuld. Schuld haben jene auf sich geladen, die mit Worten und Taten die Demokratie sukzessive ausgehöhlt und schließlich kaputt gemacht haben. Darüber kann man nicht hinwegsehen. Natürlich heißt das nicht, dass man sich nicht versöhnen sollte. Aber das ist ein anderes Kapitel. Versöhnung heißt doch, etwas zu vergeben. Wenn ich das mache, dann muss ich doch wissen, was der andere gemacht hat. Und zu wirklicher Versöhnung gehört auch das Einbekenntnis von Schuld. Es war Bruno Kreisky, der immer wieder auf die Schlüsselrolle der Februarereignisse verwiesen hat. Sein berühmter Ausspruch: „Lernen Sie Geschichte, Herr Redakteur“ war darauf gemünzt.
Und er hatte Recht,  wenn er darauf bestand, die Schuldfrage nicht fallen zu lassen: „Wir sagen das alles heute nicht aus Rechthaberei, sondern einfach deshalb, weil sich in der Demokratie jede Sünde wider den Geist der Demokratie rächt und rächen muss.“ Die  Geschichte der ersten Republik ist eine Geschichte voller Verhängnisse und Fehler. Sie war eine Republik, die von den Herrschenden nicht gewollt war. Jahrhundertelang war Österreich von einem Bündnis von Thron und Altar beherrscht gewesen. Das Volk hatte wenig zu reden. Alle Versuche, sich Mitsprache zu sichern, wurden entweder niedergeschlagen oder ausgesessen. Zu wirklichen Reformen war man unfähig. Über die Regierungskunst der Habsburger sprach man gern von der Kunst des Durchwurstelns.
Mit der Niederlage im 1.Weltkrieg brach das Habsburgerreich wie ein Kartenhaus zusammen. Die Konservativen und Christlich-Sozialen konnten sich nur schwer damit abfinden. Ihren bisherigen politischen Einfluss verdankten sie den Herrschenden und deren schützender Hand. Er war gleichsam gottgegeben. Mit dem Zusammenbruch 1918 verloren sie diesen Halt. Das Land lag darnieder, die öffentliche Ordnung war zusammengebrochen und die Menschen froren und hungerten. Es galt, das Ärgste zu verhindern. Und es gab in diesen Kreisen auch Kräfte, die bereit waren, anzupacken und pragmatisch an die Dinge heranzugehen. Auch unter demokratischen Bedingungen. Und auch mit den, bis zu diesem Zeitpunkt als „vaterlandslose Gesellen“, verfemten Sozialdemokraten. Die Sozialdemokratie hatte seit ihrem Gründungsparteitag in Hainfeld darauf gesetzt, über Wahlen die Mehrheit in den Parlamenten zu erzielen. Ihr Ziel war es eine, gerechtere, eine sozialistische Gesellschaftsordnung zu errichten.
Der Zusammenbruch der Monarchie eröffnete plötzlich die Perspektive zu einer sozialistischen Umwälzung. Wegen seiner geographischen Lage spielte der deutsch-österreichische Rest des Habsburgerreichs eine zentrale Rolle bei der Frage, ob sich die russische Revolution nach Kontinentaleuropa ausbreiten würde. Der berühmte Funke überspringen könnte. Viel kam auf die österreichische Sozialdemokratie an. Sie hatte es in der Hand, Geschichte zu machen. Und sie schrieb Geschichte, in dem sie sich entschied, auf dem Boden der Realität zu bleiben und die Menschen nicht einem riskanten Spiel mit einer ungewissen Zukunft auszusetzen. Zunächst galt es, die Versorgung der notleidenden Bevölkerung sicherzustellen und gleichzeitig einen verfassungsrechtlichen Rahmen zu schaffen, der einen demokratischen Übergang zum Sozialismus ermöglichte. Ja, man wollte eine andere Gesellschaftsordnung, eine revolutionäre Veränderung, allerdings nur dann, wenn die Mehrheit der Bevölkerung damit übereinstimmte. Revolution mit dem Stimmzettel. Diese verantwortungsbewusste Haltung der Sozialdemokratie sei all jenen in Erinnerung gerufen, die so leichtfertig von geteilter Schuld oder vom zerstörerischen Verbalradikalismus reden.
Der vom Sozialdemokraten Karl Renner angeführten rot-schwarzen Koalitionsregierung gelang es, Not und Elend entscheidend zu lindern, das Staatsgebiet zu konsolidieren und eine Bundesverfassung zu verabschieden. Sie machte Österreich auch zu einem Vorreiter in der Sozialgesetzgebung. Der Achtstundentag wurde eingeführt und Österreichs Arbeiter waren die ersten auf der Welt, die Anspruch auf bezahlten Urlaub bekamen. Das Land war zum ersten Mal eine Demokratie. Unter schwierigen Umständen war großartiges gelungen. Otto Bauer nannte es die „Österreichische Revolution“. Daran waren nicht nur SD beteiligt, auch das sei gesagt. In der Christlich-Sozialen Partei formierten sich aber bald jene Kräfte, die in der schwierigen Zeit grollend zugeschaut und  zugewartet hatten. Sie fühlten sich überrumpelt und trachteten danach, alles wieder rückgängig zu machen. Weg mit dem revolutionären Schutt hieß es. Man wollte nicht akzeptieren, dass nun jeder mitreden konnte. Es war schlicht unerhört für diese Kreise, dass man sich nun mit Betriebsräten oder Gemeinderäten auseinandersetzen musste, die man vorher als bloße Befehlsempfänger und Untertanen betrachtete. Die Gewerkschaften wurden als zerstörerische, lediglich Partikularinteressen vertretende Gruppen hingestellt. An deren Stelle müsse eine Volksgemeinschaft, gegliedert in Berufsstände  treten. Das Parlament wäre bloß eine Arena für Parteieninteresse, man müsse das Ganze sehen. Daher gelte es, eine „Wahre Demokratie“ herzustellen, bei es vor allem darauf ankomme, dass die wirklichen Führer an die Spitze kämen.
Solche Ideen geisterten durch die intellektuellen Zirkel in der akademischen Welt und in den Medien. Politisch und finanziell unterstützt durch Unternehmer und Bankiers und ideologisch abgestützt durch die Definitionsmacht der katholischen Kirche. Im besonderen war es der Landadel, der dafür sorgte, dass sich militarisierte Verbände gründeten, sogenannte Heimwehren. Unser Bundesland, OÖ war ein besonders fruchtbarer Boden dafür. Fanny Starhemberg attackierte die auf dem Boden der Verfassung stehenden Christlich-Sozialen, in dem sie diesem mit dem Bauern-Geselchten verglich: „Außen schwarz und innen rot“.
Seit der Gründung der Republik stand diese also fundamental unter Druck. Ideologisch war sie einem intellektuellen Dauerfeuer ausgesetzt und der von reaktionären Kreisen inszenierte Druck der Straße nahm ständig zu. Die Sozialdemokratie reagierte mit der Gründung eines Schutzbundes, der wie sein Name zum Ausdruck brachte, die Republik schützen sollte. Im Übrigen versuchte man jene Bereiche abzusichern und auszubauen, wo man an der Macht war. Also in den Städten und im besonderen in Wien, das ja Gemeinde und Bundesland zugleich war. Das „Rote Wien“ wurde zur Musterstadt. Weltweit bewundert als Beispiel für sozialdemokratische Kommunalpolitik. Die Konservativen im eigenen Land wurden freilich nicht müde, das Rote Wien als die Quelle allen Übels schlecht zu reden. Es gab also einen sofort ins Auge fallenden fundamentalen Gegensatz in der österreichischen Politik, der sich fortwährend in konfrontativen Auseinandersetzungen auflud. Immer wieder kam es zu gewalttätigen Zusammenstößen. Die Justiz arbeitete diese Vorfälle sehr parteiisch auf. Als im Juli 1927 die Mörder von Schattendorf freigesprochen wurden entlud sich der Zorn der Menschen. Der Justizpalast wurde in Brand gesetzt und die Regierung ließ auf die Demonstranten schießen. Mit katastrophalen Folgen. 89 Menschen wurden getötet und über 1000 verletzt. Der Bundeskanzler im Priesterkleid hieß fortan bei der Arbeiterschaft „Prälat ohne Milde“.
1927 bedeutet einen Wendepunkt. Die Arbeiterbewegung schien gebrochen. Vor allem fielen die Hemmungen auf der bürgerlichen Seite notfalls Gewalt einzusetzen, um den Einfluss der  Sozialdemokratie zu beschränken. Da halfen auch wiederholte Abrüstungsverhandlungen und die Verlautbarung  einer neuen, im Sinne der Parlamentarismuskritik die Rolle des Bundespräsidenten stärkenden Verfassung im Jahr 1929 nichts.  Hier waren die SD den Bürgerlichen weit entgegengekommen. Ein weiterer Beweis, dass es der Linken, auch in Zeiten höchster Erniedrigung darum ging, die demokratischen Strukturen zu bewahren.
Die erste Republik war aber nicht nur eine Zeit der Konfrontation und des verbalen Schlagabtausches, sie war vor allem eine Zeit verfehlter Wirtschaftspolitik. Der Staatshaushalt wurde niedergespart, die Löhne waren niedrig und die Arbeitslosenziffern hoch und die Investitionen flossen spärlich. Es ist bezeichnend, dass die österreichische Wirtschaft erst 1937 das Niveau von 1913 erreichte. Dies hing auch damit zusammen, dass Österreich von einem Auslandskredit, der sogenannten Völkerbundanleihe abhängig war. Damit waren, so wie heute in den südeuropäischen Krisenländern Auflagen verknüpft. Was für Griechenland heute die Troika ist, das war damals der Völkerbundkommissar. Dessen Einfluss war außergewöhnlich und letztlich fatal. So schrieb der Vertreter des Völkerbundes, der niederländische Diplomat Rost van Tonningen, über die Hintergründe der Ausschaltung des Parlaments im März 1933: „Zusammen mit dem Kanzler und [Nationalbank-Präsident] Kienböck haben wir die Ausschaltung des Parlaments für nötig gehalten, da dieses Parlament die Rekonstruktionsarbeit sabotierte.“
Es ist nicht schwer auszumachen, wen man da als „Saboteure“ da im Auge hatte. Erraten. Und es ist schon sehr infam, dann nach außen hin von einer „Selbstausschaltung“ des Nationalrates zu sprechen. Der 5.März 1933 bedeutete noch nicht das vollständige Ende der Demokratie in Österreich. Noch gab es die Sozialdemokratie, auch wenn deren Handlungsspielraum schon sehr eingeschränkt war. Noch gab es einen Bundesrat und neun Landtage, die demokratisch gewählt waren. Deren Einfluss versuchten die immer rabiater werdenden Heimwehren, die in der Bundesregierung bereits den Sicherheitsminister stellten  zu beschränken.
Auf diesem Hintergrund ist das alles zu sehen, was am 12.Februar 1934 geschah. Ja es war eine Verzweiflungstat von Richard Bernaschek, als er sich der auf die Parteizentrale der oöSD umgeleiteten Waffensuche durch die Sicherheitskräfte entgegenstellte und damit den Februaraufstand auslöste. Es war der vergebliche Versuch, die demokratische Ordnung in Österreich zu verteidigen. Es war das erste Mal, dass sich jemand in Europa offensiv einer faschistischen Machtergreifung widersetzte. Nicht einmal die traditionsreiche SPD war dazu in der Lage gewesen.
Die Bilanz war schrecklich. Mehr als 1000 Tote und Verletzte auf beiden Seiten. Neun Schutzbündler, darunter Kolomann Wallisch und Karl Münichreiter wurden hingerichtet. Obwohl Engelbert Dollfuß vorgab, mit der Ausrufung des Ständestaates, Österreich vor einer nationalsozialistischen Machtergreifung zu bewahren bewirkte er genau das Gegenteil. Mit der nun noch ungehemmter betriebenen Austeritätspolitik vergrößerte er das Heer der Arbeitslosen, die auf die Versprechungen der Nazis hereinfielen. Mit seiner Politik der Ausgrenzung und Verfolgung der SD schwächte er die Widerstandkraft der österreichischen Bevölkerung gegen die aggressive Politik Hitlerdeutschlands.
Als die deutschen Truppen im März 1938 in Österreich einmarschierten, da fiel ihnen das Land wie eine reife Frucht zu. Und darum müssen wir SD an jedem 12.Februar daran erinnern, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte. Wir dürfen nicht müde werden, daran zu erinnern, wer schuld trägt, dass es soweit gekommen ist. Und für unser politisches Handeln sollte Kreiskys Vermächtnis gelten, dass sich „jede Sünde wider den Geist der Demokratie rächt“. Wenn wir uns darum redlich bemühen, dann waren die Opfer jener, die die Fahne der Demokratie hochgehalten haben, nicht vergeblich.

