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So darf Krisenmanagement nicht sein

In den letzten vier Wochen haben sich die europäischen Staats-und Regierungschefs viermal und die Finanzminister der Eurogruppe sogar neunmal getroffen, um in nächtelangen Beratungen zu guter Letzt eine fragile Lösung für Griechenland zu vereinbaren. Die sozialen Folgen für Griechenland sind verheerend und vor allem hat die Glaubwürdigkeit des europäischen Projekts gelitten. Massiv. Für Europa waren es Wochen der optimalen Selbstbeschädigung. Recht viele solcher Gipfel wird die EU wohl nicht mehr aushalten. Viele Menschen wenden sich von Europa ab. Sie sagen mir, sie hätten genug von der EU, und so hätten sie sich ein gemeinsames Europa nicht vorgestellt. Quer durch die Reihen. Egal, ob sie im Gipfelbeschluss einen neokolonialen Eingriff in nationale Souveränität oder einen erfolgreichen Erpressungsversuch sehen. Europa wäre schwach, uneinig und undemokratisch. Die wenigsten glauben noch, dass es gelingen wird, die immer schwieriger werdende Lage des alten Kontinents in den Griff zu bekommen. Kriege an den Rändern, ein stetig steigender Migrationsdruck, Überalterung und ökonomischer Bedeutungsverlust machen viele verzagt. Immer mehr behaupten – ohne dafür logische Argumente zu haben – man könne dem nur durch Re-Nationalisierung begegnen. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise kämpft Europa ums Überleben. Dabei geht es um viel mehr als um die gemeinsame Währung. Alles, was bisher geschah, war unzureichend und politisch falsch. Zumindest sehe ich das so. Man braucht ja bloß die europäische Entwicklung mit den USA zu vergleichen. Alle Zahlen sprechen gegen das europäische Austeritätsdogma. Doch darum geht es mir jetzt nicht. Also nicht zum x-ten Mal Tsipras gegen Merkel oder Varoufakis gegen Schäuble.
Ich möchte den Blick auf die Orte der Krisenbewältigung lenken. Am Ende stand das eigentlich Selbstverständliche: die Parlamente der Mitgliedsstaaten. Ohne deren Zustimmung, insbesondere der griechischen Abgeordneten wären alle Mühen vergeblich gewesen. Mit der wesentlichen Einschränkung, dass deren Zustimmung vom Diktat der Alternativlosigkeit geprägt war. Aber immerhin geschah dies in aller Öffentlichkeit. Ganz anders hingegen der Weg der Entscheidungsfindung. Dieser war nicht öffentlich. Was nicht heißt, dass die Öffentlichkeit nicht präsent gewesen ist. Sie wurde vorab, rundherum und vor allem anschließend ausführlich über das jeweilige Geschehen informiert. Die Konfliktparteien ließen die Medien wissen, wie sich die Dinge aus ihrer Sicht darstellten. Nicht immer objektiv und immer interessenbezogen. Manche erschlossen sich eigene Informationsquellen und meinten etwa, aus der Mimik Schäubles, über dessen wahre Absichten Bescheid zu wissen.
Hin und wieder drang nach draußen, dass es Nachdenkpausen gab, Drohungen ausgesprochen wurden oder jemand ins „Beichtstuhlverfahren“ gezwungen wurde. Keine Rolle für die Öffentlichkeit spielte allerdings, wer, wann und mit welcher Berechtigung etwas vorbrachte. Vielmehr als Argumente, zählte, wer am längsten durchhielt. Der letzte Gipfel dauerte 17 Stunden. Regierungschefs samt Entourage, deren Arbeitswoche normalerweise mit Terminen vollgestopft ist, verbringen in Krisenzeiten ihre Wochenenden im Brüsseler Ratsgebäude oder vergleichbaren Orten. Sie produzieren Ergebnisse, die unter einem enormen Zeit-und Erfolgsdruck stehen. Die Qualität solcher im Zustand von Ermüdung und Erschöpfung getroffener Entscheidungen ist oft mangelhaft. Dafür gibt es eindeutige Hinweise der sozialpsychologischen Forschung. Ganz verständlich, dass es immer wieder Nachbesserungsbedarf gibt und oft ein endlich zustande gekommener Kompromiss bereits einen nächsten Gipfel notwendig macht. Ein einziges Mal schien es anders zu gehen. Zumindest gab es diesen Augenblick, als Alexis Tsipras, der spontanen Einladung des Europäischen Parlaments folgte, am 8.Juli, an der Griechenland-Debatte teilzunehmen. Großes Theater. Beifall und Buhrufe hielten sich die Waage, als der griechische Präsident eintraf. Mit dabei auch Jean-Claude Juncker und der Präsident des Rates Donald Tusk. Die Debatte, die fast drei Stunden dauerte war heftig und intensiv, mitunter untergriffig. Es war ein historisches Ereignis. Darin waren sich alle, die dabei waren, einig.
Tsipras konnte man die Strapazen der letzten Wochen deutlich ansehen. Er folgte mit großem Interesse der Debatte. Ich konnte ihn aus nächster Nähe beobachten, wie er sich ärgerte und wie er sich in Bann nehmen ließ, etwa bei Guy Verhofstadts Rede. Bei seiner Antwort auf die Debattenbeiträge der Abgeordneten wirkte er nicht mehr müde. Vielen wird in Erinnerung bleiben, was er zu Beginn sagte: „Ich denke, diese Sitzung hätte schon vor geraumer Zeit erfolgen müssen. Weil die Diskussion, die wir heute führen, nicht nur die Zukunft Griechenlands betrifft, sie betrifft die Zukunft der Eurozone. Und diese Diskussion darf wirklich nicht in Sälen mit geschlossenen Türen durchgeführt werden.“ Recht hat er. Weil es an den Beginn der Griechenlandkrise erinnert. Damals glaubte eine unter innenpolitischem Druck stehende Angela Merkel, sie müsste den Rettungsschirm samt dazugehörendem Fiskalpakt am Europäischen Parlament vorbei konzipieren. Sie bediente sich der intergouvernementalen Methode. In den europäischen Verträgen ist dies ausdrücklich nur als Ausnahmemechanismus vorgesehen. Das Europäische Parlament hat sich daher damals auch klar dagegen ausgesprochen. Wir haben befürchtet, dass auf diese Weise über die Hintertür ein „neues Modell europäischen Regierens“ eingeführt wird. Dieses Modell intergouvernementalen Regierens, forciert vom damaligen Leiter der europapolitischen Abteilung des deutschen Bundeskanzleramtes Nikolaus Meyer-Landrut ist grandios gescheitert. Es hat schlechte Ergebnisse produziert und hat die Menschen wütend auf Europa gemacht. Gleichzeitig hat es das Parlament gehindert, seiner demokratischen Verpflichtung nachzukommen. Hinter verschlossenen Türen kann und darf man nicht über die Zukunft Europas entscheiden. Solche weitreichenden Entscheidungen müssen die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehen können. Das ist bei Griechenland und bei der sogenannten Eurorettung nicht passiert. Grundlegendes wurde beschlossen.
Niemand weiß, wie die Entscheidungen tatsächlich zustande gekommen sind. Wir wissen, wann sie zustande kamen. Immer nach Mitternacht. Überlastete Regierungschefs oder Fachminister, deren Positionen von Beamten, von Think-Tanks und wissenschaftlichen Stäben vorbereitet waren, von sogenannten Sherpas vorverhandelt wurden, entschieden in wechselnder Zusammensetzung und kommunizierten die Resultate dann vorrangig mit den nationalen Medien. Nicht die sachlichen Zusammenhänge standen im Vordergrund, sondern die entscheidende Frage, wer sich durchgesetzt hat.
So zerstört man Europa und es ist nicht zufällig, dass just zu dem Zeitpunkt, wo dieser intergouvernementale Exzess so richtig losging, Uwe Corsepius, ein Deutscher das Generalsekretariat des Europäischen Rates übernahm. Dieser folgte übrigens dem als deutscher Botschafter nach Paris wechselnden Meyer-Landrut. Alles Dinge, die sehr relevant sind und über die die Menschen Bescheid wissen sollten. In einem Parlament, im Besonderen im Europäischen Parlament stehen solche Vorgänge im Rampenlicht einer europäischen Öffentlichkeit. Entscheidungen, die so fundamental die Zukunft Europas betreffen, gehören in diese Öffentlichkeit. Deshalb ist es höchste Zeit, dass sich die deutsche Bundeskanzlerin und ihr Bundesfinanzminister endlich einmal ins Europäische Parlament wagen und sich der längst überfälligen Debatte stellen. Hier können sie erklären, was sie dazu veranlasst hat, ihre germanozentrische Sicht der Dinge der gesamten Union aufzuzwingen. Hier würden sie auch die Sorgen vieler Abgeordneter zur Kenntnis nehmen müssen, dass eine Fortführung der ideologisch motivierten Sparpolitik das gesamte europäische Projekt gefährden würde. Und wenn diese Antworten nicht befriedigend ausfallen, dann müssten sie mit einem negativen Votum der Vertretung der europäischen Bürgerinnen und Bürger rechnen. Wie das in Demokratien üblich ist.
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20 Jahre nach Srebrenica – Hat Europa daraus gelernt oder droht uns das Schicksal des ehemaligen Jugoslawien?