Am 22.1.1911 wurde Bruno Kreisky geboren

Wie kaum ein anderer Politiker hat er das moderne Österreich geprägt. Die “Kreisky-Jahre” haben den Grundstein für ein modernes und weltoffenes Österreich gelegt. Jahre des sozialen Aufstiegs und des Ausbruchs aus dem konservativen Mief der Nachkriegszeit, Jahre der Gewissheit und der Sicherheit: Eine Zeit, in der die Mehrzahl der Menschen das Gefühl hatte, fair und gerecht behandelt zu werden.
Als Geburtstagsgeschenk an alle, die sich für sein Leben interessieren, eine Broschüre zum Download.

Bruno Kreisky Broschüre

Zwischen den Jahren

Ich liebe diese Tage zwischen den Jahren. Einfach ohne Termindruck Dinge zu tun, die einem nicht vorgegeben sind und sich vom Tag treiben zu lassen, das hat schon was. Vor allem, den Gedanken freien Lauf zu lassen oder herumzustöbern in ungeordneten Materialien, die exakt auf solche Zwischenzeiten warten. Der Versuch, Ordnung in die Unordnung am Schreibtisch, im Bücherregal oder am Computer zu bringen, ist freilich vergeblich. Zu sehr lockt die Aussicht auf das vergangene Jahr zurückzublicken und sich Gedanken über das sich schon lautstark mit verfrühten Neujahrsraketen ankündigende kommende Jahr zu machen.
Flaschenpost vom Großvater
Mir fällt eine beinahe hundert Jahre alte Postkarte in die Hände, die mein Großvater seiner Familie zu Ostern 1917 von der Isonzofront geschickt hatte. Auf dieser ist ein Blatt einer nicht mehr zu identifizierenden Pflanze befestigt, darunter der heute noch deutlich lesbaren Vermerk: „Mehr kann ich Euch von hier nicht schicken.“ Ich erinnere mich noch gut an meinen Opa mütterlicherseits, gerade jetzt, wo ich mich in diesen Tagen zum ersten Mal selbst in der Rolle eines Großvaters erprobe. Viele Geschichten wusste er zu erzählen. Meist waren sie lustig und immer interessant. Auch der 1. Weltkrieg kam immer wieder vor. Großvaters Kriegserinnerungen waren nicht martialisch, vielmehr liebte er es, allerlei Skurriles einzuflechten. Wie auch immer, es reichte für ein ordentliches Vorurteil. Meine Kindheit war, wie die vieler meiner Altersgenossen auch, begleitet von Ressentiments gegenüber den Italienern, „den Katzelmachern“, denen man nicht trauen könne. Wenn ich das heute meinen Pizza und Pasta schätzenden und die italienische Kultur liebenden Kindern erzähle, dann sind sie fassungslos. Ja, es hat sich vieles verändert. Der Krieg scheint wie ein Gespenst aus vergangenen Zeiten. Weit weg und in opulente Bildbände verpackt. Meinem Enkel, wenn es dann einmal soweit ist, werde ich dann höchstens von 1968 und meinen diesbezüglichen Heldentaten erzählen können. Ich gehöre zu einer Generation von Großvätern, die ihren Enkelkindern gegenüber nicht mit Kriegserlebnissen aufwarten können. Mein Großvater würde sich freuen, dass mir dieses Erlebnis erspart geblieben ist. Und mein Großvater würde sich wundern, dass die einstigen Feinde in einer gemeinsamen Union leben, in der sie einen großen Teil ihrer einstigen nationalen Souveränität teilen. Er, der ein Kaufmann aus Leidenschaft und Berufung war, würde sich im Gemeinsamen Markt bestimmt wohlfühlen. Es ist reizvoll, sich das alles vorzustellen. Unter „normalen Umständen“ würde ich meinen Gedanken freien Lauf lassen und mir vielleicht neue Möglichkeiten ausmalen, Pläne für allerlei Projekte schmieden oder mich einfach der Selbstzufriedenheit hingeben.
1914 reloaded
Doch die Umstände sind nicht normal. Wir leben in Zeiten einer chronischen Krise, die schon lange keine bloße Finanz-und Wirtschaftskrise mehr ist. Sie hat die politischen Institutionen erfasst und das politische Verhalten der Menschen nachhaltig verändert. Die Zeiten sind unberechenbar geworden. Nichts ist so wie vor 2008. Dieses Jahr jährt sich zum hundertsten Mal der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Kein übliches Erinnern kündigt sich an. Das Interesse ist enorm. Nicht nur wegen der runden Jahreszahl. Fast alle Kommentare beschwören, dass dieser Krieg, gleichsam der Urkonflikt des 20. Jahrhunderts, nicht wirklich gewollt, ja, dass man in ihn hineingeschlittert war. Der auch von europäischen Spitzenpolitikern im privaten Kreis gern zitierte Bestseller „1913“ von Florian Illies schildert die Unbeschwertheit und Sorglosigkeit der Menschen im letzten Sommer vor dem Krieg. Oder wie es Stefan Zweig in seinem letzten Werk: „Die Welt von Gestern, Erinnerungen eines Europäers“ beschreibt – ein Buch, das ich in diesen Tagen immer wieder zur Hand nehme: „Wenn man heute ruhig überlegend sich fragt, warum Europa 1914 in den Krieg ging, findet man keinen einzigen Grund vernünftiger Art und nicht einmal einen Anlaß. … Jeder Staat hatte plötzlich das Gefühl, stark zu sein, und vergaß, daß der andere genauso empfand, jeder wollte noch mehr und jeder etwas von dem anderen.“ Erinnert einen nicht vieles an das, was wir gegenwärtig erleben? Kann es nicht genauso, wie damals, einfach wieder „passieren“, dass Europa auseinander fällt?
Der Zweite Weltkrieg war vorhersehbar, der Erste nicht. Ohne 1914 hätte es das Inferno von 1945 auch niemals gegeben. Die „Welt von Gestern“, die mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende ging war eine optimistische Welt, eine gelöste und heitere Welt, in der sich die Menschen sicher fühlten. Stefan Zweig malte das erste Jahrzehnt des 20.Jahrhunderts in den hellsten Farben. Zum ersten Mal wäre in der Geschichte „ein europäisches Gemeinschaftsgefühl“ zu bemerken gewesen, so etwas wie ein „europäisches Nationalbewusstsein im Werden“: „Wie sinnlos, sagten wir uns, diese Grenzen, wenn sie jedes Flugzeug spielhaft leicht überschwingt, wie provinziell, wie künstlich diese Zollschranken und Grenzwächter, wie widersprechend dem Sinn unserer Zeit…..ich bedaure jeden, der nicht jung diese letzten Jahre des Vertrauens in Europa miterlebt hat.“  Werde ich ähnliches einmal meinem in England aufwachsenden Enkel erzählen müssen? Dass es eine Welt gab, die um so vieles besser, vor allem aber voller Möglichkeiten war. Vielleicht wird er sich in zehn Jahren fragen, warum das Vereinigte Königreich aus pur nationalistischer Verblendung die Europäische Union verlassen hat. Wird es Europa in dieser Form noch geben? Sehr nachdenklich hat mich eine Facebook-Notiz meines Fraktionsvorsitzenden Hannes Swoboda am Heiligabend gemacht: „Hundred years ago, Christians in Europe celebrated the last Christmas before Christians started World War One. This terrible war was a start into a century of conflict, hatred and bloodshed. Let’s not destroy the Europe of today which is an answer to that of yesterday.“ Mein Freund Hannes neigt nicht zu Übertreibungen und ist eher vorsichtig mit seinem Urteil. Deswegen sollten uns solche warnenden Stimmen hellhörig werden lassen. Ja, es steht viel am Spiel und es kann schneller kommen als man glaubt.
Immer wieder grüßt der Nationalismus
Manche Töne ähneln jenen, von denen Zweig sprach. „Stark zu sein“ wird wieder einmal zur nationalen Tugend hochstilisiert. Noch sind das Einzelstimmen und kein Chorgesang. Aber schön langsam formt sich ein Klangbild, ein kakophonisches. Gerade zur Weihnachtszeit startete der christlich-soziale Ministerpräsident von Bayern, Horst Seehofer, einen Frontalangriff auf die Freizügigkeit des Personenverkehrs, einer der vier Grundsäulen des Binnenmarktes, dem Herzstück der europäischen Integration. „Wer betrügt, der fliegt“ heißt es knackig in der neuen Kampagne der CSU. Sieben Jahre nach dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens, nach sieben Jahren, in denen man sich auf diesen Augenblick vorbereiten hätte können, schürt man nun plötzlich Ängste vor einer drohenden Armutszuwanderung. In ähnlichen Gewässern wildert auch der erfolglose David Cameron, der unter dem Druck der rechtspopulistischen UKIP steht. Um nicht zu viele Stimmen an den rechten Rand zu verlieren, ist jedes Mittel recht. Da wird sogar dem Grand Old Man der Tories, Winston Churchill, ans Bein getreten. Großbritannien könnte sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verabschieden, tönte Cameron im Herbst bei der Jahreskonferenz seiner Partei. Sein Vorvorgänger hatte sich, noch unter dem Eindruck des fürchterlichen Krieges stehend, für diese Konvention stark gemacht. Der britische Euroskeptizismus, der meist ganz bizarre Züge trägt, hat das Land entgegen ursprünglichen Erwartungen im Spiel der europäischen Regierungen nicht isoliert. Frau Merkel und das europakritische Lager haben alsbald die Chancen gesehen, den britischen Eigensinn für die eigenen Zwecke zu nutzen.