Ich war noch nie in Srebrenica. Aber ich war in Gorazde. Beides sind Städte in Ostbosnien, an der Drina gelegen, beide Städte waren Gegenstand brutaler Belagerung während des Jugoslawienkrieges und standen damals unter dem halbherzigen Schutz der Vereinten Nationen. Ich war nur kurz in Gorazde und traf mich mit den politisch Verantwortlichen, in einem Lokal direkt an der Drina. Es waren Männer, stolze Männer.
Das Verbrechen von Srebrenica
In Srebrenica gibt es keine stolzen Männer. Srebrenica ist der Ort eines der grauenvollsten Verbrechen im heutigen Europa. 8000 seiner Männer wurden systematisch auf bestialische Weise gemordet. Genozid nennt das Völkerrecht ein solches Verbrechen, dessen Tatbestand darin besteht, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.“
Genau das geschah in den Julitagen des Jahres 1995 in Srebrenica. Mitten in Europa, vor den Augen der ganzen Welt. Deren Repräsentanten, in diesem Fall UN – Friedenstruppen aus den Niederlanden, sahen tatenlos zu, ja, ließen sich zu opportunistischen Komplizen degradieren. Die Männer von Srebrenica waren den Kräften wehrlos ausgeliefert, die sich zum Ziel gesetzt hatten, diese Region ethnisch zu säubern. Mitten in Europa. Dieser nationalistische Wahn hatte sich seit Generationen aufgebaut, basierte auf Vorurteilen, Neid und Minderwertigkeitskomplexen, immer präsent in der Region. Zumeist blieb dieser Wahn auf eine kleine Gruppe von versponnenen Abenteurern und hirnlosen Maulhelden beschränkt. Wie der berühmte Geist in der Flasche. Immer dann, wenn es kriselt, dann greift man nach der Flasche.
So auch zu Beginn der 1990-er Jahre, als Jugoslawien kollabierte. Plötzlich zählte nur mehr das Negative. Schuld waren immer die anderen. Menschen, die gute Nachbarn waren, wurden plötzlich zu Feinden. Menschen, die diese Gegend seit Jahrhunderten gemeinsam bewohnt hatten, wurden drangsaliert, ihrer Würde beraubt und erniedrigt. Sie wurden vertrieben, vergewaltigt, niedergemetzelt. Man wollte sie auslöschen, ein für alle mal. Unter der Führung, eines sich auf seine verborgene historische Größe rückbesinnenden Serbien sollte Jugoslawien aus der Krise heraussteigen wie der Phönix aus der Asche. Mit der Kraft aus der Vergangenheit hinein in eine neue Zukunft! – Auch das ist Europa.
In unserem Fall reichte die Vergangenheit zurück bis ins Jahr 1389. Zur Mutter aller Schlachten und allen Unheils, zur Schlacht am Amselfeld. 600 Jahre sind eine Ewigkeit. 600 Jahre, das sind 20 bis 30 Generationen, die diese Geschichte unentwegt fort tradiert und weiter gesponnen haben. Das prägt sich ein in die Seele eines Volkes. Wer auf einem solchen Klavier spielt, wie das Milosevic mit seiner berühmten Rede getan hat, der muss mit den Konsequenzen rechnen. Und es gilt auch: Wer sich selbst erhöht, der erniedrigt andere. Nationalistischer Größenwahn lässt sich nicht dosieren. So wie der Geist aus der Flasche. Einmal entwichen kann ihn keine Macht der Erde wieder in die Flasche zwingen. Seine Wirkung ist hochtoxisch, er vernebelt die Gehirne, macht hemmungslos und bricht alle Tabus. So geschehen in Sarajevo, Prijedor, Omarska, Visegrad und eben Srebrenica. Eine Flugstunde bzw. eine Tagesreise von Österreich entfernt. So nah und dennoch – für die Mehrzahl der Menschen hierzulande – weit weg.
Der Bosnienkrieg und als seine ultimative Übersteigerung der Genozid von Srebrenica hinterließen eine offene Wunde, die noch lange nicht abgeheilt ist. Sie zeigen auf, dass wir uns nicht selbstzufrieden damit brüsten können, Europa hätte seine Lektionen aus der Katastrophe des von den Nazis angezettelten großen Krieges gelernt. Srebrenica ist eine Stätte ,an der niemand stolz sein kann. Anders als in Orten wie Sarajevo, wo man unter vielen Opfern der brutalen Übermacht standhielt, oder eben Gorazde. Srebrenica ist eine Stätte der Schande, eine Stätte der Schmach und der Niedertracht. Srebrenica macht traurig und betroffen. Es macht hilflos, das Geschehene in Worte zu fassen. Zum Glück ist die menschliche Sprache dazu nicht fähig. Es zeigt aber auch unsere ganze Hilflosigkeit, das Unfassbare nicht verhindert zu haben oder es ungeschehen machen zu können. Angesichts der Tragik der Vorgänge reicht es freilich nicht aus, den Hinterbliebenen Mitleid entgegen zu bringen oder ihnen die Versicherung unseres tiefen und aufrichtigen Beileids abzustatten. Das ist viel zu passiv gewollt.
Srebrenica muss uns wütend machen. Zornig.
In so einer Situation kann der Zorn – der unter alltäglichen Umständen ein schlechter Ratgeber ist – ein heiliger Zorn sein. Niemals zu vergessen – das sind wir den Opfern und ihren Hinterbliebenen schuldig. Die Täter wollten alles, was vom muslimischen Srebrenica zeugen könnte: die Menschen, ihre Geschichte, ja das künftige Erinnern ein für alle mal zum Verschwinden bringen. Genauso wie es im Übrigen die Nazis hielten. In Treblinka, Sobibor oder Hartheim, wo sie alle Spuren tilgten, die an ihr verbrecherisches Tun erinnert hätten. Keine Spuren sollten übrig bleiben vom Völkermord in Srebrenica. Die Täter verscharrten ihre Opfer und unternahmen allerlei Täuschungsmanöver, um spätere Identifizierungen unmöglich zu machen. Selbst als Tote sollten sie nicht mehr existieren.
Es ist eine nur den Menschen eigene Verhaltensweise, die Toten würdevoll zu bestatten. Dies zu verweigern ist eine zutiefst unmenschliche, ja nichtmenschliche Tat. Eine der ältesten Tragödien Europas handelt davon: Antigone, die Tochter des Ödipus. Diese fühlte sich verpflichtet, auch unter Androhung der Todesstrafe für eine würdevolle Bestattung ihres Bruders zu sorgen. Sie widersetzte sich dem königlichen Gesetz und bezahlte dies mit dem eigenen Leben. Bertolt Brecht setzte die antike Tragödie in Bezug zu den Nazi Verbrechen. Was er Antigone über die Jahrhunderte zurück zurief, das gilt ebenso für die Frauen von Srebrenica: „ Noch je vergaßest Du Schimpf und über die Untat wuchs ihnen kein Gras.“
Menschen, die Srebrenica vergessen lassen wollen, die die Geschehnisse leugnen oder verharmlosen, solche Menschen tragen dazu bei, dass sich derartiges wiederholt, ja, solche Menschen leisten künftigen Verbrechen Vorschub. Das Leugnen der Verbrechen von Srebrenica ist vielmehr selbst ein Verbrechen. So wie das Leugnen des Holocaust.
Niemals vergessen – dieses Motto des Antifaschismus trifft gerade in diesem Fall zu.
Wie sollte man das jemals vergessen können. Ich erinnere mich noch gut an eine Pressekonferenz der oberösterreichischen Volkshilfe, wenige Tage nach den schrecklichen Vorkommnissen. Als Gäste hatten wir Frauen, die soeben dem Grauen entkommen waren, weil sie sich über die Berge bis nach Tuzla durchschlagen konnten.
Ich erinnere mich an die Gefühle der Ohnmacht und des Zornes, die in mir hochkamen. Vor allem einen Tag später, als ich feststellen musste, dass die Medien kaum Notiz nahmen. Auf meine Vorhaltungen hin erklärte mir ein befreundeter Journalist, ich müsste doch einsehen, dass österreichische Medien die Verpflichtung hätten, nicht einseitig Partei zu ergreifen. Aber: das Verbrechen des Genozids erlaubt keine Äquidistanz. Wer die Schuldigen nicht benennt, Unrecht nicht als solches bezeichnet, der kann keinen Schlussstrich unter die Vergangenheit setzen. Und damit gibt es auch keine Zukunft.
Nicht zu vergessen, bedeutet freilich nicht, daraus die Berechtigung ableiten zu können, das „Tätervolk“ hassen zu dürfen. Man kann Individuen hassen, aber niemals ein Volk.
Antigone, die große Frauengestalt aus der Antike, sprach, als sie bereits ihren Tod vor Augen hatte, jene seherischen Worte, die ein politisches Vermächtnis für Europa darstellen: „Nicht (mit) zu hassen, (mit) zu lieben sind wir geworden!“ Solche Größe ist nicht immer möglich und bedarf eines stetigen Bemühens.
Die Drina, dieser Schicksalsfluss Europas, ist Zeugnis davon, dass solches immer wieder gelingt. Ivo Andric, der heute keineswegs Unbestrittene, hat in seinem mit dem Nobelpreis gewürdigten Roman „Die Brücke über die Drina“ beschrieben, wie konstitutiv für die Stadt Visegrad das Zusammenleben der verschiedenen Ethnien und gleichzeitig fragil dieses Gebilde war. Er hat uns eine zentrale Erkenntnis vermittelt, ohne die Europa nicht existieren kann:
Von allem, was der Mensch baut und aufbaut, gibt es nichts Besseres und Wertvolleres als Brücken.“
Europa als Bewältigung vergangenen Schreckens
Europa ist vor allem eine Baustelle. Der ständige Versuch, den Einsturz und das Zusammenbrechen zu verhindern, indem man Provisorien einzieht, Notlösungen vornimmt und zuweilen kühne Konstruktionen zulässt. Europa ist das stetige Bemühen, überall dort Brücken zu bauen, wo sich unüberwindbare Gräben auftun.
Brücken werden zumeist aus materiellen Überlegungen errichtet, um Handel zu treiben, um miteinander in Kontakt zu treten. Einmal errichtet werden sie bald zur Selbstverständlichkeit. Erst wenn sie zerstört sind, merkt man, wie wichtig sie sind.
Wie die Brücke von Mostar, die Brücke über die Drina in Vysegrad oder die Donaubrücke in Novi Sad.
Europa ist geworden. Es wurde nicht auf dem Reißbrett konzipiert. Es ist gewachsen aus der Einsicht der Menschen, etwas falsch gemacht zu haben. Das zugrundeliegende Motiv: es besser zu machen und die Selbstzerfleischung nicht mehr zuzulassen.
Es gab viele Anläufe zu einem gemeinsamen Europa. Zunächst blieb dies auf wenige Weitsichtige beschränkt. Die Mehrheit erlag nur allzu leicht immer wieder dem berauschenden Gift des Nationalismus. Von Niederlage zu Niederlage freilich schwoll das Lager der Einsichtigen an. Die große Katastrophe des Zweiten Weltkriegs erlaubte schließlich einen Paradigmenwechsel, einen Neubeginn.
Am Anfang des europäischen Projekts standen Erschöpfung und Müdigkeit und das Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein. Man könnte es auch als ein Gefühl der Erleichterung beschreiben. Endlich war es vorbei, das Grauen, dem man sich nur schwer entziehen konnte, und dem man mehr oder minder ausgeliefert gewesen ist.
Es waren keine hochmögenden Visionen, die die europäischen Staatsmänner der Nachkriegsjahre antrieben, vielmehr schierer Überlebenstrieb. Nicht ideologisch verbrämte Mythen, sondern Pragmatismus stand am Beginn der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich.
Carlo Schmid, der große deutsche Sozialdemokrat analysierte den Neubeginn in den Beziehungen der beiden „Erbfeinde“, ohne den der europäische Einigungsprozess nicht möglich gewesen wäre, einmal folgendermaßen:
Dieses Sich-aneinander -Wagen setzt voraus, daß man bereit ist, den anderen so zu wollen, wie er ist, nicht wie man ihn haben möchte. Es wäre gleichsam ein „Glücksfall, wie eben im historischen Falle Deutschlands und Frankreichs, wenn sich dieser Moment „auf dem Nullpunkt der Erwartung ereigne.
Europa – und darin liegt seine Stärke und Schwäche zugleich – ist eine nüchterne, eine trockene Angelegenheit. Europa- das bedeutet nicht Liebe auf den ersten Blick.
Europa ist nicht sexy. Sofern wir Gefühle für Europa haben, haftet ihnen nichts Erotisches an, so wie das für den überall am Kontinent grassierenden Patriotismus zutrifft. Eher ein Gefühl von Sicherheit oder vielleicht Dankbarkeit. Und eher Zuversicht als Gefühl. Die europäische Integration war keine Liebesheirat, vielmehr eine wohlüberlegte, an materiellen Vorteilen orientierte Ereigniskette.
Wir wissen, dass Vernunftehen mitunter häufiger von Bestand sind, als von der Aufwallung von Gefühlen getriebene Liebesheiraten.
Der europäische Prozess entwickelte sich parallel, auf zwei unterschiedlichen Pfaden.
Zunächst in eine politische Richtung: Inspiriert von Winston Churchills berühmter Züricher Rede von 1946, in der er die enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich forderte und dafür plädierte, nicht „Hass“ und „Rache“ fortzuschleppen und die Europäer leidenschaftlich aufforderte: Lasst Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Freiheit walten. Die Schaffung der von ihm propagierten Vereinigten Staaten Europas, für die er nur ein kleines Zeitfenster sah, scheiterte, nicht zuletzt an britischen Bedenken. Der Europarat, dessen parlamentarische Versammlung regelmäßig in Straßburg tagt, ist der bescheidene Rest, der von diesen politischen Träumen übrig geblieben ist.
Der zweite Pfad setzte bei den materiellen Interessen der Menschen an. Sie sollten ungehindert Handel treiben können, ihre Industriepolitik und ihre Atompolitik gemeinsam ausrichten. Gekrönt wurde dieser Prozess mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge im Jahr 1957. Europa wurde zu einer Wirtschaftsgemeinschaft.
Das dahinterliegende Kalkül war einfach und auch richtig. Auf die wirtschaftliche Einigung würde automatisch die Einsicht folgen, sich auch politisch enger zusammen zu schließen. Wenn Menschen miteinander Handel treiben, möglichst ungehindert durch Grenzen und Zölle, dann kommen sie sich näher. Menschen, die miteinander in geschäftlichem Kontakt stehen, entwickeln wechselseitiges Vertrauen. Dieses ist ihre Geschäftsgrundlage. Menschen, die notorisch Zwietracht säen, wie es das Naturell von Nationalisten ist, solche Menschen werden als geschäftsschädigend empfunden und alsbald isoliert.
So ist das nach 1945 passiert. Ich erinnere mich noch gut an meine eigene Kindheit, an die Erzählungen meines Großvaters, eines ganz lieben Menschen, der noch die Schlachten am Isonzo erlebt hatte. Ich erinnere mich, wie wir Kinder abfällig von den Italienern als „Katzelmachern“ und „Spaghettifressern“ sprachen. Wenn ich das heute meinen mit Pizza und Pasta groß gewordenen Kindern erzähle, dann verstehen sie mich nicht. Das ist Europa
Its the economy!
So hätte es auch in Bosnien passieren können, so wird es vielleicht passieren. Ich erinnere mich noch gut, als ich zum ersten Mal in Brcko war. Gleich nach dem Krieg.
Noch nie in meinen Leben habe ich ein solches Ausmaß an Zerstörung gesehen – vom Kugelhagel zersiebte Häuser und dem Boden flachgemachte Siedlungen. Und dennoch gab es etwas Überraschendes, das sich ebenfalls in meine Erinnerung eingeprägt hat: Arizona-Market. Zuweilen der größte Markt auf dem Balkan. Hier fand man alles, was man kaufen wollte, und hier fanden sich alle ein. Auch Menschen, die wenige Monate vorher noch gegeneinander gekämpft hatten, handelten miteinander. „Kaufen statt kämpfen“ übertitelte 1996 die WELT eine Reportage über Brcko.
Mehr als 15 Jahre später ist Brcko, trotz vieler negativen Seiten, die es auch aufweist, eine der wenigen Orte, wo Bosnien funktioniert, wo die meisten der Vertriebenen zurückgekehrt sind und das multiethnische Zusammenleben möglich ist.
Ja, wirtschaftliche Vernunft ist eine wichtige Basis für menschliches Zusammenleben. It’s the economy!
Das europäische Projekt ist auf dieser Grundlage zustande gekommen. Und es ist ein Erfolgsprojekt, allen Unkenrufen zum Trotz. Es war ökonomisches Denken, also die durchaus richtige Erkenntnis, dass die Menschen nur dann zu einem politischen Projekt JA sagen, wenn sie etwas davon haben. Wenn jede/r etwas davon hat. Wenn es am Ende dazu führt, dass alle das Gefühl haben, nicht übervorteilt zu werden. So wie am Beispiel von Arizona/Brcko.
Wirtschaftlicher Erfolg macht aber oft übermütig, führt zur Vernachlässigung nichtökonomischer Aspekte. Wenn die Ökonomie nur mehr sich selbst genüge ist, dann kommt es zum Marktversagen. Und es gibt Profiteure auf Kosten der Allgemeinheit, vor allem aber Menschen, die zu Schaden kommen, weil sie übervorteilt werden. Gesellschaftliche Ungleichheit ist die Kehrseite der Marktwirtschaft. Sie tritt vor allem dann auf, wenn die Marktwirtschaft ohne das Adjektiv „sozial“ auszukommen glaubt und wenn sie ungehemmt durch staatliche Eingriffe der bloßen Profitmaximierung dient.
Die Gier ist mittlerweile zur universellen Triebfeder in Europa geworden. Zumindest treibt sie die spekulativ agierenden Finanzmärkte an. Mit atemberaubender Geschwindigkeit werden kurzfristige Vorteile gesucht. Dieser Geist hat die Mehrheit der Menschen erfasst. Was dem einem seine Bonuszahlung ist, sind den anderen überall lockende Schnäppchen, privilegierte Zugänge zu irgendwelchen Programmen, die meisten möchten premium oder executive sein.
 
Es herrscht eine hektische Drängelei in dieser selbsterklärten Hochleistungsgesellschaft.
Europa ähnelt einer Autokolonne, in der jeder seinen eigenen Vorteil suchend, den anderen in riskanten Manövern zu überholen versucht, ohne dadurch freilich früher am Ziel zu sein. Die Gier ist allgegenwärtig.
Viele Menschen spüren das. Die Europaskepsis greift um sich. Europa wird von vielen nur mehr als ein Projekt der ökonomischen Eliten gesehen, denen man überdies keine wirkliche Problemlösungskompetenz zubilligt. In der Tat ist es bislang nicht gelungen, den Bürgerinnen und Bürgern konkrete Vorteile in Aussicht zu stellen. Es kommt nichts, genauer, es kommt zu wenig für die Menschen heraus.
Ein soziales Europa! Das ist ein ständig wiederkehrender Slogan der linken und progressiven Parteien bei Wahlen zum Europäischen Parlament. Sobald die Wahlkämpfe vorüber sind, gerät diese Forderung gleich wieder in den Orkus des Vergessens, um dann bei den politischen Sonntagsreden wieder hervorgeholt zu werden.
Dann beschwört man mit sanften Tönen das europäische Sozialmodell. Europa wäre ein Kontinent des sozialen Ausgleichs und der Sorge um die Mitmenschen. Sobald es allerdings um Reformen geht, werden die USA zum Vorbild erklärt.
Europa hat es nicht geschafft, die durchaus gelungene wirtschaftliche Integration sozial abzufedern. Europa, das sind die Märkte: Deregulierung, Privatisierung, Wettbewerb lautet deren Mantra.
Wenn die Märkte diktieren
Dieser Mangel hat weitreichende Konsequenzen. Zum einen, weil ein vorrangig auf die Wirtschaft ausgerichtetes Europa seine Bürgerinnen und Bürger enttäuschen muss. Denn niemand kann auf Dauer eine Politik durchsetzen, die von der breiten Masse Opfer und Verzicht fordert, ohne dass etwas Erkennbares zurückkommt. Zum anderen begünstigt eine solche Politik die Besitzenden und verstärkt die soziale Ungleichheit. Je stärker die soziale Ungleichheit ausgeprägt ist, umso mehr geraten die europäischen Gesellschaften aus dem Gleichgewicht. Wirtschaftlich, sozial und politisch.
Wachsende Ungleichheit und die damit einhergehende Verunsicherung ist der Nährboden für allerlei Populismus.
Jedes Sparpaket, jede Haushaltskürzung vergrößert das Potential, auf das die Demagogen rücksichtslos zugreifen können. Solange die Politik der demokratischen Parteien nur Opfer und Belastungen verlangt und nicht vermitteln kann, dass diese nicht umsonst waren, solange wird diese Gerechtigkeitslücke ein Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit bei den breiten Massen hinterlassen.
In allen Mitgliedsstaaten ist die populistische Rechte auf dem Vormarsch: nicht nur in Ungarn, schon seit einigen Jahren in Frankreich und Italien oder in Österreich. Auch in Staaten mit liberaler Tradition, wie den Niederlanden oder im skandinavischen Norden.
Das nationalistische Gift, von dem man glaubte, es würde niemals mehr eingesetzt, wird wieder aus dem Medikamentenschrank geholt. Wir wissen, wohin das führt.
Aber wir werden das nicht verhindern können, wenn wir bloß auf diese historischen Zusammenhänge verweisen. Dies ist redlich und ehrenhaft, dies ist wichtig, weil wir die Fehler aus der Geschichte nicht wiederholen wollen.
Aber es reicht nicht aus. Vielmehr müssen wir dem Populismus den Nährboden entziehen, in dem wir die Gerechtigkeitslücken schließen. Wir brauchen ein soziales Europa, das diesen Namen auch verdient.
Europa ist die einzige Chance, die gewaltigen Probleme, vor denen wir stehen, in den Griff zu bekommen. Wer glaubt, dass sich europäische Nationalstaaten in einer komplexen und riskanten Welt, in der das Machtzentrum im Pazifischen Raum liegt, so ohne weiteres Gehör verschaffen können, der irrt. Nicht einmal Deutschland ist dazu in der Lage.
Wir brauchen Europa. Ansonsten droht nicht nur ein Bedeutungsverlust des Kontinents von historischem Ausmaß, sondern damit einhergehend auch ein deutlich spürbarer Wohlstandsverlust. Letztlich würde dies auch den so mühsam gesicherten Frieden auf unserem Kontinent in Gefahr bringen.
Wir brauchen allerdings ein anderes Europa. Ein Europa das bereit ist, sich zu verändern. Nicht nur in sozialer Hinsicht! Europa muss vor allem demokratischer werden.
Jene weitsichtigen Menschen, die nach dem 2. Weltkrieg die deutsch-französische Freundschaft begründeten, hatten dabei sicherlich nicht die nervös–hektische Kabinettspolitik von Merkel und Sarkozy im Sinn. „Merkozy“ das ist nicht Europa, zumindest nicht jenes, das wir brauchen. Der deutsche Sonderweg, der die deutsch-französische Achse abgelöst hat, ist ein Irrweg.
Wir brauchen keine Einzelkämpfer, die auf Kosten der Kleinen und Schwachen ihre Ellbogen ausfahren. Wir brauchen mehr Gemeinschaftlichkeit. Wir müssen die gemeinsamen Institutionen, vor allem das Europäische Parlament, stärken.
Es gibt heute viel Europaskepsis, leider mittlerweile auch in Deutschland. Das ist die unerfreuliche Seite. Es gibt aber auch viele Menschen, gerade junge, die mehr denn je von Europa überzeugt sind. Wenn es uns gelingt – und dafür sehe ich gute Vorzeichen – das Gemeinschaftliche zu stärken, dann werden wir auch die großen Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, lösen.
 
Jugoslawien zum zweiten Mal?
 
Gelingt uns dies nicht, dann droht uns ein Schicksal wie das Jugoslawiens. Eine an sich richtige Idee, die am Unvermögen seiner damaligen Staatsführung zu demokratischen Reform scheiterte. Die Parallelen zur gegenwärtigen EU sind vorhanden und sollten bei uns die Alarmglocken schrillen lassen.
Ich erinnere mich noch genau an Gespräche mit Menschen aus Jugoslawien, Ende der 1980-er Jahre, die vehement beklagten, dass sie den „Süden“ auf ihre Kosten „mitfüttern“ müssten. Der Süden, das waren immer die anderen. Für die Serben das Kosovo, für die Kroaten das Kosovo und Serbien, für die Slowenen ganz Restjugoslawien. Und dann gab es noch Bosnien, das sich Serbien und Kroatien am liebsten aufteilen wollten, hätte es da nicht die Muslime, die man auch Bosniaken nannte, gegeben.
Das Misstrauen war allgegenwärtig, und vor allem einer Staatsführung geschuldet, die nicht mehr in der Lage war, das Gemeinsame sichtbar zu machen und die Zentrifugalkräfte zu beherrschen.
Ich erinnere mich daran, wie schnell und leichtfertig man, gerade mit westlicher Unterstützung begann, dazu überzugehen, das Heil in der Zerschlagung Jugoslawiens zu suchen. Dieser Glaube war naiv und gefährlich. Die nationalen Gefühle, angefacht von den jeweiligen nationalen Regierungen, entfalteten sich überschwänglich, hielten vor nichts zurück und führten zum Bürgerkrieg, zu grausamen ethnischen Säuberungen und zum Völkermord.
Der Nationalismus hat das ehemalige Jugoslawien nachhaltig verändert und um Jahrzehnte zurückgeworfen. Eine ganze Generation wird nötig sein, um wieder Anschluss an die europäische Entwicklung zu finden. Der gewaltsame Tod von mehr als 100.000 Menschen, die Folgen der Gewaltexzesse, Massenvergewaltigungen, der Vertreibung und Flucht werden noch lange in den Seelen der Menschen ihre Ablagerungen hinterlassen.
Und das sei zumindest in den Raum gestellt: Regt sich nicht auch gegenwärtig wieder überall in Europa der Nationalismus und wird zum dominanten innenpolitischen Kalkül?
Exakt nach demselben Muster wie der Selbstzerstörungsprozess Jugoslawiens vor einer Generation?
Wieder sind es regionale Ungleichgewichte, die den Nationalismus entfachen. Man braucht nur den Menschen zuzuhören: Die faulen Griechen, die auf unsere Kosten leben, die Südeuropäer im Generellen. Wie zu Zeiten unserer Großeltern: Nur keinem Italiener trauen, schon gar nicht, wenn er der Chef der Europäischen Zentralbank ist. Vielleicht übertreibe ich, aber mitunter sollte man hellhörig sein.
An diese historischen Parallelen sollten denken, wenn wir uns der damaligen Opfer, der Frauen und Männer aus Srebrenica erinnern.
PS: Ich habe diese Zeilen im Jänner 2012 geschrieben. Sie dienten als Basis für eine Rede beim Politischen Aschermittwoch der Bayerischen Arbeiterwohlfahrt. Mehr als drei Jahre sind seither vergangen. Bosnien ist auf dem Weg, endgültig zu einem „failed state“ zu werden. Dem Erweiterungsprozess ist die Dynamik abhanden gekommen – besonders am Balkan. Die Europamüdigkeit hat nicht abgenommen, vielmehr breitet sich Unsicherheit aus, die immer häufiger in Wut und Zorn umschlägt. Vielleicht sind die Ereignisse in und um Griechenland nur das Vorspiel zu einer viel größeren Tragödie von gesamteuropäischen Ausmass. Ich wehre mich dagegen, diesen Gedanken zuzulassen. Aber ich fürchte mich davor, dass aus EU-rope in nicht allzu ferner Zukunft YU-rope werden könnte. Ein YU-rope Szenario, das wäre die Katastrophe des 21.Jahrhunderts, vergleichbar dem was der 1.Weltkrieg für das 20.Jahrhundert war. Wie müssen auf der Hut sein. Die Auflösung Jugoslawiens geschah ja auch nicht über Nacht und die Staatsmänner Europas schlafwandelten bekanntlich buchstäblich in den Ersten Weltkrieg.