Im Gegensatz zur Bonner Republik, deren Europapolitik auf der, auf dem historischen Versöhnungswerk aufbauenden deutsch-französischen Sonderbeziehung beruhte, setzt die Berliner Republik mehr und mehr auf das Konzept einer deutschen Hegemonie. Gerade in der Debatte um die Euro-Rettung geht es schon lange nicht mehr um die Sache an sich. Mit deutscher Hartnäckigkeit wird die reine Lehre, einer an deutschen Primärtugenden wie Fleiß und Sparsamkeit ausgerichteten Wirtschaftspolitik ausgefochten. Bis zum Bundesverfassungsgericht. Der Präsident der Bundesbank, Jens Weidmann, mutierte zur Galionsfigur der nationalen Nationalökonomen. Fiat justitia et pereat mundis, heißt das in der Juristensprache. Hauptsache Recht zu behalten, auch wenn die Welt darüber zugrunde geht. Einer der ihren, Bernd Lucke, gründete sogar eine eigene Partei, die AfD, die bei den Bundestagswahlen nur knapp den Einzug ins Parlament verfehlte. Die immer häufiger zu beobachtende Strategie Berlins, europäische Probleme nicht im Rahmen der europäischen Institutionen gemeinschaftlich, sondern intergouvernemental zu regeln, ist ein klares Indiz dafür, dass die Entscheidung bei den deutschen Eliten schon gefallen sein dürfte. Nicht um ein europäisches Deutschland geht es, sondern um ein deutsches Europa.
Und da wird die ganze Sache problematisch. Hieß es nicht auch im Vorfeld des Ersten Weltkriegs immer wieder: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.“ Mit Sorge ist daher auch die Entwicklung der deutsch-französischen Sonderbeziehungen zu sehen. Diese waren jahrzehntelang Rückgrat und Motor des europäischen Integrationsprozesses. Immer wieder gab es auch Krisen in diesem Verhältnis. Angela Merkel tut sich allerdings schwer mit Frankreich, besonders seit Hollande Präsident ist. Diese Entfremdung ist freilich nicht Deutschland allein anzulasten. Sie ist wechselseitig. Nicht zuletzt unter dem Druck einer immer populäreren Rechten hat sich auch die französische Politik ein zweites, nationalstaatliches Spielbein zugelegt. Marie Le Pen, die von der Presse bereits zur Siegerin der Europawahlen erklärte Rechtspopulistin, träumt von einem Zerfall der EU und von einem Europa der Vaterländer. Auch Russland sollte eine größere Rolle spielen. Demokratie hin oder her, Le Pen und ihre Verbündeten hofieren geradezu den Russen. Ein neues Kräftedreieck Paris – Berlin – Moskau soll an die Stelle des Brüsseler Zentrums treten. Absurd zwar, aber bedrohlich für die Idee eines Gemeinsamen Europas und für seine Kleinstaaten. Nicht alles ist so radikal gedacht, wie Le Pens Vorstellungen. Aber in vielen Staaten Europas nehmen antieuropäische Tendenzen überhand. In den Niederlanden, in Skandinavien oder in Tschechien.
Der Geist ist aus der Flasche
In Ungarn können wir studieren, wie es einmal sein könnte, wenn sich das Gift des Nationalismus weiter ausbreitet. Wie der berühmte Geist aus der Flasche, den man, einmal ausgelassen, nicht mehr einfangen kann. Ich habe im letzten Jahr im Rahmen meiner parlamentarischen Tätigkeit viel Zeit und Energie darauf aufgewendet, mich mit Ungarn auseinanderzusetzen. Ich habe mich intensiv in die Beratungen um den Tavares -Bericht eingebracht, weil ich darin eine Möglichkeit sah, Ungarn eine Chance zu geben, seine Grundrechtsverletzungen rückgängig zu machen. Diese helfende Hand wurde nicht angenommen. Vielmehr wurden alle, die sich für den Kompromiss einsetzten, als Feinde Ungarns denunziert. Welche Ausmaße so etwas annehmen kann und wie sehr das offizielle Ungarn dabei mitspielt, nationalistische Ressentiments zu verstärken, konnte ich in diesem Herbst in meiner Heimatstadt Linz erleben. Ich hatte mich dafür eingesetzt, dass eine von nationalistischen Ungarn zerstörte Ausstellung der Aktionskünstlerin Marika Schmiedt wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Rechtsnationalistische, Jobbik nahestehende Kreise setzten alles in Gang, um das zu verhindern, und wurden dabei vom ungarischen Botschafter in Wien unterstützt.Der damalige Linzer Bürgermeister Franz Dobusch erzählte mir, dass er in den 25 Jahren seiner Amtszeit so etwas noch nie erlebt hätte. Ganz vorne dabei war auch die in solchen Zusammenhängen immer präsente Anwältin Eva Maria Barki. Wessen Geistes Kind sie ist, zeigte sie in einem offenen Brief an den neuen österreichischen Außenminister, der einen Tag vor Weihnachten in den sozialen Medien zirkulierte: „Die ungarische Krone hat über das staatliche Symbol im Staatswappen hinaus bis heute sakrale Bedeutung, sie ist für das ungarische Volk heilig. Die Verspottung in der ungarischen Botschaft hat das ungarische Volk ins Herz getroffen …… Die Empörung ist umso verständlicher, weil die gegenständliche Aktion der vorläufige Höhepunkt in einer Reihe von medialen Beleidigungen, Verleumdungen und Angriffen gegen Ungarn ist.“ Na bumm, kann man da nur sagen. Wer so drauf ist, der ist keinen rationalen Argumenten mehr zugänglich.
Ich lese mindestens zweimal wöchentlich den Pester Lloyd, den es meines Wissens nur mehr online gibt. Es ist immer wieder erschütternd zu sehen, was sich in unserem Nachbarland abspielt. Wie sehr der Blick zurück in die Geschichte mittlerweile die Lösung der realen Probleme verhindert. Rationale Argumente zählen nur mehr wenig, schuld sind immer nur die anderen. Die Feinde im Inland Juden und Roma, also alle die nicht zur glorreichen Nation der Heiligen Stephanskrone zugehörig sind, und die Feinde im Ausland, besonders jene in den benachbarten Staaten, also die Rumänen und Slowaken, auch die Österreicher und vor allem die Brüsseler Eurokraten. Den Herrschenden geht es nicht mehr darum, die aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen. Sie gaukeln den Menschen vor, dass mit einer Revision des Friedensvertrages von Trianon (1920 !!!) – welch absurdes Ansinnen- Ungarn dazu endlich in der Lage wäre.
Womit wir wieder beim Ersten Weltkrieg und bei meinem Großvater wären. Wiederholt sich die Geschichte? Frisst sich der Irrsinn, wie schon so oft in der Geschichte, von den Rändern Europas in sein Zentrum? Ich krame in den Stapeln von Zeitungsausschnitten und Kopien auf meinem Schreibtisch und finde ein Interview mit G.M. Tamás, einem früheren Freund und Mitstreiter Viktor Orbans gegen die Kommunisten. Er liefert uns die Erklärung. Für diesen Irrsinn, der sich östlich des Neusiedlersees in immer intensiveren Dosierungen ereignet, sind nicht die per se nationalistischen, „heißblütigen“ Magyaren zur Verantwortung zu ziehen. Der Wahnsinn hat Methode. Er ist einer verfehlten, neoliberalen Politik nach dem Zusammenbruch des Kommunismus geschuldet. „I was obliged to recognize that our naive liberalism had delivered a nascent democracy into the hands of irresponsible and hate-filled right-wing politicos..“
Sag mir, welches Menschenbild Du hast….
Was in Ungarn passiert ist, könnte überall in Europa passieren und passiert auch. Überall dort, wo verantwortungslos soziale Bindungen zerstört werden, wachsen Unsicherheit und Angst. Angst weckt bzw. verstärkt das Bedürfnis nach Halt und nach einfachen Erklärungen. Schuldige müssen identifiziert, benannt und vorgeführt werden. Sündenböcke dienen vor allem dazu, vom eigenen Unvermögen abzulenken, die Dinge in den Griff zu kriegen. Manche sind dabei besonders innovativ, verspüren eine geradezu obsessive Mission zum Denunzieren. Obwohl sie zumeist persönlich gut abgesichert sind und im Trockenen sitzen, spüren sie akribisch nach Sündenböcken.
Mitunter ist es gut, dass ich mich nur ungern von Zeitungsauschnitten trenne. Da fiel mir doch glatt ein Artikel aus dem Jahr 1982 über eine sogenannte „Dekadenztheorie des Sozialstaates“ in die Hände. Schon etwas vergilbt. Die Person, deren theoretische Überlegungen hier erörtert wurden, sagte mir damals noch nichts. Mich wunderte bloß, dass er Büroleiter eines (noch dazu linken) SPD Finanzministers war. Thilo Sarrazin hieß er und seine Botschaft war einfach und nicht sonderlich originell. Aufsehen erregte er, weil er einen Tabubruch beging und Kernthesen der damals noch randständigen Neoklassik propagierte. Aufs Provozieren verstand er sich damals schon. Zuviel sozialstaatliche Absicherung führe zur Steigerung persönlicher Glücksansprüche und zum Schwinden des Gefühls individueller Verantwortlichkeit, und damit zur Dekadenz. Dieses Beispiel zeigt, wie sehr der Neoliberalismus mit darwinistischen Vorstellungen einhergeht. Schon lange vor Guido Westerwelle und seinem Sager von der spätrömischen Dekadenz des Sozialstaates waren also solche Konstrukte in Gebrauch.