Angst essen Seele auf

Der Damm ist gebrochen. Als ich das vor drei Wochen behauptete, da stieß ich bei manchen noch auf Unverständnis. Daran gibt es nichts zu deuteln. Die FPÖ ist auf dem Vormarsch. Nicht nur bei der Sonntagsfrage liegt sie deutlich vor den ehemaligen Großparteien. Viel schlimmer noch, bei der Lösung der Flüchtlingsfrage vertrauen 29% den Freiheitlichen und nur 10 bzw. 12% den Regierungsparteien.
Auf einmal ist der Hass allgegenwärtig
Ein Erdrutsch ist im Gang. Schwer zu stoppen. SPÖ und ÖVP scheinen nicht mehr dazu in der Lage zu sein. Wahrscheinlich geht das nur mehr, wenn seine Eigendynamik nachlässt. Also, wenn die FPÖ Fehler macht. Der Radikalismus ist bekanntlich des Radikalen Feind. Noch gibt es ja Hemmschwellen. Aber die vielen, die offen und ohne viel nachzudenken mit Hassparolen auf alles eindreschen, was ihnen nicht geheuer ist, werden täglich mehr. Wie bei einem kollektiven Besäufnis. Hin und wieder gibt es Momente, wo selbst die hartgesottensten Abhängigen in ihrem Rausch innehalten und nachzudenken beginnen. So ein Moment war, als letzte Woche die FPÖ-Abgeordnete Dagmar Belakowitsch-Jenewein der Innenministerin nahelegte, Abschiebungen mit Militärflugzeugen vorzunehmen, wo die “da drinnen schreien können, so laut sie wollen“. Vor allem aber letzten Samstag, als Strache (er zog diesen Beitrag später zurück) auf Facebook insinuierte, die tödliche Amokfahrt in Graz könnte einen religiös begründeten Hintergrund haben, da konnte man hoffen, jetzt würden vielleicht manche erkennen, auf dem falschen Dampfer zu sein. Für ein paar Tage war das Entsetzen allgegenwärtig. In den sozialen Medien kursierten Screenshots der ersten Reaktionen: „die Ratte gleich auf der Straße erschlagen“ oder: Der Bosna gehört als Strafe mit Schweinefleisch vollgestopft und mit Votka vollgesoffen wen er nicht will dann gibt es einen Trichter und Handschellen (sic!)“
Solche Statements sind keine Einzelfälle. eaudestrache.at vermittelt ein trauriges Bild davon, wie sich das Gift des Hasses und des bösen Vorsatzes von Tag zu Tag mehr in Österreich ausbreiten. Und was passiert, wenn aus Worten Taten werden? Mir kommt ein Bild aus dem Geschichtsbuch aus meiner Mittelschulzeit – lange her – in den Sinn. Wie sich der Mob über einen Juden belustigt, der gezwungen wurde mit einer Zahnbürste den Gehsteig zu reinigen. Ich habe mich immer gefragt, wie so etwas möglich war. Wie vergiftet das Klima sein musste, um so etwas zu tun. Nein, ich will keine Parallelen herbeischreiben. Ich weiß, dass sich Geschichte niemals wiederholt, aber ich bin verunsichert. Hoffentlich kommt es anders. Es muss anders kommen. Es wird anders kommen.
Angst essen Seele auf ?
Wenn wir das aber ernsthaft wollen, dann ist nicht angebracht, angewidert die Nase über den Pöbel zu rümpfen. Schon gar nicht über dessen mangelnde Rechtschreibkenntnisse. Vielmehr müssen wir uns fragen, was Menschen dazu veranlasst, ihren Hass in solch selbstentblößender Weise in aller Öffentlichkeit kundzutun. Und wir sollten auch die Frage zulassen, ob das wirklich alles ernst gemeint ist. Natürlich gibt es die Hartgesottenen, die Neonazis – mehr als wir glauben wahrscheinlich – aber die Mehrheit der Verhetzten reagiert zunächst einmal verbalradikal. Maulhelden sind noch keine Massenmörder. Was aber ist der Grund, warum so viele zu Maulhelden geworden sind? Es ist die Angst vor dem Abstieg, die Angst vor dem Absturz. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, es könne nur noch schlechter werden. Die Alten, weil sie bezweifeln, ob die Versprechungen, die man ihnen einst gegeben hat, überhaupt noch eingehalten werden, die Erwerbstätigkeiten, weil sie um ihren Job, ihr Einkommen und ihre Zukunft fürchten und die Jungen, weil sie keine Zukunft für sich sehen. Das ist in der Tat ein bedrohlicher Cocktail. Vor allem, weil es sich um diffuse, Generationen-übergreifende Ängste handelt. Diese zunächst isoliert dastehenden Bedrohungen werden quasi gemeinschaftlich empfunden und erlebt. Dadurch schaukeln sie sich für viele in einem unerträglichen Maß auf und werden als nicht mehr lösbar empfunden. Die Politik, festgelegt auf die technokratische Abarbeitung von Problemfeldern, bietet keine Erklärung und vor allem keine Lösung. Die Menschen fühlen sich alleine gelassen.
Wer kümmert sich um die Ängste?
In dieses Vakuum stoßen die Rechtspopulisten und Rechtsextremen. Ihr Angebot ist simpel und betörend. Sie antworten nicht auf die konkreten Ängste, vielmehr instrumentalisieren sie diese. Sie begegnen dem beängstigenden Gefühl, alleine gelassen zu werden, indem sie die Vision einer heilen Welt beschwören. Ihre Lösung besteht darin, die komplexe und oft verwirrende Realität zu negieren, indem sie unentwegt irgendwelchen Verschwörungen nachspüren und Schuldige personifizieren. Den alleine Gelassenen gaukeln sie das Konstrukt einer Volksgemeinschaft vor. Nach dem Motto, wären wir doch endlich wieder unter uns, dann ließen sich alle Probleme lösen. Die systematische und massenhafte Verbreitung von Unwahrheiten über vermeintlichen Asylmissbrauch bewirkt Verunsicherung und schürt Neid. Überall ist die Lüge präsent und erzeugt ein Gefühl, vernachlässigt zu sein und nicht ernst genommen zu werden. Oft habe ich bei meinen Sprechstunden gehört: um die Ausländer/Flüchtlinge kümmert ihr euch und unsere Sorgen sind euch egal.
Hier liegt das Problem. Und die Sozialdemokratie muss genau hier ansetzen, wenn sie noch den Funken einer Chance haben will. Dabei geht es nicht nur darum, sich offensiv mit den Lügen und Übertreibungen der Rechtspopulisten auseinanderzusetzen. Man darf sie auf keinen Fall unwidersprochen lassen. Wie oft habe ich in meiner Partei gehört, es wäre doch ratsam, der Diskussion des Ausländerthemas auszuweichen. Dreimal falsch. Genau dieses Verhalten ist der Grund dafür, wieso der xenophobe Diskurs sich so breit entfalten konnte. Entscheidend ist, dass wir die Sorgen und Problem der Menschen ernst nehmen, sie aufgreifen und politische Lösungen entwickeln. Klingt vielleicht banal. Aber das scheinbar Banale ist oft das Wichtige. Einstmals war genau dies die Stärke der Sozialdemokratie. Verankert und geerdet im Milieu der einfachen Menschen hat sie immer wieder die Fähigkeit bewiesen, reale Verbesserungen durchsetzen zu können. Diese Fähigkeit ist verloren gegangen.
Es gibt keine Ethik der Sachzwänge
Warum können so wenige nachvollziehen, dass die Forderung, den Gürtel enger zu schnallen keine politische Botschaft ist: Den Alten unentwegt ein schlechtes Gewissen zu machen, sie würden ihre wohlerworbenen Rechte nur zulasten der Nachkommenden in Anspruch nehmen oder den Erwerbstätigen mitzuteilen, ihr Arbeitsplatz wäre keineswegs sicher, weil man ja die Produktion verlagern könne. Das alles schafft ein Klima der Ratlosigkeit und Verzweiflung. Besonders schlimm ist das für die Jungen, die nach Möglichkeit drei Studien abschließen und gleichzeitig Praxiserfahrung im In-und Ausland aufweisen sollen, um dann mit einem schlecht bezahlten prekären Arbeitsverhältnis abgefertigt zu werden. Hören wir doch auf, alles als alternativlos hinzustellen. Natürlich gibt es Alternativen zum allgegenwärtigen Mantra, der Staat, müsse wie eine Firma geführt werden. Warum nicht den Staat wie ein Gemeinwesen führen? Es gibt keine Ethik der Sachzwänge. Menschen brauchen Gemeinschaft und die Gewissheit, dass sie sich auf etwas verlassen können. Der europäische Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit hatte genau dieses Bedürfnis befriedigt. Er hat die Menschen positiv beeinflusst und motiviert, somit die Grundlage für die goldenen Jahre Europas gelegt. Vor allem, weil er ihnen Respekt gezollt und Würde gegeben hat. Europa war solange stark, so lange ihm der soziale Zusammenhalt wichtig war. Mit der neoliberalen Wende, an deren endgültiger Durchsetzung leider auch Sozialdemokraten beteiligt waren, änderte sich das. Schröder und Blair waren es, die 1999 mit einem gemeinsamen Papier eine „angebotsorientierte Agenda für die Linke“ eröffneten. Verstärkt wurde dieser Kurs dann durch eine ideologisch aufgeladene und engstirnig an nationalen Egoismen ausgerichtete Austeritätspolitik als Antwort auf die Finanzmarktkrise. Der Sozialstaat wurde zum Kostenfaktor degradiert und die Demokratie als Kostentreiber problematisiert. Scheibchenweise wird seither der einstmals prägende Wohlfahrtsstaat demontiert. An den Folgen dieser Entwicklungen leiden die Menschen, indem ihre Arbeitsplätze unsicherer, die Löhne und Einkommen niedriger werden. Frappierend ist, dass immer mehr Menschen meinen, ein weiterer Abbau des Sozialstaates würde ihnen nicht schaden, sondern eher nutzen.
Back to Basics
Wir brauchen politische Antworten auf die irrationalen Ängste der Menschen, weil diese sonst über kurz oder lang die Demokratie zerstören werden. Daher müssen wir den Sozialstaat verteidigen und ihn ausbauen. Leider ist die Sozialdemokratie in diesen Fragen recht leise geworden. In Zeiten, wo es darum gehen soll, eine breite Unterstützung zu finden scheint sie wie gelähmt zu sein. Wie war das doch noch, vor etwas mehr als einem Jahrzehnt, mit dem Sozialstaatsvolksbegehren? Eine breite Bewegung weit über die Sozialdemokratie hinaus brachte den Sozialstaat in das Zentrum der politischen Debatte. Ich erinnere mich noch gern an die unzähligen Diskussionen. Und auch daran, dass die Partei anfänglich recht skeptisch war und zu ihrem Glück erst gezwungen werden musste. Bezeichnend für diese Skepsis allem gegenüber, was man nicht selbst initiiert hat, war denn dann auch das mangelnde Follow-up. Lieber macht man die Dinge allein. Der Sozialstaat wird aber nicht funktionieren, wenn man sich nur darauf beschränkt, ihn gut zu verwalten. Er braucht die Einbindung der Betroffenen. Die Menschen müssen erfahren, dass sie nicht allein gelassen sind, weil im entscheidenden Moment der Mechanismus der Solidarität funktioniert. Wenn sie arbeitslos, wenn sie krank, alt oder gebrechlich sind oder eine andere existenzielle Bedrohung auftritt. Nur wenn die Sozialdemokratie wieder fähig ist, ihr Basisgeschäft zu erledigen, wird es ihr gelingen, den Zerfall des Gemeinwesens, wie wir das gerade erleben, zu stoppen.
 