Mit dem Siegeszug des Neoliberalismus in den 1980-ern begann sich auch ein Menschenbild durchzusetzen, das von vornherein Negatives unterstellt. Der Mensch ist nicht hilfreich, edel und gut. Er ist egoistisch, von niedrigen Instinkten geleitet und berechnend. Alle, die Gegenteiliges behaupten und ihr politisches Handeln darauf aufbauen, werden als Illusionisten denunziert. Der Vorwurf des Gutmenschentums ist nicht nur eine Beleidigung von Menschen mit Engagement, er stellt gleichzeitig eine pauschale Verzichtserklärung auf politische Gestaltungsansprüche dar. Ein notorisch negatives Menschenbild beschränkt Politik auf die Herstellung von Recht und Ordnung. Gesellschaftlicher Wandel wird nicht in der politischen Arena erreicht, vielleicht ist er Resultat der wundersamen Marktkräfte.
In der Arena des Marktes setzen sich die Tüchtigen, die Starken und Fleißigen durch. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass jene, die sich nicht durchsetzen, Schwächlinge sind, weil faul und unintelligent. Diese Eigenschaften kann man Einzelpersonen, Personengruppen, Ethnien oder Staaten zuschreiben. Und das tun sie alle, ob sie Sarrazin, Strache oder Seehofer heißen. Gerade die selbsternannte Arbeiterpartei, die FPÖ, hat ein ausgeprägt negatives Menschenbild. Da wimmelt es von Sozialbetrügern, ethnisch Unvollkommenen, religiös Verblendeten und politisch Unfähigen. Sie verspricht den Einfluss dieser negativen Faktoren zu reduzieren. An positiven Vorschlägen mangelt es freilich. Der österreichische Sozialstaat, seine Systematik und Wirkungsweise, ist terra incognita. Wer – wie das in den letzten Monaten in der österreichischen Presse exzessiv betrieben wurde – behauptet, dass es zwischen den Freiheitlichen und der Sozialdemokratie gerade im sozialpolitischen Bereich große Schnittmengen gäbe, der hat entweder nicht recherchiert oder eine ordentliche SP-Phobie. Beides ist ja im österreichischen Journalismus weitverbreitet.
Der Schoß ist fruchtbar noch…
Die FPÖ ist die Partei des Sozialdarwinismus und wenn es Schnittmengen mit anderen politischen Strömungen gibt , dann mit dem Wirtschaftsliberalismus. Ihre sozialpolitischen Forderungen sind am Ideal der Volksgemeinschaft orientiert, wie etwa die krude Idee einer eigenen Sozialversicherung für Ausländer. Die FPÖ nennt sich gerne „Soziale Heimatpartei“. Dieses Etikett teilt sie im Übrigen mit der deutschen NPD. Den österreichischen Medien war dieses Faktum im Gegensatz zu den deutschen bislang nicht berichtenswert. Ja, es fehlt in Österreich an einer seriösen Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus, einem Phänomen, das die Republik seit dem Aufstieg Jörg Haiders vor nunmehr fast 30 Jahren in Beschlag genommen hat. Das redliche antifaschistische Bemühen erfasst zwar den historischen Kern des Gefährdungspotentials und stellt in einer Republik, die sich von der NS-Vergangenheit nur halbherzig abgegrenzt hat, einen unverzichtbaren polit-hygienischen Akt dar. Aber es erklärt nicht, was sich so viele Menschen von den Rechtspopulisten erhoffen. Auch was sie bisher in Regierungsverantwortung in Kärnten und auf Bundesebene oder in der oppositionellen Parlamentsarbeit geliefert haben, war nicht gerade großartig. Mit dem Fall HypoAlpe Adria wird die Republik noch lange zu tun haben. Die Arbeit der FPÖ kann man schwerlich als konstruktiv bezeichnen, eher schon als konstruktivistisch. Sie lebt vorwiegend von konstruierten Realitäten. Die Bedrohungsbilder, die sie an die Wand malt, sind oft an den Haaren herbeigezogen. Dennoch gelingt es immer wieder, sich als Retter aus der herbeigeredeten Bedrohung zu profilieren.
Mich hat in der Vorweihnachtszeit eine Hysteriewelle nachdenklich gemacht, die von FPÖ nahen Kreisen ausging. Unser gesamtes christlich-alpenländisches Brauchtum, wie Martinsfest, Nikolausfest, Adventkränze etc., wäre wegen zunehmenden islamischen Drucks und naiver „political correctness“ in Gefahr. Stutzig machte mich, dass einschlägige Postings auf Facebook auch von Leuten „geliked“ wurden, die keinerlei Affinität zu solchen Kreisen aufweisen. Das Gift breitet sich offensichtlich aus, dringt in Bereiche vor, die bislang noch unberührt waren. Immer mehr beginnen diese konstruierten, herbeigeredeten Realitäten für die wirkliche Realität zu halten. Dies ist die dynamische Komponente des rechtspopulistischen Erfolgsrezepts. Diese permanente Negativpropaganda stößt auf einen fruchtbaren Boden an ungelösten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Problemen: Wirtschaftskrise, zunehmende gesellschaftliche Ungleichheit und politischer Vertrauensverlust. In meiner Bibliothek steht die Erstausgabe eines Buches – in Typoskript, wie das damals üblich war -, das im Lauf der Zeit noch viele Auflagen erleben sollte. Es wurde vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes herausgegeben und beschäftigt sich mit Rechtsextremismus in Österreich nach 1945. In diesem 1979 erschienenen Band habe ich einen Aufsatz über „Rechtsextreme und autoritäre Tendenzen im Bewusstsein der österreichischen Bevölkerung“ veröffentlicht.
Hin und wieder lohnt es im Bücherregal herumzukramen. Ich wurde daran erinnert, dass wir gegen Ende der 1970-er Jahre an der Linzer Universität, gemeinsam mit dem IFES, eine großangelegte Studie zur Vergangenheitsbewältigung in Österreich durchführten. Das Ergebnis war bestürzend. Es zeigte ein hohes Ausmaß von Personen, die der Nazi-Zeit nachtrauerten und in ein breites Spektrum von antidemokratischen und autoritären Tendenzen eingebettet waren. „Es ist dies ein Potential, das unter bestimmten Bedingungen aktualisiert werden könnte“, meinte ich damals: „Je größer und nachhaltiger die Krisenerscheinungen in der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, je geringer die Legitimität ihrer demokratischen Institutionen, desto wahrscheinlicher ist die Manifestierung dieser latenten sozialpsychologischen Strukturen.“ Meine damalige Schlussfolgerung hat die Dinge eigentlich klar benannt. Damals wollte es niemand hören. Die SPÖ hatte 1979 gerade zum dritten Mal hintereinander eine absolute Mehrheit erreicht. Es war schlicht unvorstellbar, was dann alles auf uns zukommen sollte.
Alles vergeblich? Nein.
Beginnend mit Jörg Haiders Machtübernahme in der FPÖ (1986) hat sich das politische Leben in Österreich radikal verändert. Haider hat es verstanden, die schon lange schwelende Unzufriedenheit vieler mit dem System politischer Machtausübung, zu bündeln. Ihm gelang es, nicht nur die notorisch Unzufriedenen und vom politischen Betrieb Enttäuschten zu mobilisieren. Vor allem produzierte die durch die immer stärker einsetzende Globalisierung, neoliberal inspirierte „Reformpolitik“ Modernisierungsverlierer. Es passierte also genau das, wovon vorhin die Rede war. Die staatstragenden Parteien fanden bis dato kein Rezept, diesen Erosionsprozess, der mittlerweile soweit fortgeschritten ist, dass es nur mehr knapp für eine gemeinsame Mehrheit der einstigen Großparteien reicht, zu stoppen. Die unterschiedlichsten Methoden wurden angewandt, einmal gegeneinander, einmal miteinander. Man versuchte das Phänomen auszusitzen, man versuchte, sich der Stimmung anzupassen und mit einer rigiden „Ausländerpolitik“ der Bewegung das Wasser abzugraben. Man behauptete, durch eine Hereinahme in Regierungsverantwortung, ließe sich der Dämon bändigen: Schwarz-Blau. Es war das teuerste Experiment in der Geschichte der Republik und es hat nicht funktioniert. Nicht einmal der Tod Jörg Haiders veränderte etwas. Wie beim Kampf gegen die Hydra wächst immer wieder etwas Neues nach. Auch die taktisch motivierte Hoffnung, der Populist Stronach könnte dem Populisten Strache das Wasser abgraben, ist nicht in Erfüllung gegangen. Auch der ehrenwerte Versuch, den Rechtspopulismus ideologisch zu bekämpfen, also Opposition gegen die Opposition zu machen funktionierte nicht. Also alles vergeblich? Nein. Es reicht eben nicht aus, vor den Rechtspopulisten zu warnen und es ist töricht, sie zu ignorieren. Man muss sie dort stellen, wo sie keine Antworten haben. Nicht nur bei den symbolischen Fragen, sondern dort, wo es um die realen Lebenssituationen geht: Dass nämlich unser Wohlstandsniveau drastisch zurückgehen würde, wenn man die Grenzen schließt (FPÖ-Sozialpolitik: Trugbild – Blog Arbeit&Wirtschaft). Dass die Sozialsysteme unfinanzierbar würden, wenn man ein eigenes Versicherungssystem für „Ausländer“ einführt. Was passieren würde, wenn man die „Ausländer“ abschieben würde. Wie es um unsere Wirtschaft bestellt wäre, würden wir zum Schilling zurückkehren usw.
Auf jede dieser unsinnigen Behauptungen gibt es eine sinnvolle Antwort. Man muss diese Diskussionen führen und darf ihnen nicht aus dem Weg gehen. Und man muss Antworten geben und die Menschen davon überzeugen. Und damit bin ich eigentlich im Neuen Jahr gelandet. 2014 wird für Europa ein richtungsweisendes Jahr. Nicht der Zahlenmagie wegen. 2014 wird das Europäische Parlament gewählt und damit der Kurs bestimmt, den Europa nehmen wird. Im Gegensatz zu 1914 können die Bürgerinnen und Bürger selbst entscheiden wie die Zukunft aussehen soll.

Das Fenster ist offen – Was geht im Iran vor?

Seit vielen Jahren ist der Iran isoliert. Die politischen Vorgänge in diesem Land stoßen in der westlichen Welt auf Unverständnis und Ablehnung. „Schurkenstaat“ nannten ihn die USA. Noch kein Jahr ist es her, dass ein Bombenangriff unmittelbar bevorstand, der zu nicht mehr beherrschbaren Folgen für die Welt geführt hätte. Wirtschaftliche Sanktionen der USA und der EU trieben das Land in die Isolation.
Vor einem halben Jahr wurde Hassan Rouhani unerwartet zum Präsidenten gewählt. Seither ist vieles anders. Ich war gemeinsam mit vier Kolleginnen aus dem Europarlament fünf Tage im Iran. Ein offizieller Besuch beim iranischen Parlament, dem Majilis. Normalerweise finden solche Kontakte im jährlichen Rhythmus statt. Sieben Jahre hat es gedauert bis wieder so etwas wie Normalität eingekehrt ist.
Diese fünf Tage waren äußerst intensiv und interessant. Vor allem aber haben sie mich aufgewühlt. Es kündigen sich große Veränderungen an, die nicht nur für den Iran großer Bedeutung sein könnten. Vor allem könnte sie den Grundstein für eine neue Sicherheitsstruktur im seit dreißig Jahren politisch instabilen Mittleren Osten legen. Diese Überlegungen hörten wir in unseren Gesprächen immer wieder. Wir trafen mit den wichtigsten Vertretern des Landes zusammen, dem Parlamentspräsidenten, dem Chef der Präsidentschaftskanzlei, dem Außenminister oder dem Vorsitzenden des Wächterrates, Ayatollah Rafsanji. Wir hatten die Gelegenheit zu Gesprächen mit Abgeordneten unterschiedlicher Gruppierungen, mit Vertretern des Justizapparats und der Medien.
Es war nicht zu übersehen, dass in der iranischen Staatsführung gegenwärtig ein dramatisches Ringen um den Kurs des Landes stattfindet. Hardliner gegen Reformer. Der Ausgang ist offen. Auch lässt sich schwer vorhersagen, wieweit die Reformbereitschaft wirklich geht. Die Gespräche wurden in einer offenen Atmosphäre geführt. Mitunter sehr hart, wenn es etwa um Menschenrechte ging. Den Iranern ist es sehr wichtig, auf Augenhöhe zu verhandeln. Sie wollen nicht belehrt sondern mit Respekt behandelt werden. Wenn man sich daran hält dann lässt sich sehr pragmatisch über vieles reden. Gerade in Menschenrechtsfragen. Die Verletzung von Grund-und Menschenrechten ist eklatant und systematisch. Politische Aktivisten müssen mit hohen Haftstrafen rechnen. Ich traf mich mit Gewerkschaftern, deren „Verbrechen“ darin bestand, eine 1.Maidemonstration veranstaltet zu haben. Das reichte aus, um zu einem mehrjährigen Gefängnisaufenthalt verdonnert zu werden.
Offiziell gibt es keine politischen Gefangenen. Für eine Verurteilung werden andere Rechtfertigungen herangezogen, Verschwörung gegen die Staatssicherheit, Aufwiegelung, etc. Wie im Fall der Menschenrechtsanwältin Nasrin Soutodeh, einer körperlich kleinen, aber geistig großen Frau, einer Riesin, was ihren Mut betrifft. Sie und den ebenfalls verfolgten Filmemacher Jafar Panahi zu treffen war der Höhepunkt unserer Reise. Nasrin erzählte uns, wie wichtig es für sie war, zu erfahren, dass das Europäische Parlament ihr und Jafar den Sacharow Preis verliehen hatte. Sie befand sich gerade im Hungerstreik und war schon sehr schwach. Die Nachricht gab ihr Auftrieb und Kraft. Eine der ersten Amtshandlungen des im Sommer neugewählten Präsidenten Rouhani war ihre Freilassung.
Unser Treffen war nicht im Programm vorgesehen und fand gleich am ersten Tag in der griechischen Botschaft statt. Den Hardlinern war dies ein Dorn im Auge. Der Außenminister wurde ins Parlament zitiert und der griechische Botschafter ins Ministerium vorgeladen. Ermunternd war die Reaktion der Menschen auf der Straße. Sie sprachen uns auf das Treffen an, bedankten sich und beglückwünschten uns. Die Menschen im Iran wollen einen Wandel. Sie brauchen unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung. Kontakt zu halten und die Gesprächsbasis zu erweitern ist die wichtigste Waffe gegen jene Kräfte im Inneren und im Ausland, die alles daransetzen, dass alles beim Alten bleibt. Diese Kräfte profitieren davon, dass Unruhe herrscht und die Menschen unterdrückt bleiben. Es ist höchste Zeit, dass sich im Iran und in unserem Verhältnis zum Iran etwas ändert. Wir können alle davon nur profitieren.

Treffen mit Sacharow PreisträgerInnen Nasrin Soutodeh und Jafar Panahi.

Treffen mit Sacharow PreisträgerInnen Nasrin Soutodeh und Jafar Panahi.


Redaktion Shargh

Treffen und Interview in der Redaktion von SHARGH (der größten reformistischen Zeitung im Iran)

Wenn das Churchill wüsste …

Europa ist um eine Facette der britischen Anti-Europa Strategie reicher. Der britische Premier David Cameron will im Falle seiner Wiederwahl aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und somit auch aus dem  Zuständigkeitsbereich des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) austreten.  Ein weitreichender Schritt, der ein substanzielles Abrücken vom Europarat bedeutet – jenem Zusammenschluss, den Winston  Churchill in den 50er Jahren erkämpfte und dem heute – mit Ausnahme von Weißrussland – alle europäischen Staaten angehören.

Camerons Konservative wollen die Aufkündigung der britischen Zugehörigkeit, weil sie die Rechtsprechung des EGMR plötzlich als einen Eingriff in die britische Souveränität betrachten. Fast fünfzig Jahre fanden sie nichts dabei. Seit einiger Zeit gibt es am rechten Rand der Tories aber immer häufigere Kritik an Straßburg. Fremde, nicht-britische Richter würden auf diese Weise auf der Insel Recht setzen. Argumente wie, dass deswegen Kriminelle nicht mehr so ohne weiteres abgeschoben werden könnten oder Strafgefangenen das aktive Wahlrecht zugestanden würde, werden als Begründung herangezogen. Sogar EU-Skeptikern wie dem Generalstaatsanwalt Dominic Grieve ist das zu viel, der einen solchen Schritt als „Nuclear Option“ bezeichnet.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellt für die Bürgerinnen und Bürger in Europa ein „last resort“ dar, an das sie sich wenden können, wenn die Rechtsmittel in ihrem Heimatstaat ausgeschöpft sind. Nicht zuletzt deshalb wäre ein Austritt Großbritanniens bizarr und abenteuerlich. Ein Austritt würde das Vereinigte Königreich isolieren, weil es sich damit gleichsam aus der europäischen Wertegemeinschaft verabschiedet. Dass solche Überlegungen mittlerweile überhaupt Bestandteil politischer Planspiele auf der Insel sind, zeigt nicht nur wie weit dieser Prozess bereits fortgeschritten ist, sondern auch, dass der britische Premier Cameron mit dem Rücken zur Wand steht und ein Getriebener ist. Im Mutterland der Demokratie bestimmt mittlerweile die rechtspopulistische UKIP unter Nigel Farage wohin die Reise gehen soll. Bis auf verbrannte Erde bleibt da für Europa und auch Großbritannien nicht viel über.
CREDITS: Bild von independent.co.uk