Ach, du mein Österreich

Ich bin ein alter Sozi. In diesen Tagen geht es mir nicht gut. Ich leide am Zustand meiner Partei. Ich bin entsetzt über die Vorgänge im Burgenland. Diese stellen eine historische Wende dar. Ein Dammbruch ist passiert. Der Damm ist an einem seiner schwächsten Punkte gebrochen.
Die Freiheitlichen sind zum Joker der österreichischen Innenpolitik geworden. Nichts geht mehr ohne sie. Kein Tag vergeht, wo sich nicht irgendein Sozialdemokrat zur derzeitigen Causa Prima Österreichs- ob man sich mit der FPÖ ins Bett legen soll – äußert. Niemand weiß, was dabei herauskommt.
Die Verwirrung ist allgegenwärtig. Verärgerung und Resignation machen sich breit. Menschen, für die die SPÖ einmal alles war, wenden sich ab oder verlassen die Partei, wie Sonja Ablinger und viele andere. Es tut mir leid, dass wir sie verlieren.
Kreiskys Erbe
Wir haben viele verloren seit 1970. In diesem Jahr, genau am 1.März bin ich in die Partei eingetreten. Es war eine großartige Aufbruchsstimmung. Viele waren Bruno Kreiskys Einladung gefolgt, ein Stück des Weges mit der SPÖ zu gehen. Die SPÖ wurde zu einer erfolgreichen Erneuerungsbewegung, gewann eine Wahl nach der anderen und legte den Grundstein für ein modernes und weltoffenes Österreich.
Noch heute zehren wir vom Erbe Kreiskys. Leider hat sich die SPÖ bei der Verwaltung dieses Erbes aufgezehrt. Die Hälfte der Wählerschaft ging verloren, bei den Mitgliedern war der Rückgang noch deutlicher. Konsum, BAWAG und Co. stehen nicht mehr zur Verfügung.
Und heute würde niemand mehr von der „Roten Reichshälfte“ reden.
Rot und Schwarz zusammen haben es gerade noch geschafft, eine einfache Mehrheit im Nationalrat zu erlangen. Das Problem liegt also nicht nur bei der SPÖ. Immer mehr Menschen verweigern sich den einstigen Großparteien, die gemeinsam die Zweite Republik aufgebaut haben. Die Zweite Republik – schon oft totgesagt – scheint nun wirklich an ihr Ende zu kommen.
Dieser Zusammenbruch ist nicht auf die Angriffskraft der FPÖ zurückzuführen. Der Zusammenbruch gleicht eher einer Implosion. Materialermüdung könnte man es auch nennen.
Christoph Kotanko meinte unlängst treffend: „Strache arbeitet mit wenig Eigenkapital, die Regierung verschafft ihm das Fremdkapital.“
Was ist passiert? Das Erfolgsmodell Zweite Republik war eine Art goldener Gleichgewichtszustand von eigentlich im Widerspruch zueinanderstehenden Partikularinteressen, zwischen den Sozialpartnern, zwischen Schwarz und Rot und zwischen den Ländern. Im Gegensatz zur fragmentierten Ersten Republik brachte das Österreich voran.
Allerdings hatte das seinen Preis. Konflikte wurden nicht mehr öffentlich ausgetragen, sondern hinter verschlossenen Türen geregelt. Die Folge waren ein strukturelles Demokratiedefizit, eine unterentwickelte Streitkultur mit häufig infantilen Zügen und eine entpolitisierte Medienlandschaft.
Jahrzehntelang erstickte die stolz zur Schau getragene Selbstgefälligkeit jeden Versuch, das System zu verändern.
Es mangelte keineswegs an der Erkenntnis, dass sich etwas ändern müsse. Aber alle Versuche scheiterten an Partikularinteressen. Besonders die Länder erwiesen sich als Bremsfaktor. Sie gerieren sich mitunter als wären sie unabhängige Staaten. Und niemand hindert sie, wie im Falle Kärntens, das einen finanziellen Megagau, an dem wir noch lange leiden werden, herbeiführte.
Das System der Sozialpartnerschaft deckt immer weniger ab, da vieles mittlerweile außerhalb der organisierten Bereiche geschieht. Und die beiden Ex-Großparteien befinden sich in einer existenziellen Krise.
Der Zerfall der Zweiten Republik ist aber auch auf externe Faktoren zurückzuführen. Der goldene Gleichgewichtszustand funktionierte nur unter Bedingungen eines weitgehend geschlossenen Systems. Spätestens mit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist es mit der Ruhe vorbei. Zudem begannen die Kräfte der Globalisierung, der wir im Übrigen unseren, immer noch bemerkenswerten Wohlstand verdanken, ihre Wirkung zu entfalten.
Ein einziges Mal reagierten die Eliten richtig, als sie mit viel Propagandaaufwand den EU-Beitritt vorantrieben. Allerdings haben sie sich nie wirklich mit der neuen Situation angefreundet und die vielen neu entstandenen Chancen wirklich genutzt. Dabei sein und mitnörgeln reicht nicht aus, um die Bevölkerung zu überzeugen.
Die nationalen Probleme mit dem Versagen der EU zu erklären ist eine fatale Sackgasse.
Politik der Schuldzuweisung
Diese über jede Selbstkritik erhabene Politik hat dazu beigetragen, dass wir uns zum Opfer einer bedrohlichen Außenwelt stilisieren konnten. Immer mehr Österreicher leben in einer Parallelwelt, in der grundsätzlich nur die Anderen schuld sind. Ursache ist die Unfähigkeit der Eliten, Probleme zu erklären und die Menschen an deren Lösung zu beteiligen. Vor allem aber, dass vieles gar nicht angesprochen wird, wie die steigende Armut oder immer mehr um sich greifende Zukunftsängste der Menschen. Jetzt rächt sich, dass die Zweite Republik eine demokratiepolitische Wüste war und ein politischer Diskurs unabhängig von tagespolitischem Hickhack kaum existierte.
In einem solchen Vakuum haben es jene leicht, die einfache Erklärungen anbieten und Schuldige benennen. Schon lange spielt die FPÖ auf diesem Klavier. Seit dem Innsbrucker Parteitag ist sie zu einer rechtspopulistischen Partei mutiert, die erfolgreich die Unzufriedenen um sich sammeln konnte. Zentrales Element dieser Strategie war wie schon in den 30er Jahren die Idee der Volksgemeinschaft. Wir und die anderen: „Daham statt Islam“, „Österreich zuerst“ usw. bedienen dasselbe Sujet.
Diese Strategie funktioniert dann besonders gut, wenn die Realität ausgeblendet bleibt. Die fremdenfeindlichen Kampagnen der FPÖ verfangen dort besonders gut, wo der Migrantenanteil niedrig ist. Also je mehr die Menschen miteinander zu tun haben, umso geringer die Wahrscheinlichkeit der Schuldzuweisung. Die Menschen dürfen also nicht wissen, wie es wirklich ist. Die Realität wird zurechtgebogen und zurechtgelogen.
Die FPÖ ist in Migrationsfragen nicht konstruktiv. Sie ist konstruktivistisch unterwegs. Es grenzt an Verhetzung, was in sozialen Medien an falschen Zahlen kursiert und bereitwillig von ihren Funktionären verbreitet wird. Immer mehr Menschen halten die Hetze für Realität. Mit I-Phone ausgestattete junge Männer, die mit Lunchpaketen um sich werfen und mehr als ein durchschnittlicher Facharbeiter verdienen, bedrohen brave österreichische Bürger und zwingen ihnen eine fremde Kultur auf. Sie haben es sogar darauf abgesehen, uns daran zu hindern, mit unseren Kindern Nikolaus zu feiern.
So oder so ähnlich kann man das landauf und landab hören. Und dass es nur einen gäbe, der es den unfähigen „Weicheiern“, diesen gutgläubigen „Gutmenschen“ zeigen kann, den Anführer der sozialen Heimatpartei.
Je schwächer die ehemaligen Großparteien werden und je stärker die selbst ernannten Retter aus tatsächlicher und herbeigeredeter Not, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass dies zu Koalitionen mit ihnen führt. Das ist der arithmetische Aspekt. Schwer vom Tisch zu wischen.
Dann gibt es den populistischen Aspekt, man könnte es auch das einfältige Kalkül nennen. Wenn die Rechtspopulisten immer mehr Zuspruch finden, dann könnte man doch versuchen davon zu profitieren. In dem man diesen Regierungsverantwortung überträgt und auf diese Weise das Frust-Potenzial abarbeitet. Durch die Regierungsbeteiligung würden sie entzaubert und gleichzeitig würde man selbst an Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.
Ein fataler Irrtum. Das ist die Lehre aus den verlorenen Jahren von Schwarz-Blau.
Deshalb war Hans Niessls vorsätzlich herbeigeführte Koalition ein schwerer Fehler. Er bedeutet einen Wendepunkt. Ab nun sitzt die FPÖ immer mit am Tisch, kann ihre Bedingungen stellen und die beiden ehemaligen Großparteien vor sich hertreiben. Absurde Manöver, wie jenes in der Steiermark sind die Folge. Das letzte, was Schwarz und Rot noch an Gemeinsamkeit verblieben ist, wird beim Ringen, wer als Zweiter hinter der FPÖ landen wird, verloren gehen. Beide werden in infantiler Weise übereinander herfallen. Und lachen wird der Dritte, der sich historisch immer als dritte Kraft verstand und dem die Dritte Republik spätestens seit Jörg Haider ein Anliegen war.
Die Flucht in Rot-Blau, mit der manche sozialdemokratische Funktionäre liebäugeln, bedeutet den Schritt in eine andere Republik. In eine Republik, die sich vorrangig selbst genügt und wohl auch autoritärer konstruiert sein wird. Eine derartige Einschränkung von Weltoffenheit und individueller Freiheit fördert keineswegs den sozialen Zusammenhalt. Es ist ein großes Missverständnis zu glauben, es gäbe in der Sozialpolitik Schnittmengen zwischen Rot und Blau. Das kann nur jemand behaupten, der von Sozialpolitik und den Nöten der Menschen keine Ahnung hat.
Die Republik, in die wir hineinzuschlittern drohen, stellt keinen Fortschritt dar. Sie wird uns zurückwerfen und isolieren. Ob wir schon die Koffer packen sollen, wie das Christian Rainer im Profil meint, das bezweifle ich. Vor allem ist es keine Lösung. Und auch nicht, darauf zu hoffen, dass es den anderen Parteien schlechter als der Sozialdemokratie geht.
Angesichts einer derartigen Situation hat man es als Sozialdemokrat nicht leicht. Ich weiß gar nicht, wie lang das schon her ist, dass ich jemanden getroffen habe, der (die) eine positive Perspektive für die Sozialdemokratie gesehen hat. Alles scheint im Niedergang. Seit einiger Zeit habe ich Jura Soyfers Roman „So starb eine Partei“ am Nachtkästchen liegen. Die Parallelen zu den 30er Jahren sind frappant.
Aber ist das Ende wirklich unausweichlich. Ja, wenn wir so weiter tun wie bisher.
Nein, wenn wir beginnen, die Blockaden der letzten 70 Jahre zu überwinden. Das Unausweichliche vermeiden, heißt eingefahrene politische Rituale aufbrechen, Parteigrenzen überwinden und sachliche Koalitionen bilden. Heißt die Interessen und Nöte der Menschen, auch der Unorganisierten wahrnehmen. Vor allem müssen wir bereit sein, unangenehme Probleme anzusprechen und Lösungen aufzuzeigen. Ganz wichtig der Mut, sich vom Mainstream abzusetzen, ganz besonders in der Wirtschaftspolitik.
Bruno Kreisky hatte diese Fähigkeit. In dem er seine Partei führte, gab er dem Land eine Richtung vor. Seine staatsmännische Leistung bestand darin, für Ideen und Projekte zu werben und die Menschen daran zu beteiligen. Man konnte ihm gleichsam beim Nachdenken folgen.
Die Menschen wollen Veränderungen. Aber sie wollen dabei ernst genommen werden und sie wollen mittun. Gute Politik ist die beste Voraussetzung der rechtspopulistischen Antipolitik Einhalt zu gebieten.
Noch ist es nicht zu spät. Schon gar nicht für die Sozialdemokratie.

Der immerwährende Albtraum

Gestern war ein wunderschöner Tag. Endlich einmal im Garten. Familie und gute Laune. Bis die Hochrechnungen aus der Steiermark auftauchten.
Ich erinnere mich an einen ebensolchen Tag im Garten. Ein Septembernachmittag. Die Kinder waren noch klein. Die Nachrichten kamen noch nicht aus dem I-Phone, sondern ganz klassisch aus dem Radio. Immer zur vollen Stunde. Jörg Haider hatte sich beim Sonderparteitag in Innsbruck an die Spitze der FPÖ geputscht.
Fast dreißig Jahre ist das her. Damals wurde der Geist der Verdrehung aus der Flasche gelassen. Und es ist nie wieder gelungen, ihn einzufangen. Mein ganzes aktives politisches Leben nicht. Meine Kinder sind damit aufgewachsen. Mit dem frustrierenden Erlebnis, das man Erfolg damit haben kann, wenn man die Dinge vorsätzlich verdreht und alles Fremde und Andersartige heruntermacht.
Österreich, ein großartiges und traditionell weltoffenes Land ist zum Experimentierfeld des Rechtspopulismus geworden. Ist quasi in einem „immerwährenden österreichischen Albtraum“ gefangen.
Es gab einige Momente, wo ich den Eindruck hatte, nun wäre der Spuk vorbei. Nach dem Parteitag von Knittelfeld und der darauf folgenden Niederlage der FPÖ, nach der Abspaltung des BZÖ, nach dem Tod Jörg Haiders, nach Bekanntwerden des größten Kriminalfalls der 2.Republik rund um die Hypo Alpe Adria oder mit dem Auftauchen Frank Stronachs.
Aber es war wie bei Krake Hydra. Kaum war ein Kopf abgeschlagen wuchs ein anderer nach. Deswegen habe ich es aufgegeben, auf das Ende des Albtraums zu hoffen, wenn einer dieser regelmäßig wiederkehrenden Momente auftaucht.
Entlarvung der Verdrehungspolitik
Es gab drei Hauptstrategien der Eindämmung des Rechtspopulismus. Alle erwiesen sich als ungenügend. Weder funktionierte es, sich relaxt zurückzulehnen und das Problem totzuschweigen in der Hoffnung, das Ganze werde sich von selbst erledigen. Noch klappte der Versuch der Hereinnahme in die Regierungsverantwortung. An den Folgen wird noch unsere Enkelgeneration leiden. Besonders fatal erwies sich die Strategie, sich bestimmte Elemente des Rechtspopulismus, anzueignen, in der Hoffnung diesem so das Wasser abzugraben.
Das Gegenteil war der Fall, so wie jetzt wieder in der Steiermark und im Burgenland. Weil das ganze unreflektierte Gerede von Integrationsunwilligkeit und Bedrohung der Sicherheit lediglich die Akzeptanz der rechtspopulistischen Verdrehungen verstärkte. Öl ins Feuer gießen nennt man so etwas.
Das Wahlergebnis dieses Sonntags markiert eine historische Zäsur. So wie 1986 der Innsbrucker Parteitag. Man mag einwenden, es handle sich bloß um einen kontinuierlich wiederkehrenden Moment des österreichischen Albtraums. Wir müssten uns halt irgendwie daran gewöhnen. Am Ende würde sich ja doch alles einrenken und nichts Schlimmes passieren.
Diesmal liegen die Dinge aber anders. Europa war noch nie so instabil, die Zentrifugalkräfte setzen dem europäischen Projekt immer mehr zu. Der Geist des Rechtspopulismus hat sich überall breitgemacht. Teilweise in bedrohlichem Ausmaß, wenn wir etwa an Ungarn denken.
Nicht zuletzt war die Botschaft der steirischen FPÖ, in einem bisher nicht bekanntem Maß, radikal und hetzerisch.
Die Menschen haben diesmal sehr wohl gewusst, was sie wählen. Das lässt sich nicht mehr einzig und allein als Protestwahl erklären. Es waren die Inhalte, die zu diesem Ergebnis geführt haben.
Wir müssen endlich aufwachen und beginnen, den Kampf mit der Hydra zu führen.
Natürlich gibt es regionale Ursachen, die regional angegangen werden müssen. Mir geht es hier um die österreichische und darüber hinaus die europäische Perspektive.
Das benötigt Zeit und Geduld. Was sich über Jahrzehnte verfestigt hat, das lässt sich nicht mit einem einzigen Kraftakt beseitigen.
Parallelen zu den 30er Jahren
Und es wird auch nicht reichen, das Phänomen nur auf der symbolischen Ebene des Antifaschismus zu bekämpfen. Vieles am modernen Rechtspopulismus verzichtet vordergründig auf historische Fundierung. Geschichte wiederholt sich eben nicht als Kopie des Vergangenen.
Wir müssen uns allerdings der historischen Konstellation bewusst werden. Diese ähnelt sehr wohl jener der 1930er Jahre. Eine falsche als alternativlos definierte Austeritätspolitik, führt zu sozialen Verwerfungen. Immer mehr Menschen haben das berechtigte Gefühl, dass die Politik sich nicht um sie kümmert. Neidgefühle werden geschürt und Sündenböcke definiert.
Auf einer solchen Basis entsteht gleichsam eine neue politische Tagesordnung. Diese hat zwar nicht mehr viel mit der eigentlichen Realität zu tun. Die Forderungen der rechtspopulistischen Parteien beziehen sich denn dann auch nur auf diese konstruierte Realität. Ein interessantes Phänomen in diesem Zusammenhang ist, dass Fremdenhass dort am größten ist, wo keine Fremden sind und gefühlte Unsicherheit sich vor allem in Gegenden mit niedrigen Kriminalitätsraten breitmacht. Auch am gestrigen Wahlsonntag ließen sich sowohl in der Steiermark als auch im Burgenland solche Phänomene beobachten.
Hier gilt es anzusetzen. Am eigentlichen Kern des Problems, dass der Rechtspopulismus unter den beschriebenen Gegebenheiten eine systematische Verdrehungspolitik betreibt. Die Entlarvung dieser Verdrehungspolitik ist daher die wichtigste Aufgabe.
Allerdings dürfen wir die Menschen mit der richtigen Erkenntnis der Probleme nicht allein lassen. Politik bedeutet, über unterschiedliche Lösungsansätze entscheiden zu können. Rechtspopulisten sind im Regelfall nicht an konstruktiven Lösungen interessiert. Ihre Welt ist eine konstruierte Welt.
Auch der für den fatalen Austeritätskurs verantwortliche Neoliberalismus tut sich damit schwer. Sein Dogma der Alternativlosigkeit beruht auf einer blinden, fast religiösen Marktgläubigkeit.
Von beidem hatten wir zu viel in Österreich und in Europa.
Eine für die Menschen attraktive Politik muss in der Lage sein, Angebote für die Lösung der realen Probleme zu formulieren. Sie muss wertschätzend und plausibel sein. Wenn ich (vermeintliche oder tatsächliche) Opfer bringen soll und gleichzeitig den Verlust meines Arbeitsplatzes befürchten muss, dann werde ich mit Recht an der Politik verzweifeln.
Ein dritter wesentlicher Punkt besteht darin, dass Menschen an der Politik beteiligt sein wollen. Niemand will, dass über ihren/seinen Kopf hinweg entschieden wird. Die meisten Menschen wollen gefragt werden und sie wollen beteiligt sein. Diesen Zusammenhang hat die „Reformkoalition“ in der Steiermark nicht verstanden. Das ist einer der Gründe, warum das Verdikt der Wählerinnen und Wähler so deutlich ausgefallen ist.
Dem immer stärker werdenden Rechtspopulismus wird man nur dann wirklich Herr werden, wenn man ihm die Maske vom Gesicht reißt, und eine an den wirklichen Problemen der Menschen ansetzende Politik betreibt, an der sich die Menschen auch beteiligen können und die daher dann auch ihre Politik ist.
In diese Richtung müssen wir gehen. Leicht gesagt. Aber eigentlich wissen wir das ja eh alle. Angehen müssten wir es halt. Viel Zeit ist nicht mehr.

Jahresbilanz und mehr

Genau vor einem Jahr, da war ich überglücklich. Ein dreimonatiger Wahlkampf war zu Ende gegangen. Tag für Tag war ich unterwegs gewesen. Tausende Menschen hatten mir ihre Sorgen anvertraut, noch mehr – mir zugehört. Hunderte unterstützten mich freiwillig in der „Pro Joe“-Bewegung. Wesentliches Erfolgskriterium war eine voll motivierte Parteibasis. Geld hatten wir fast keines. Eher No-Budget als Low-Budget.
Am Ende waren es mehr Vorzugsstimmen, als wir Euros zur Verfügung hatten. 28.328, davon fast 25.000 in Oberösterreich.
Ein solches Ergebnis verpflichtet. Vor allem zu inhaltlicher Arbeit. Ich hatte ja im Wahlkampf immer betont, wie viel man durch Sacharbeit im Europaparlament erreichen kann. Ich versuchte, mich daher, soweit möglich von den üblichen Machtspielen fernzuhalten. Einerseits wollte ich meine bisherige Arbeit im Innenausschuss und im Binnenmarktausschuss fortsetzen, weil mir noch vieles unerledigt schien.
Joe_WK
Andrerseits wollte ich auch stärkere politische Inhalte setzen. Ich war daher sehr erfreut, als ich Mitglied des Menschenrechtsausschusses wurde und mich die Fraktion zum Menschenrechtssprecher machte. In dieser Funktion bin ich für die dringlichen Anfragen des Parlaments zu Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Ich mache das sehr gerne, weil ich etwas bewirken kann. Der Druck Europas hilft. Es ist immer wieder ein befriedigendes Erlebnis, wenn wegen unseres Druckes Menschen freigelassen werden oder Regierungen von menschenrechtswidrigen Praktiken ablassen. Besonders aktiv sind wir im Mittleren Osten. Ich war hauptverantwortlich für die klare und eindeutige Kritik des Europaparlaments an Saudi Arabien und habe mich in vielfältiger Weise für die verfolgten Jesiden und Christen in der Region eingesetzt.
Lösung des Flüchtlingsproblems
Ich habe die Region auch bereist, war im Nordirak, im Iran und im Libanon und die Probleme der Flüchtlinge und Vertriebenen aus eigener Anschauung kennengelernt. Hier liegt der Schlüssel zur Lösung des Flüchtlingsproblems.
Wenn es uns nicht gelingt, die Lage in der Region zu stabilisieren, dann werden wir auch nicht in der Lage sein, das Migrationsproblem zu lösen. Dazu braucht man Offenheit und Vernunft, Geduld und die Bereitschaft zu pragmatischen Lösungen. Schuldzuweisungen und Hetze lösen das Problem mit Sicherheit nicht. Sie schaffen noch mehr Unsicherheit.
Im Innenausschuss beschäftigen wir uns permanent mit dieser Entwicklung. Das Parlament war maßgeblich daran beteiligt, dass es zu einem Stimmungsumschwung auf europäischer Ebene gekommen ist. Weg vom ungerechten, nicht-funktionierenden Dublin System hin zu einem gerechten Verteilungsschlüssel und zu humanitären Einreisekorridoren. Es ist noch viel zu tun, damit aus diesen neuen Ideen auch eine neue Realität wird. Aber es darf nicht sein, dass jährlich tausende Menschen, beim Versuch das Mittelmeer zu überqueren ertrinken.
Irak_Joe
Genauso wenig darf es sein, dass wir im Internet auf Schritt und Tritt überwacht werden und Firmen mit unseren Daten Geschäfte machen, ohne dass wir ihnen unsere Einwilligung dazugegeben haben. Sicherheit gibt es nur dann, wenn die Menschen auch die Gewissheit haben können, dass ihre individuelle Freiheit respektiert wird. Meine gegenwärtigen Berichte, wie die Verordnung zu Europol, der Bericht zu Technologie und Menschenrechte, sowie die Richtlinie zur Erdbeobachtung durch Satelliten haben alle damit zu tun. Die Weiterarbeit am Datenschutzpaket hat für mich oberste Priorität. Unser Leben ist weitgehend digital bestimmt. Auch wenn das alles für manchen konservativen Politiker, wie den deutschen Kommissar Oettinger offensichtlich noch immer Neuland ist.
Gemeinsam mit Abgeordneten der Europäischen Volkspartei, den Piraten und den Liberalen habe ich eine parteiübergreifende Intergroup „Digitale Agenda“ gegründet, der mehr als 70 Abgeordnete angehören. Unsere monatlichen Veranstaltungen finden großen Zuspruch, weil wir industrieunabhängig agieren und damit das wichtigste Korrektiv zum etablierten Politikbetrieb darstellen. Die Sicherung der Netzneutralität ist eines unserer wesentlichen Anliegen.
Europa- anstatt Konzernpolitik
Sachorientierte, parteiübergreifende Zusammenarbeit ist im Europaparlament der Regelfall. Argumente zählen mehr als Direktiven von oben. Und es ist auch gut so, wenn nicht immer alle der gleichen Meinung sind. Mit manchen meiner Kolleginnen und Kollegen aus der Intergroup habe ich zum Beispiel, was TTIP betrifft große Meinungsverschiedenheiten.
Für mich bedeutet der Versuch der Europäischen Kommission TTIP, CETA & Co. durchzuboxen, den lange vorbereiteten Versuch die Politik zu entmachten. Eine Entmachtung der Politik – für die diese leider häufig selbst die Begründung liefert – hinterlässt keineswegs ein Vakuum. Vielmehr schafft sie Raum für demokratisch nicht legitimierte Interessendurchsetzung. Wenn es keine Politik gibt, dann schaffen die Konzerne an.
Das müsste eigentlich leicht zu durchschauen sein. Ist es aber offensichtlich nicht.
Deshalb bin ich gegen die sogenannten Investorschutzklauseln (ISDS) und auch gegen eine automatische (außerparlamentarische) regulatorische Kompetenz, wie sie durch derartige Handelsabkommen geschaffen wird.
Hier gilt es den Anfängen zu wehren. Ich bin absolut kein Fan von zu viel Regulierung, aber mitunter gleichen manche gut gemeinte Versuche der Deregulierung dem Versuch das Kind mit dem Bade auszuschütten.
Mit großer Vorsicht sind daher die Versuche der Kommission unter dem Titel „Bessere Regulierung“ oder REFIT (Regulatory Fitness and Performance) zu beurteilen. Wie sagte doch unlängst der Präsident des DGB, Reiner Hoffmann dazu.
„Hinter dem biedermännisch daherkommenden Programm zum Abbau von Bürokratie verbirgt sich ein groß angelegtes Deregulierungs-Programm zum Abbau von Mindeststandards im Arbeitsrecht, in der Sozial- und Umweltpolitik sowie im Verbraucherschutz.“
Die nächsten Jahre werden diesbezüglich entscheidend. Wenn wir nicht aufpassen, dann wird hier das größte Entpolitisierungsprogramm der Geschichte abgezogen. Dann entscheiden am Ende nicht gewählte, „unabhängige“ „Experten“ darüber, worüber Parlamente überhaupt noch zu entscheiden haben. Wie im gegenwärtigen Vorschlag der Kommission zur Etablierung eines Kontrollrates (Scrutiny Board).
Sozialdemokratie muss sich beweisen
Ich werde auf jeden Fall genau darauf achten, dass bei dem durchaus richtigen Versuch des Bürokratieabbaus nicht übers Ziel hinaus geschossen wird. Ich möchte nicht, dass wir genau dort landen, wo uns der Urvater des Neoliberalismus Friedrich Hayek haben wollte, in einer Welt in der nur mehr Wirtschaftsinteressen dominieren.
Ich kann mir nicht helfen dieser geplante Kontrollrat erinnert mich fatal an Hayeks Weisenrat, der sein ganzes antidemokratisches Sentiment zum Ausdruck bringt.
Und ich werde auch das Gefühl nicht los, dass Europa sich gegenwärtig anschickt, sich vollends dem Neoliberalismus zu verschreiben.
Jetzt, wo es eigentlich jedem schimmern müsste, dass die neoliberale Wende gescheitert ist, weil sie Europa in große wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht und bislang nicht gekannte soziale Verwerfungen hervorgerufen hat. Diese verfehlte Politik ist für den steigenden Bedeutungsverlust Europas und vor allem für den immer bedrohlicher anwachsenden politischen Extremismus verantwortlich.
Das alles ist absurd. Und eigentlich wäre jetzt die Zeit der Sozialdemokratie gekommen. Doch davon sind wir meilenweit entfernt. Überall verliert sie an Bedeutung, nicht nur wie jüngst in Großbritannien. In Polen etwa erreichte die sozialdemokratische Kandidatin bei der Präsidentschaftswahl nicht einmal 5% usw. usf.
In den nächsten vier Jahren – so viel Zeit steht uns noch zur Verfügung – geht es vor allem darum, sich aktiv an der Rekonstruktion der europäischen Linken zu beteiligen. Nur wenn dies gelingt, hat auch Europa eine Zukunft. Das Europäische Parlament ist genau der richtige Ort solches zu versuchen. Deshalb haben mich auch die Menschen in meinem Wahlkreis nach Brüssel geschickt.