Am Tag danach

Der Schock über die Nationalratswahlen 2013 sitzt tief.
Alles sieht nach einem Patt aus. Bald könnte es heißen: Rien ne va plus.
Zeit für den Versuch einer Bestandsaufnahme. Es war eine eigenartige Wahlauseinandersetzung. Selten konnte man so wenig inhaltlich Substanzielles vernehmen wie in diesen Wochen. Eine Unzahl an TV-Duellen vermittelte den Eindruck von Entscheidungsvielfalt. Inhaltliches hatte dabei kaum Chancen.
Die SPÖ hat es versucht. Ihre reduzierte, auf sozialdemokratische Kernbotschaften ausgerichtete Wahlwerbung wurde von den Medien als retro belächelt. Performance sowie die darauf aufbauende Beurteilung durch Experten und Publikum standen hingegen im Mittelpunkt. Der Politologe Fritz Plasser meint diesen Tiefgang mit der „Boulevardisierung des politischen Systems“ in Österreich erklären zu können und liegt nicht falsch damit. Gleich zwei Spitzenkandidaten entblößen ihre Oberkörper und zeigen auch sonst, dass sie ziemlich blank sind.
Frank Stronach machte aus seiner Verwirrtheit und Widersprüchlichkeit ein Markenzeichen – und stand sich am Ende des Tages selbst im Weg. Heinz-Christian Strache deutete zwei Jahrtausende abendländischer Geschichte um.  Er machte die „Nächstenliebe“   zum rechten Kampfbegriff, indem er bewusst missverstand, womit Millionen vor ihm keine Schwierigkeiten hatten. Verwunderlich, dass sich die Spitzen der katholischen Kirche – im Gegensatz zu ihren evangelischen Kollegen – in diesem Zusammenhang recht bedeckt hielten. Das BZÖ scheiterte  endgültig. Wenn man deren Prozentsatz allerdings dazu zählt, dann konnte die populistische Rechte ein Drittel der Stimmen auf sich vereinen. Nach den Nichtwählern, deren Anteil auch zunahm, sind sie somit die zweitstärkste Gruppe im Land. Nicht die Inhalte und nicht die politischen Leistungen zählen, vielmehr sind es Verheißungen, Versprechungen und das Schüren von Neid. Basis ist ein Sammelsurium von Gemeinplätzen und Ressentiments, Ethnozentrismus und Intoleranz, durchsetzt mit antidemokratischen, rechtsautoritären und sozialdarwinistischen Elementen. Für die Wählerschaft stellen die Rechtspopulisten die Möglichkeit dar, ihre Unzufriedenheit mit dem „System“ zu bündeln und die etablierten Parteien abzustrafen.
Antipolitik als Mobilisierungsfaktor. Seit Jörg Haiders Aufstieg Mitte der 1980-er Jahre ist dieses Phänomen in der österreichischen Politik präsent und paralysiert die staatstragenden Parteien. Bislang hat niemand ein Rezept dagegen gefunden. Nichts kann diese irrationale Sehnsucht vieler Menschen in Österreich stoppen. Wie beim Kampf gegen die Hydra wächst immer wieder etwas Neues nach. Die Hoffnung, der Populist Stronach könnte dem Populisten Strache das Wasser abgraben, ist nicht in Erfüllung gegangen. Mit taktischen Manövern lässt sich die Seuche des Rechtspopulismus eben nicht effektiv bekämpfen.
Man wird – und das ist die eigentliche Botschaft dieser NR-Wahl – nicht umhin können, eine grundlegende Reform des politischen Systems in Österreich in Angriff zu nehmen. Nur mittels einer „großen Lösung“ wird man dem Rechtspopulismus das Wasser abgraben können. Das steht aber gegenwärtig nicht auf der Tagesordnung.
Die österreichische Politik ist immer noch auf eine Fortschreibung des bewährten Modells einer konsensorientierten Krisenbewältigung fixiert. Sie ist damit seit dem Ausbruch der Krise eigentlich recht gut gefahren. Allein die breite Anerkennung durch die Wählerschaft bleibt aus.
Wenn man auf europäischer Ebene politisch tätig ist, dann wird man oft mit der Frage konfrontiert, warum es trotz hervorragender Wirtschaftsdaten im Land eine so starke Fundamentalopposition gibt. Wie kaum einer anderen nationalen Regierung  in Europa ist es der Regierung Faymann gelungen, das Land weitgehend unbeschadet durch die Krise zu steuern. Dieser Weg geschah im Einklang mit der europäischen Politik und versuchte, soziale Härten weitgehend zu vermeiden.
Wieso die zweite Regierungspartei, die ÖVP, so tut, als wäre sie da nicht dabei gewesen, ist ein Rätsel. Auch, warum man das Land wider besseren Wissesn schlecht redete, und warum man die bewährte Politik des sozialen Ausgleichs plötzlich als Wettbewerbshindernis hinstellte. Die Mindestsicherung als Hängematte für Sozialschmarotzer zu verunglimpfen, ist ein letztklassiger Versuch, Menschen gegeneinander aufzuwiegeln. Anstatt durchaus herzeigbare Erfolge darzustellen, an denen sie als Koalitionspartner nicht unbeteiligt war, überbot sich die ÖVP in Fundamentalkritik und bereitete den Boden für die Rechtspopulisten. Was mag die ÖVP geritten haben, das Gespenst einer rot-grünen Koalition an die Wand zu malen? Noch dazu in einer Art und Weise, die jeden vernünftigen Menschen beleidigt?
Vielleicht ist das die konservative Urangst, dass Rot und Grün in absehbarer Zukunft zueinanderfinden und ein gemeinsames Projekt auf die Beine stellen könnten? Oder es zeigt das Dilemma der Volkspartei, inhaltlich völlig ausgebrannt zu sein.
Es liegt an der Sozialdemokratie, neue Bündnisoptionen zu erarbeiten. Eine Rot-Grüne Reformpartnerschaft könnte vielleicht auch die Blockade, in der die österreichische Politik seit langem steckt, aufheben. Aber noch zeichnen sich keine Mehrheiten dafür ab, noch scheint die Koalition mit der ÖVP die einzige (machbare) Option. Es ist Werner Faymann hoch anzurechnen, dass er eine Koalition mit der FPÖ immer kategorisch ausgeschlossen hat und auch daran festhält.
Viele Kommentatoren sind sich darin einig, dass es für die Große Koalition die (aller)letzte Chance ist.  Es geht aber um viel mehr als um das politische Überleben der Beteiligten. In Wirklichkeit steht unsere Zukunft am Spiel. Eine Fortsetzung des „Muddling through“, wie es die Politologen nennen, bzw. des „Durchwurstelns“, wie es auf Österreichisch heißt, ist in dieser Situation unangebracht und schwer schädlich. Wir brauchen einen breiten Reformdialog, einen „Großen Ratschlag“, der möglichst viele Menschen einbindet. Was passiert, wenn sie nicht einbezogen werden, das lässt sich am Wahlergebnis der Steiermark studieren.
Reform heißt Erneuerung, also Wiederherstellung, von etwas, das einmal funktioniert hat. „Reformen“, wie sie gegenwärtig von den Hofpredigern des Neoliberalismus gebetsmühlenartig vorgetragen werden, haben damit nichts zu tun. Sie schüren Neidkomplexe, verunsichern und bereiten den Boden für Rechtspopulisten und Schlimmere, in Österreich, in Griechenland, überall dort, wo sich die Logik des IWF und seiner intellektuellen Wegbereiter festsetzt.
Bei den Neos, deren wirklichen Charakter wir in den nächsten fünf Jahren studieren können, besteht eine potentielle Gefährdungslage, den Reformbegriff miss zu verstehen. Wie die von ihnen kritisierten Altparteien können sie das Spiel mit Illusionen. Ihr Einzug ins Parlament ist nicht nur der Strahlkraft ihrer Ideen, sondern schlicht auch einer Trickserei zu verdanken. Wochenlang waren sie im Wahlkampf um die Wahrnehmbarkeitsschwelle herumgekrebst. Erst als der Hauptsponsor Haselsteiner, der nicht auf der Liste aufschien, zum Ministerkandidaten deklariert wurde, bekamen die Neos Aufwind. Ein Zeitpunkt der Bekanntgabe völlig bizarrer, weil komplett unrealistischer Vorgang. Ein Szenario mit Null-Wahrscheinlichkeit. Bei den in theatralische Inszenierungen und Personaldiskussionen verliebten Österreichern verfing dieser billige Taschenspielertrick freilich. Reformen brauchen eine offene und ehrliche Atmosphäre. Es genügt nicht, dass sich jemand zum Reformer erklärt. Reformen rufen nach breiter Beteiligung.
Das Gespenst des Rechtspopulismus lässt sich nur dann wirksam bekämpfen, wenn die Probleme jener angesprochen werden, deren Ängste missbraucht werden. Wenn Lösungen gesucht und gefunden werden, die die breite Masse zum Mittelpunkt machen. Es muss die Frage nach sozialer Gerechtigkeit gestellt werden. Soziale Gerechtigkeit darf nicht als Ballast gesehen werden. Ein hohes Maß an Gleichheit ist Grundpfeiler der Stabilität einer Gesellschaft. Der Sozialstaat ist nicht Hemmschuh, sondern Garant der Wettbewerbsfähigkeit.
Nur auf der Basis einer solidarischen Gesellschaft, die den Menschen die Furcht ums Überleben abnimmt und ihnen ein Mindestmaß an Sicherheit für die Risiken des Lebens garantiert, nur auf einer solchen Basis lässt sich eine Reform des politischen Prozesses aushandeln. Soziale Fragen lassen sich nicht vom Politischen trennen. Auch wenn manche „Reformer“ uns das Gegenteil einreden wollen.