Schwarzes Gold

Ilham Heydar Aliyev, seit 2003 Staatspräsident Aserbaidschans (als direkter Nachfolger seines Vaters) ist ein Vertreter, jenes in der letzten Zeit immer häufiger auftretenden Typus autoritärer Politiker, deren primäres Ziel, die Optimierung privaten Vermögens ist. Putin, Orbán, Erdogan oder Gruevski folgen mehr oder wenig direkt diesem Muster.
Kleptokratie nennt man solche autoritären Systeme, wo es nicht mehr primär um Ideologie, wie bei den autoritären Potentaten des vorigen Jahrhunderts, wie Franco, Pinochet & Co geht. Ideologie ist nur dann wichtig, wenn dies der Machterhaltung dienlich ist. Ebenso geschmeidig, geradezu pragmatisch ist der Umgang mit demokratischen Institutionen und Verfahren. Solange sie nicht hinderlich sind, bedient man sich ihrer. Nicht zuletzt deswegen, um vom wahren Charakter der Herrschaftsausübung abzulenken.
Prestigebauten für sechs Milliarden Dollar
Ein besonderes Faible zeichnet autoritäre Politiker aber samt und sonders aus: die Vorliebe für symbolische Großprojekte. So etwas sichert die Zuneigung der heimischen Bevölkerung und sorgt für internationale Anerkennung. Nichts ist für autoritäre Potentaten wichtiger.
Aliyev hat 2012 ein ganz großes Ding an Land gezogen. Sein Land wird im Juni 2015, also in wenigen Wochen, die ersten „European Olympic Games“ veranstalten. Aserbaidschan war der einzige Bewerber. Bei der geheimen Wahl stimmten mehr als ein Dutzend Länder dagegen. So etwas schert einen Potentaten wenig, weiß er doch, dass er sich fast alles kaufen kann.
Mehr als sechs Milliarden Dollar gibt Aliyev, der auch Präsident des Nationalen Olympischen Komitees ist, für die Prestigebauten aus. Zudem übernimmt er die Anreise- und Aufenthaltskosten der teilnehmenden Sportlerinnen. Das ist wohl auch der Grund, weshalb das Nationale Olympische Komitee schweigsam ist, wenn es auf die systematischen Menschenrechtsverletzungen im Land angesprochen wird. Es ist das Schwarze Gold, der Ölreichtum Bakus, der jede Kritik verstummen lässt.
Baku
Je näher die Baku-Games kommen, umso rigider tritt das Regime gegen jede Form von Kritik auf. Oppositionelle werden inhaftiert, weil sie den Mund zu weit aufgemacht haben und die Protzsucht des Regimes, Korruption oder miserable Arbeitsbedingungen kritisiert haben. Aliyev will der Welt zeigen, dass ihn alle seine Untertanen lieben und schätzen, weil er ihnen unentwegt Gutes tut. Vor allem will er zeigen, dass Aserbaidschan zu Europa gehört
Ja, Aserbaidschan gehört zu Europa. Es ist Mitglied des Europarates und hat sich dadurch auch verpflichtet, dessen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu befolgen.
Der Menschenrechtskommissar des Europarates Nils Muižnieks ist ständig damit beschäftigt, den systematischen Verletzungen der EMRK nachzugehen. Seine Besuche in Baku bezeichnete er als die schwierigsten seiner Funktionsperiode. Sogar während seiner Präsidentschaft im Europarat habe das Land – ohne sich zu genieren – die Menschenrechte abgebaut.
Europa-Mitgliedschaft darf nicht käuflich sein
Die Liste der Fälle ist lang und das Regime ist ziemlich dreist bei der Begründung für die Verfolgung von politischen Gegnern.
Intigam Aliyev, Emin Huseynov und Anar Mammadli oder Rasul Jafarov sind bekannte Fälle. Sie wurden unter fadenscheinigen Vorwänden in Untersuchungshaft genommen. Ihre „Verbrechen“ bestanden darin, Verletzungen der EMRK aufgezeigt zu haben. Besonders negativ dürften die Behörden Aserbaidschans vermerkt haben, dass sie dies in Gremien des Europarates taten.
Besonders tragisch ist die Situation des Ehepaars Leyla und Arif Yunus. Ihren Fall kenne ich, weil Leyla für den Sacharow Preis des Europäischen Parlaments nominiert war. Seit vielen Jahren kämpfen sie für Presse- und Meinungsfreiheit, gegen Korruption und für die Aussöhnung mit dem Nachbarstaat Armenien.
In diesem Zusammenhang habe ich auch deren im holländischen Exil lebende Tochter Dinara Yunus kennengelernt. Ich mag sie. Hin und wieder stelle ich mir vor, dass auch meine Tochter einmal so für mich kämpfen wird, falls Leute wie ich – was glücklicherweise bei uns (noch) unvorstellbar ist – im Gefängnis landen.
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Wo es geht, unterstütze ich ihren unentwegten Kampf für die Freilassung ihrer Eltern. Sie ist regelmäßig bei uns im Europaparlament zu Gast und sie verdient es, dass wir sie in Zukunft viel lauter und weit mutiger unterstützen. Ihre Mutter schwebt in akuter Lebensgefahr. Sie leidet an Diabetes, Hepatitis C und Nierendysfunktion.
Schweigen ist nicht Gold
Leider haben verschiedene Versuche stiller Diplomatie, an denen auch ich beteiligt war nichts bewirkt. Die aserbaidschanische Seite ist uneinsichtig. Wohl bestärkt im Glauben, dass sie sich alles – auch das Stillschweigen Europas, dem man so gerne angehören möchte – erkaufen kann.
Das dürfen wir nicht hinnehmen. Weil das nur weitere Autokraten auf den Plan rufen wird und weil es nicht sein kann, dass sich ein Land seine europäische Identität durch Brot und Spiele auf dem Rücken wahrhaftiger und mutiger Menschen erkauft.
Menschenrechte sind universell und zumindest in diesem Fall stimmt es nicht, dass Schweigen Gold ist.
Deshalb müssen wir reden, und wenn es sein muss – und das ist momentan ohne Zweifel der Fall – dann müssen wir fordern, diese Spiele zu boykottieren. Auch wenn dies den offiziellen Sponsoren Procter & Gamble, Tissot, Coca-Cola, McDonald’s, Motorola, Nestlé, Red Bull und BP nicht gefallen wird.

Katastrophal und kurzsichtig

Manche Katastrophen ereignen sich nicht abrupt. Sie bereiten sich langsam auf. Bei entsprechender Bereitschaft ist das sichtbar. Man hätte es im Nachhinein also wissen können.
Wie zum Beispiel im Mittleren Osten. Nicht schon wieder werden jetzt viele einwenden. Auch mir geht es hin und wieder so.
Ich wollte diese Woche eigentlich etwas zum Europatag schreiben. Dann kam das britische Wahlergebnis und bestätigt meine Befürchtungen.
Mitten im Prozess des Überlegens dann hintereinander zwei Tweeds, die mich aufschreckten. Wahrscheinlich auch deswegen, weil ich letzte Woche im Europaparlament gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung zwei Gäste aus dem Irak eingeladen hatte. Die kurdische Abgeordnete Ala Talabani und der Terrorismusexperte Hisham Al-Hashimi berichteten, bei einer Veranstaltung über die Lage der JesidInnen, auch über die militärische Situation und dass in der nächsten Zeit entscheidende Operationen anstünden. Eine Explosion der Flüchtlingszahlen wäre zu erwarten.
Dieser Tweed schockierte mich:
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Auf dem Hintergrund einer sich immer mehr zuspitzenden Situation ist es unerträglich zu erfahren, dass für die bis zu 3,4 Millionen Flüchtlinge im Irak, in der offiziellen Terminologie IDPs (Internally Displaced Persons) genannt, lediglich acht Prozent der benötigten Hilfe vorhanden ist. Die Lebensmittelvorräte gehen mit Juni zu Ende, es kommt zu Kürzungen in der Lebensmittelversorgung. Gehälter müssen gekürzt werden, was sich besonders dramatisch in der medizinischen Versorgung auswirkt und es kann vor allem die dringend notwendige sanitäre Ausstattung der Flüchtlingslager nicht mehr weiter ausgebaut werden.
Ich erinnere mich noch genau an meinen Besuch im Flüchtlingslager Khanke, als mir die Menschen erklärten, sie wären gar nicht unglücklich über die klirrende Kälte. Da wären sie relativ sicher vor der Ausbreitung ansteckender Krankheiten, wie Cholera etc.
Deshalb alarmierte mich die Nachricht über den Ausbruch von „scabies“, auf Deutsch Krätzmilbe, in einem kurdischen Flüchtlingslager. Vorbote einer Entwicklung, vor der alle gewarnt hatten. Eine Entwicklung, die je wärmer die Tage werden umso wahrscheinlicher wird.
Wir dürfen nicht zusehen, was sich da im Mittleren Osten abspielt.
Eine humanitäre Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes kündigt sich an. Vor allem im Irak, und überall dort, wo Millionen Flüchtlinge und Vertriebene Zuflucht gefunden haben, im Libanon in Jordanien, in der Türkei oder in Ägypten.
Menschen, die rechtlos sind, unzureichend ernährt und mit fürchterlichen hygienischen Bedingungen zu kämpfen haben. Menschen, die nicht wissen, was sie den ganzen Tag tun sollen, weil sie keine Arbeit haben und die Kinder nicht zur Schule gehen können.
Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen. Wir müssen alles tun, dass die erforderlichen und auch grundsätzlich zugesagten Mittel endlich bereitgestellt werden. Sonst haben wir nicht das Recht, uns als Menschen zu bezeichnen.
Wir müssen es aber auch tun, weil das die einzige Möglichkeit ist, die ISIS-Terroristen zu stoppen. Wenn es darum geht, Bomben abzuwerfen – was in diesem Kontext wahrscheinlich auch notwendig ist, dann fragt niemand von den politisch Verantwortlichen nach den Kosten. Wenn es aber darum geht, dass unschuldig Vertriebene mit einem Rest an Würde überleben sollen – was auf jeden Fall notwendig ist, dann soll plötzlich knallharte Kostenrechnung gelten.
Das ist unmenschlich, dumm und kurzsichtig. Vor allem ist es das beste Argument, das wir den fundamentalistischen Gegnern der westlichen Zivilisation in die Hand geben.