Mitten im Urlaub

Mitten im Urlaub mitten in Griechenland mache ich mich über deutsche Zeitungen her, in die man sich ja, im Gegensatz zu den österreichischen, eine Weile vertiefen kann. Darin jede Menge Auslassungen zu Griechenland, überall im Politikteil ebenso wie im Feuilleton und natürlich im Finanz-und Wirtschaftsteil. Die Frage, ob es das Land je schaffen wird, aus der Krise herauszukommen oder es Europa mit in den Abgrund ziehen wird, taucht immer wieder auf. Leichter Optimismus, weil das Land erstmals bald in die Lage kommen könnte, den laufenden Haushalt aus eigenen Einnahmen ausgleichen zu können, hält sich die Waage mit der üblichen deutschen Schwarzmalerei. Die griechische Regierung wäre nicht in der Lage, die gegenüber der Troika eingegangenen Verpflichtungen, wie etwa den Abbau von Beamten zu erfüllen. Aber auch wenn die Regierung das zustande brächte? Was würde das alles bewirken? Noch mehr Arbeitslosigkeit? Gerade gestern Abend haben mir Griechen erzählt, sie würden ihr Auto nicht mehr volltanken, sondern nur mehr für 10 oder 20€. Schlicht und einfach, weil es ihnen an Geld mangelt.
Nein es sieht nicht gut aus mit Griechenland. Die ganze Strategie war falsch. Die Rosskur der Troika ist ordentlich schief gelaufen.
Immer intensiver wird mit einem neuerlichen Schuldenschnitt spekuliert. Wieder einmal wird eine weitreichende Entscheidung hinausgezögert. Bis nach den deutschen Bundestagswahlen. Wie schon einmal 2010, als um den ersten Rettungsschirm ging und die Landtagswahlen in NRW dazwischen lagen. In diversen Aussagen von Angela Merkel kündigt sich die Korrektur der bisherigen Politik schon an. Immer häufiger ist von der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas die Rede. Noch ist Bundestagswahlkampf, noch steht Deutschlands Rolle als vermeintlicher Musterschüler im Zentrum, aber bald , nach geschlagener Wahl, werden wir es wohl deutlich anders hören. Das, was Merkel und Schäuble schon lange sagen hätten sollen, aber aus wahltaktischem Kalkül nicht hatten sagen wollen. Es braucht einen Schuldenschnitt, eine Vergemeinschaftung der Schulden und einen Abbau der Ungleichgewichte. Sonst wird der Exportweltmeister auf seinen Produkten sitzenbleiben und Europa hinter den Rest der Welt zurückfallen. Wieder einmal werden die Maßnahmen zu spät, auf jeden Fall uns viel zu teurer zu stehen kommen. So geschieht es, wenn das nationale vor das gesamte Interesse gestellt und das persönliche Interesse mit dem der Nation gleichgesetzt wird.
Diese erste große Krise Europas nach 1945 ist vor allem eine Krise Angela Merkels, sie in vielen Aspekten ihr Produkt. Ihr Kokettieren mit nationalen Ressentiments, ihre einer realitätsfernen nationalökonomischen Doktrin entstammende Austeritätspolitik, die wählerwirksam das Klischee der „schwäbischen Hausfrau“ bedient und ihr wahltaktisch bedingtes Zögern haben das Ausmaß der Krise entscheidend beeinflusst. Ihre taktische Meisterleistung besteht darin, dies als alternativlosen Beitrag zur Lösung eben dieser Krise zu verkaufen. Gerade jetzt aber würden wir an der Spitze der größten europäischen Volkswirtschaft Persönlichkeiten brauchen, die nicht nur vom taktischen Kalkül getrieben, sondern zu strategischen Entscheidungen bereit sind. Deutschland darf sich nicht von Europa abkoppeln. Eine überwiegende Mehrheit der Deutschen will das auch nicht. Es ist leider schon vieles in diese Richtung passiert. Und dennoch gibt es auch Erstaunliches. Die FAZ (17. Juli 2013) berichtet von einer Umfrage, wonach erstmals das Vertrauen der Deutschen in die EU wächst und auch die D-Mark Nostalgie dahinschwindet. Die Mehrheit bevorzugt den Euro (50%vs 35%). Interessant ist ein Detail. Bei der Frage, welche Partei sich am meisten für Europa einsetzt liegt die CDU mit deutlichem Abstand vor der SPD (42% zu 12%). Das mag dem Kanzlerinnnenbonus geschuldet sein.
Es zeigt aber auch, dass die SPD hier Nachholbedarf hat und die bis dato mageren Umfragewerte wahrscheinlich auch mit einer in der öffentlichen Meinung vorherrschenden europapolitischen Abstinenz zusammenhängen. Die Wählerinnen und Wähler erwarten sich mit Recht, Aussagen, in welche Richtung sich Europa entwickeln soll. Angela Merkel und die CDU geben sie, auch wenn sie falsch sind. Die Sozialdemokratie hätte die richtigen Antworten. Sie kommen aber nicht an, wahrscheinlich auch, weil sie zu wenig mutig vorgetragen werden. Dass es nicht schadet, wenn man sich klar und eindeutig zu Europa bekennt und dass man sogar als Kleinstaat einiges auf europäischer Ebene bewegen kann (Finanztransaktionssteuer, Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit) zeigt die österreichische Sozialdemokratie.
Aber um den Kurs der Geschichte zu ändern, braucht es eine Kursänderung im bedeutendsten, bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich potentesten Mitgliedstaat der Union, in Deutschland. Wer sonst, außer der SPD könnte diesen herbeiführen. Noch ist genug Zeit für eine klare Ansage, dass Europa anders geht, als es uns Frau Merkel weis zu machen versucht. Die SPD braucht nur das zu tun, was Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments seit Jahr und Tag lautstark predigt, für ein gemeinschaftsorientiertes Europa einzutreten, das die bestehenden Ungleichheiten abbaut und sie nicht vertieft. Die Wahlen zum deutschen Bundestag und in logischer Konsequenz auch die zum österreichischen Nationalrat, beide finden im September statt, sind daher historische Weichenstellungen. Hier wird nicht nur über die nationale Politik entscheiden, sondern auch, wohin sich Europa entwickeln wird. Vor allem darüber denke ich nach, mitten im Sommer mitten in Griechenland.

Hellas revisited

Ein Blog über den Aufenthalt in Griechenland anässlich der Gründung der griechischen Schwesterorganisation der Volkshilfe
Samstagnachmittag: Ich bin auf dem Heimflug von Athen, der bald in eine Zugfahrt nach Oberösterreich übergehen wird. Ich freue mich auf ein (verkürztes) Wochenende, noch dazu, wo mich mein Horoskop – an das ich zwar prinzipiell nicht glaube – wissen lässt, dass es mir „mehr als nur gut“ tun würde, mir „mehr Zeit für die Familie zu nehmen“ und dass ich „so richtig ausspannen“ sollte. Ich werde mich dem Hinweis mit großem Enthusiasmus zuwenden, weil ich ob der Erlebnisse der vergangenen Tage in guter Stimmung bin. Drei Tage, genau gesagt zwei halbe und einen ganzer Tag, war ich nun in Griechenland. In einem Land, das ich über alles liebe, und mit dem mich wunderbare Erinnerungen verbinden. Ein Land, das zum Synonym für die gegenwärtige europäische Krise geworden ist.
Am Donnerstag bin ich nach der Plenarversammlung des EP in Straßburg Richtung Athen geflogen, weil ich unbedingt dem Drängen meines langjährigen Freundes Lambros Moustakakis folgen wollte, der bei der oberösterreichischen Volkshilfe beschäftigt ist. Seit Ausbruch der Griechenlandkrise hatten wir darüber diskutiert, die Gründung einer Schwesterorganisation der Volkshilfe in Griechenland zu betreiben. Ein Projekt neben vielen anderen zunächst. Lambros erinnerte mich, dass ich ihm ungefähr vor einem Jahr direkt aus einer Sitzung der S&D Fraktion im EP, bei der es wieder einmal um das leidige Griechenlandthema ging, eine SMS schickte, dass wir das jetzt endlich angehen sollten. Er hatte in der Zwischenzeit Leute um sich gesammelt und sie dafür interessiert, aktiv zu werden, „Ownership“ über die Vorgänge in ihrem Land zu übernehmen. Ich war angetan von der Gruppe, die mich die ganze Zeit über begleitete: Alles Menschen, denen es im Vergleich zum Rest der Bevölkerung gut geht: Anwälte, Freiberufler oder Kleinunternehmer. Allesamt Demokraten, die besorgt sind, dass die aus dem Nichts zu Gewicht gelangten Neonazis politischen Einfluss erlangen könnten. Humanisten, die es nicht hinnehmen wollen, dass die mehr als eine Million „irreguläre“ Zuwanderer als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Allesamt Patrioten, die ihr Land lieben und deshalb mit Überzeugung proeuropäisch sind. Realisten, die sehen, welche desaströse Ergebnisse die Austeritätspolitik der Troika zeigt und die ganz klar wissen, dass es vor allem an Griechenland liegt, das bisherige Verständnis von „governance“ drastisch zu verändern. Menschen, die als Bürger aktiv werden und Verantwortung für das Gemeinwesen unternehmen wollen. Manche von ihnen sind von der Politik enttäuscht und haben sich trotzdem ihre linken Träume nicht nehmen lassen. Sie erinnern sich an Lambrakis, an den Kampf gegen die Obristen und leiden darunter, dass die griechische Politik, deren Idealen sie einst anhingen, zu einem klientelistischen Selbstbedienungsbetrieb degenerierte.
Vor allem leiden sie an der gegenwärtigen Situation in Griechenland, an der scheinbaren Ausweglosigkeit und daran, dass alles zum Stillstand zu kommen scheint: Mehr als ein Viertel der Bevölkerung bzw. fast drei Viertel der Jugendlichen sind arbeitslos. Liegenschaften sind wertlos, überall ist an den leeren Geschäftslokalen zu lesen, was zu vermieten bzw. zu verkaufen ist. Sie wollen es nicht hinnehmen, dass sich die Armut ins Herz der Gemeinschaft frisst und Familien zerstört. Dass Menschen, wenn sie krank sind, keinen Zugang zum Gesundheitssystem finden und dass der Hunger immer häufiger zum alltäglichen Begleiter wird. Wir hatten viele Gespräche mit Politikern auf nationaler wie auf kommunaler Ebene, trafen Betroffene und Experten. Nicht nur um die schlimme Situation zu beklagen, sondern auch, um nach Wegen aus dem Dilemma zu suchen. Sie wollen sich engagieren, sie wollen ihrem Land dienen, freiwillig und ohne finanzielle Interessen. Sie wollen es tun, weil sie wissen, dass sie mit ihrer Parteinahme für das Gemeinwohl andere anstecken werden. Ich bin sehr stolz, dass sie sich dazu in der griechischen Volkshilfe zusammengefunden haben und dass sie von unseren Erfahrungen lernen und unseren Rat suchen wollen.
Vielleicht ist es doch nicht unvermeidlich, dass in Europa alles nur zum Negativen gerät. Vielleicht lässt sich doch etwas bewegen.