Verzweifelt

Selten hat mich etwas so aufgewühlt wie mein Besuch im Heiligtum der Jesiden im kurdischen Lalish, heuer im Jänner.
Es schneite und es war grimmig kalt. Normalerweise darf man sich hier nur bloßfüßig bewegen. Das wollte man uns nicht zumuten.
Zeichen einer Flexibilität und Großzügigkeit, wie sie für diese, von ihren Feinden auch als „Teufelsanbeter“ denunzierten Religionsgemeinschaft charakteristisch ist. Bewusst verzichten sie auf Missionierung.
Solch uneigennütziges Verhalten fand freilich in der mehrtausendjährigen Geschichte nicht nur Würdigung. 73 mal waren sie von Ausrottung und Vernichtung bedroht. So auch im Sommer 2014.
Versuch der Ausrottung
Die Daesh-IS Terroristen setzten alles daran, die Jesiden auszurotten. Tausende Ermordete, tausende versklavte Frauen und hunderttausende Flüchtlinge und Vertriebene. Ich traf Augenzeugen der Massaker, entführte Frauen und Mädchen, die sich unter abenteuerlichen Umständen befreien konnten. Ich besuchte Flüchtlingslager und informelle Settlements. Überall das gleiche Bild. Menschen, die alles aufgeben mussten, ihre Lieben und ihr Hab und Gut verloren hatten, nur weil sie nicht in das Primitivschema der Fundamentalisten passten.
Darunter viele Christen. Manche von ihnen sprachen Aramäisch, die Sprache Jesu. Sie waren immer hier. Schon vor dem Islam und schon zu Zeiten, als in Mitteleuropa noch römische und germanische Götter verehrt wurden. Seit jeher war die nordirakische Ninive- Ebene von unterschiedlichen Ethnien und Religionen bevölkert. Trotz ständig wiederkehrender Verfolgungen.
Das Leid, das die Menschen in dieser Gegend – Jesiden, Christen, Shabbak, Schiiten und Sunniten, die sich der salafistischen Beugung des Islam nicht unterwerfen wollen innerhalb eines Jahres ertragen mussten, ist kaum vorstellbar. Ermordung, Entführung, Versklavung, Flucht und Vertreibung.
Vor allem Ungewissheit, ob man jemals wieder zurückkehren kann und was mit jenen ca. 3000 Jesidinnen und Jesiden geschieht, die teilweise seit August in der Gefangenschaft der Terroristen sind.
Mitunter konnten Einzelne flüchten. Ende April war dies einer größeren Gruppe gelungen. Das führte zu Strafmaßnahmen, Männer und Frauen wurden getrennt und ausgesondert.
Neue Massenerschießungen
Seither gibt es widersprechende Meldungen. Gesichert ist, dass 57 Frauen und Mädchen auf Sklavenmärkte verschleppt und dannverkauft wurden und dass es offensichtlich am Freitag zu einer Massenerschießung kam. Nach Angaben des Gouverneurs von Mosul sollen 185 Menschen den Tod gefunden haben. Andere Quellen sprechen von 500. Es ist schwer möglich diese Zahlen zu verifizieren.
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Feststeht, dass in diesen Tagen im Nordirak ein weiteres grässliches Kriegsverbrechen geschehen ist. Feststeht auch, dass dies eigentlich die wenigsten interessiert.
Wäre ich im Jänner nicht im Nordirak gewesen, so wären diese Gräueltaten wahrscheinlich auch an mir vorbeigegangen.
Bei meinem Besuch im Heiligtum der Jesiden in Lalish habe ich mir geschworen, alles zu tun, um diesen Menschen zu helfen. Vor allem die Entscheidungsträger zu bewegen nicht wegzuschauen.
Ich habe Memos geschrieben, Kollegen agitiert, habe Resolutionen des Europaparlaments zur Lage von Jesiden und Christen lanciert und ausverhandelt und mich wiederholt in der Fraktion, im Ausschuss und im Plenum zu Wort gemeldet. Und auch wenn ich manchen lästig fallen muss, ich werde weitermachen. Solange bis diese Menschen ein Leben ohne Angst und Furcht führen können und die Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Strafgerichtshof stehen.

Krokodilstränen

Ich frage mich, über welche Themen wir dieses Wochenende debattiert hätten, wären nicht vor einer Woche mehr als 800 Menschen vor der libyschen Küste untergegangen. Wären es zum Beispiel über mehrere Wochen verteilt einige kleine Boote gewesen. So wie das normalerweise der Fall ist. Kein Sondergipfel hätte stattgefunden und wir hätten uns nicht über Talkshows ärgern müssen. Öffentliche Erregung hätte es so gut wie gar nicht gegeben und die Betroffenheit über die Vorfälle im Mittelmeer wäre um vieles ehrlicher gewesen. Dieses tragische Ereignis aber hat es in die Schlagzeilen geschafft. Schlagzeilen produzieren bekanntlich Politik.
Ob sich dadurch jetzt etwas ändert, oder ob es bloß bei symbolischem Handeln bleibt, das ist noch offen. Letzteres ist sehr wahrscheinlich. Sobald die Erregung vorüber ist, wird man vermutlich wieder zur Tagesordnung übergehen. Nämlich nichts tun und auf das Mittel der Abschreckung setzen.
Zumindest für das p.t. Publikum. Dem konnte man bislang leicht einreden, dass man eh alles Mögliche unternehmen würde, wenn da nicht die verbrecherischen Schlepperbanden wären. „Dreckige Verbrecher“ in der Terminologie von de Maizière. Der deutsche Innenminister hat über Monate hindurch auch behauptet, systematische Rettungsmaßnahmen, wie sie die italienische Marine seit der Tragödie von Lampedusa im Oktober 2013 unternommen hatte, würden einen Pull-Effekt ausüben und noch mehr Flüchtlinge anziehen. Deshalb wurde das Programm „Mare Nostrum“ beendet. An seine Stelle trat das in Umfang und Mission abgespeckte „Triton“. Der behauptete Effekt trat nicht ein. Vielmehr explodierte die Zahl der Hilfesuchenden. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis es zu dieser Katastrophe kam.
Politische Themenverfehlung
Eigentlich müsste dies bei den politisch Verantwortlichen ein Umdenken bewirken. Aber die Staats- und Regierungschefs und ihre Innenminister sind in ihrer Mehrheit nicht einmal zum Nachdenken bereit. Was sie bei ihrer Sondersitzung am Freitag vereinbarten, ist ein eklatanter Beweis für ihre Unfähigkeit die Zukunft konstruktiv zu gestalten. Besonders häufig tritt so etwas bekanntlich dann auf, wenn die Sicht auf das große Ganze durch die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner verstellt ist. Dieser besteht in der intergouvernementalen Europapolitik (also auf Ratsebene) häufig darin, vermeintliche Wahlniederlagen zu vermeiden.
Großbritanniens Vertreter etwa hatte den Auftrag, jede Einigung zu blockieren. Das von der Kommission vorgelegte Zehnpunkteprogramm ist eine perfekte Themenverfehlung. Nur drei Punkte sind hilfreich. Alles andere ist „more oft the same“ und ein Sinnbild der chronischen Unbelehrbarkeit vieler Mitgliedstaaten, wenn es um Zuwanderung geht. Man könnte es auch die Torheit der Regierenden nennen. Notwendig ist vielmehr eine differenzierende (und daher) an den Handlungs-und Gestaltungsmöglichkeiten ansetzende gemeinschaftliche Europapolitik. Das bedeutet in erster Linie, das Ganze im Auge zu behalten. Wieso sollen die an den Außengrenzen situierten Mitgliedstaaten den Großteil der Flüchtlinge aufnehmen, wie das die Dublin- Verordnung vorsieht? Solidarität, Grundprinzip jeder Union, bedeutet doch, allfällige Lasten gleichmäßig und gerecht zu verteilen.
Drei Kategorien von Flüchtlingen
Auch ist zu fragen, wer denn diese Menschen sind, die den gefährlichen Weg über das Mittelmeer auf sich nehmen. Wir sollten uns im Klaren sein, dass manche schlicht und einfach auswandern wollen. Wie das schon immer gewesen ist und wie das auch Millionen von Menschen aus Europa über Jahrhunderte gemacht haben. Das ist daher auch moralisch nicht verwerflich, wie das von Rechtspopulisten immer wieder suggeriert wird. Allerdings brauchen wir Regeln und vor allem legale Möglichkeiten dafür. Solche gibt es aber nicht, was bedeutet, dass viele gezwungen sind gefährliche und illegale Möglichkeiten zu suchen.
Dann gibt es die immer mehr zunehmende Gruppe der Asylsuchenden. Menschen, die aus politischen, ethnischen, religiösen oder sonstigen Gründen nicht mehr in ihrer Heimat bleiben können. Diese sind durch völkerrechtliche Abkommen geschützt. Aber sie können ihr Recht erst dann durchsetzen, wenn sie ihre Gründe an der Grenze zu einem Mitgliedsstaat der EU geltend machen. Hier gilt das Gleiche. Es gibt keine Möglichkeit das zu tun, außer man wählt den Weg übers Mittelmeer oder den illegalen Grenzübertritt.
Schließlich gibt es als Folge der Bürgerkriege in Syrien, im Irak, in Libyen und in vielen Teilen Afrikas Millionen von Vertriebenen, denen die Rückkehr in ihre Heimat verwehrt ist. Sie vegetieren in Nachbarländern wie dem Libanon, der Türkei oder Jordanien unter nicht vorstellbaren Bedingungen, ohne Arbeit und ohne Schulbildung, schlecht ernährt und medizinisch unterversorgt. Wer kann ihnen verwehren, dass sie einen Platz auf dieser Welt suchen, wo sie ein halbwegs normales Leben führen können. Wer glaubt, diesem demografischen Druck durch die Bekämpfung des Schlepperwesens beikommen zu können, ist realitätsfremd. Das ist nichts anderes als Symptombekämpfung.
Rettung ohne Wenn und Aber
Vielmehr geht es darum, unionsweit Kontingente für einzelne Konfliktzonen festzulegen und im Wege eines Resettlement- Programms die schutzbedürftigen Personen auf die einzelnen Mitgliedsstaaten aufzuteilen. Die völlig überlasteten Nachbarstaaten brauchen großzügige Hilfe seitens der EU. Vor allem brauchen wir nach den unterschiedlichen Flüchtlingskategorien differenzierende Instrumente. So wie das Martin Schulz in seiner beeindruckenden Rede vor den Staats-und Regierungschefs letzten Freitag in Brüssel ausgeführt hat. Für alle Instrumente gilt. Das Zulassungsverfahren muss auch außerhalb Europas eingeleitet werden können (via UNHCR oder diplomatischen Vertretungen) und die Aufnahme und Unterbringung muss von den Mitgliedsstaaten solidarisch umgesetzt werden. Die wichtigste Konsequenz der tragischen Ereignisse muss aber sein, dass Menschen, wenn sie auf See in Gefahr geraten ohne Wenn und Aber gerettet werden. Wie meinte doch Martin Schulz: „Wir müssen die Ursachen der Migration bekämpfen, nicht die Migranten.“ Dazu gehört auch das ehrliche Bemühen die politische und ökonomische Situation zu stabilisieren. So wie das Europa mit dem einstigen Sorgenkind Albanien gelungen ist.