http://www.youtube.com/watch?v=hRyZbGHBuHg
 

Die Kraft der kleinen Momente

Vergangene Woche war Plenartagung in Straßburg. Die übliche Hektik, der übliche Lärm um die Probleme, die Europa gegenwärtig bewegen: das Versagen der ökonomischen Steuerungsmechanismen und der Verlust der Glaubwürdigkeit des europäischen Projekts. Mittwochvormittag stand ganz im Zeichen dieser Entwicklungen, zunächst eine kurze Debatte zu Ungarn, und danach Zypern. Bei beiden Themen zeigte sich die Unfähigkeit der Konservativen, die Probleme zu lösen. Herumlavieren bei Orban und ein gefährliches Insistieren auf den bisherigen Austeritätskurs im Falle Zyperns. Die eigentlichen Höhepunkte dieses Tages waren allerdings zwei Ereignisse, die von mir zu diesem Zeitpunkt als solche nicht wahrgenommen wurden. Die Geschäftigkeit und die Hektik lassen einen oft das Wichtige übersehen.
An diesem Mittwoch wurden, wie üblich bei einer Straßburg – Woche die Abstimmungen um die Mittagszeit unterbrochen, um eine Rede des irischen Staatspräsidenten im Europäischen Parlament zu hören. Diese Vorgangsweise wird seit vielen Jahren deswegen gewählt, um den ausländischen Gästen einen leeren Saal zu ersparen. Trotz dieser Vorkehrung verließen deutlich mehr als sonst den Plenarsaal, um vermeintlich wichtigere Dinge zu erledigen. Ich bereute es nicht, dageblieben zu sein. So wie viele andere, die diesem alten und schon etwas gebrechlichen Mann zuhörten, dem man auch nicht das Attribut eines großen Redners zusprechen kann. Michael D. Higgins sagte all das, was ich seit langem in der europäischen Politik vermisse: Er machte klar, dass Europa viel mehr als ein ökonomisches Unterfangen sein müsse: „Unsere Bürger sehnen sich nach einer Sprache der Solidarität….“. Wie niemand zuvor von unseren Staatsgästen im EP traf er den Punkt, in dem er das hegemoniale ökonomische Denken als die Schwachstelle der Gegenwart bezeichnete: This strand of neoclassical economics is of course useful for limited and defined tasks. It is insufficient however as an approach for our problems and our future.“ Anstelle dieser verengten Sichtweise würden wir eine pluralistische Politische Ökonomie brauchen. Es wäre die Verantwortung der Intellektuellen, sich darauf zu konzentrieren. Am Ende seiner Rede, in der er die zentralen Probleme, wie die immer mehr um sich greifende Arbeitslosigkeit klar und eindeutig ansprach, gab es standing ovations, nicht nur von der linken Seite des Hauses.
In mein Büro zurückgekehrt checkte ich, was sich mittlerweile in den diversen elektronischen Medien getan hatte. Mich faszinierte eine Nachricht, die bereits eifrig geshart wurde: Carmen Reinhardt und Kenneth Rogoff, die beiden Harvard Gelehrten, auf deren berühmter Studie sich seit Ausbruch der Krise die Befürworter einer harten Sparpolitik wie an eine Bibel klammerten, hätten sich schlicht einfach verrechnet, hätten gravierende handwerkliche Fehler gemacht und selektiv Fakten ausgelassen. Reinhardt und Rogoff hatten auf der Basis ihrer Daten  behauptet, dass jenseits einer Verschuldung von 90% des BIP das Wirtschaftswachstum zurückginge. Die Politik der Troika folgte unbarmherzig diesen „Erkenntnissen“. Das alles stimmt offensichtlich nicht. Auch von absichtlicher Manipulation ist mittlerweile die Rede. Die deutschen Medien tun sich schwer mit dieser peinlichen Panne und berichten recht einsilbig darüber. Die Tatsache, dass es ein 28-jähriger amerikanischer Student war, der im Rahmen einer Seminararbeit die verblüffende Entdeckung machte und die beiden angesehenen Forscher blamierte, findet auch drei Tage nach dem Bekanntwerden keine Erwähnung. Offensichtlich ist es schwer zu akzeptieren, dass die wissenschaftliche Verbrämung der Alternativenlosigkeit der dem deutschen Wesen angeborenen Spargesinnung, doch nicht ganz so zwingend ist. Schon gar nicht wenn sich solches sogar im Rahmen einer Seminararbeit von einem einfachen Studenten aufzeigen lässt. Die Professoren von Thomas Herndon, Michael Ash und Robert Pollin wollten zunächst seiner Entdeckung keinen Glauben schenken. Schließlich bestätigten sie die Ergebnisse und publizierten letzte Woche einen gemeinsamen Artikel. So fällt sein Licht auch auf sie.
Für mich ist die letzte Woche, genauer gesagt der 17. April 2013 ein besonderer Tag. Zeigte er mir doch, dass es oft lohnenswert ist, sich nicht  ausschließlich vom Mainstream dominierten Geschehen treiben zu lassen. Oft lohnt es, auf jene zu hören, die nicht im Machtzentrum der Deutungshoheit stehen: auf den kleinen alten Mann aus Irland und den kleinen Studenten aus Massachusetts. Sie zeigen, dass es wichtig ist, nicht alles nachzuplappern, sondern sich des eigenen Verstandes zu bedienen.
PS: Der für die europäische Austeritätspolitik verantwortliche Vizepräsident der Kommission Olli Rehn erklärte nach Bekanntwerden des Vorfalles, an seiner Politik festzuhalten. Die Studie hätte man ja nur zur Illustration verwendet.
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Wendet sich Deutschland von Europa ab?

Ich lese gern die FAZ, weil sie gut recherchiert ist, und weil sie das bürgerliche Leitmedium Deutschlands darstellt. Will man wissen, wohin sich Europa bewegt, dann ist ihre regelmäßige Lektüre wichtig, wenn nicht unverzichtbar. Schon längere Zeit aber fällt mir ein europaskeptischer, immer häufiger auf deutsche Befindlichkeiten rekurrierender Tonfall auf. Dabei geht es nicht mehr, wie vor gut einem Jahrzehnt, darum, in selbstkritischer Manier zu diskutieren, was sich in Deutschland alles ändern sollte. Diesmal ist die Befindlichkeit nicht nach innen gerichtet. Es geht um die Außensicht, also was sich aus deutscher Sicht in Europa zu ändern hat und wie die europäischen Partner – oder klingt es nicht schon wie „die anderen“? – darauf reagieren.
Es wäre interessant, diese Veränderungen inhaltsanalytisch aufzuarbeiten. Heute möchte ich mich auf die Analyse der FAZ-Ausgabe vom Gründonnerstag, die mich über das verlängerte Osterwochenende begleitet hat, beschränken – in dessen Mittelpunkt die Aufarbeitung des Zypern-Debakels, ein ausführliches Interview mit dem zypriotischen Außenminister sowie Berichte über die Verärgerung der Regierungskoalition über Kritik an der deutschen Position. Alle seien „Gegen Deutschland“, so der Titel eines Kommentars von Klaus-Dieter Frankenberger in der Printausgabe am 29. März 2013. Deutschland würde Führungsverantwortung übernehmen und dafür mit „Nazi-Vergleichen“ abgestraft werden. Eigentlich sei ja ganz Europa froh, dass die Deutschen so tough vorgehen, die politisch Verantwortlichen anderer Länder würden sich allerdings gern hinter Deutschland verstecken. „Thatcher-Erfahrung“,  nennt das der Kommentator. Ganz im Sinne des liberalen Credos würden sich eben die Besseren, die Tüchtigeren durchsetzen. Daher solle man nicht dauernd Ressentiments bemühen und die „Sündenböcke für die eigene Lage nicht in Berlin suchen.“ Das Resümee ist einfach: „Wenn Deutschlands Stärke ein Problem für die EU ist, dann hilft nur eines: Auch unsere Partner müssen stark werden. Ist das schon belehrend?“ Gerade dieser letzte Satz ist entlarvend, zeigt er doch das ganze Ausmaß an Selbstgerechtigkeit, von dem das deutsche Selbstverständnis geprägt ist.
Da passt gut dazu, wenn sich anschließend Reinhard Bingener über „Luther und die Deutschen (29.3.2013)“ verbreitert. Sich über Luther ein Bild zu machen, bedeute für die Deutschen auch, sich ein Bild von sich selbst zu machen. Auch in der Krise würde sich das bemerkbar machen. Die „Wertvorstellungen der Länder, die von der Reformation geprägt wurden“ seien „in offenen Gegensatz zur Alltagsmoral anderer Länder“ geraten. Der Rekurs auf die Reformation, als „die große Geschichtstat deutscher Innerlichkeit“ (Thomas Mann) erlaubt gleichsam eine ideologische und moralisch aufgeladene Sicht der deutschen Suprematieansprüche. Man würde, so Bingener, Deutschland und dem vom Protestantismus geprägten europäischen Norden genau jene auf Luther zurückgehenden Eigenschaften „ankreiden“ : „Was in den Krisenländern als „notwendige Flexibilität“ bezeichnet wird, heißt hierzulande Vertragsbruch. Was in Paris als „Wachstumsimpuls“ gilt, hält man in Berlin für Vergeudung.“ Erinnert das alles an die Slogans, dass am deutschen Wesen die Welt genesen solle, an die deutsche „Mannestreue“ und all diese unsäglichen und gefährlichen Narrative, die mit der Gründung der EU überwunden schienen?
Es handelt sich um eine Momentaufnahme. Als regelmäßiger Leser der FAZ komme ich allerdings immer mehr zur Überzeugung, dass sich in Deutschland eine Abkehr von Europa vorbereitet. In der Printausgabe wird auch das neue Verhältnis der (krankhaft europaskeptischen) Briten zu den Deutschen zelebriert: „Fast scheint es, als werde nun endlich alles gut. Im Oktober soll gemeinsam der Völkerschlacht bei  Leipzig gedacht werden, die die Briten… an der Seite der Kontinentalmächte sah, die Napoleon erfolgreich zurückschlagen konnten….. Wächst da womöglich – nach einem Jahrhundert offener und versteckter Feindseligkeiten – zusammen, was zusammengehört?“ So viel Geschichte, zu viel Geschichte. Ich erinnere mich, dass es genauso am Balkan begonnen hat. Mit dem Beschwören lange zurück liegender Ereignisse und mit dem Zuschreiben von Attributen an einzelne Völker.
Aber: Was helfen solche moralisierenden Zuschreibungen, wenn es darum gehen soll, einen Ausweg aus der Finanzmarktkrise zu suchen? Der Nationalismus ist ein Konstrukt, das zunächst in den Köpfen entsteht, Befindlichkeiten überhöht und Realitäten schafft, denen man irgendwann nicht mehr entfliehen kann. Noch ist das möglich. Nicht um ein Europa nach deutschem Ebenmaß geht es, sondern um ein europäisches Deutschland, ein europäisches Frankreich oder (schön wär’s) ein europäisches Großbritannien. Da ist es geradezu ein Hoffnungszeichen, wenn einen Tag vor dem Gründonnerstag in eben dieser FAZ Ulrike Guérot und Robert Menasse in  “Es lebe die europäische Republik!” ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Europäische Republik veröffentlichen und dazu auffordern, „mit aller Kreativität, zu der dieser Kontinent fähig ist“  zu diskutieren, „wie die nachnationale europäische Demokratie, am Ende konkret institutionell verfasst sein wird.“